Platonismus

Es liegt in der Natur der mystischen Vorstellungsweise, daß der Mystiker im Geiste erlebt, was draußen in der Natur ist, daß er aus sich nachschafft, was draußen in der Natur schafft. In aller Erkenntnis, in allem inneren Erleben sucht er ein Wiederaufleben des Universums aus der Seele des Menschen. In den Gesetzen, die das Universum beherrschen, sieht er die großen Weltgedanken, Weltideen. Damit steht er ganz auf dem Standpunkt der platonischen Weltanschauung. Plato war der große Mystiker des Altertums, und alle, die sich im Mittelalter in mystischer Anschauungsweise betätigt haben, fußen auf dem Platonismus. [1] Nun fragen wir uns einmal: Was lebte denn in dem, was in Urzeiten sich entwickelte im Oriente drüben als Weltanschauung, was dann im Platonismus, ja noch sogar als in einem Spätling im Neuplatonismus seine Ausläufer fand. Es ist eine hochgeistige Kultur, die aus einer inneren Anschauung kam, welche vorzugsweise in Bildern, in Imaginationen lebte, aber in Bildern, die nicht durchdrungen waren von dem Vollbewußtsein, noch nicht durchdrungen waren von dem vollen Ich-Bewußtsein der Menschen. In gewaltigen Bildern ging gerade im alten orientalischen Geistesleben, von dem Veda und Vedanta die Nachklänge sind, dasjenige auf, was eben im Menschen als das Geistige lebt. Aber es war in einer – ich bitte, das Wort nicht mißzuverstehen und es nicht mit den gewöhnlichen Träumen zu verwechseln –, es war in einer traumhaften, in einer dumpfen Art vorhanden, so daß dieses Seelenleben nicht durchwellt und durchstrahlt war von dem, was im Menschen lebt, wenn er deutlich sich seines Ich und seiner eigenen Wesenheit bewußt wird. [2]

Erst im Zeitalter Goethes wurde das Zeitalter Platos mit Bezug auf eine spätere Stufe erreicht. Mit Goetheanismus selber war für die 5. nachatlantische Zeit der Platonismus des Griechentums, der für die 4. nachatlantische Zeit da war, wiedergekommen. [3]

Zitate:

[1]  GA 51, Seite 205   (Ausgabe 1983, 360 Seiten)
[2]  GA 200, Seite 14   (Ausgabe 1970, 154 Seiten)
[3]  GA 188, Seite 127   (Ausgabe 1982, 262 Seiten)

Quellen:

GA 51:  Über Philosophie, Geschichte und Literatur. Darstellungen an der «Arbeiterbildungsschule» und der «Freien Hochschule» in Berlin (1901/1905)
GA 188:  Der Goetheanismus, ein Umwandlungsimpuls und Auferstehungsgedanke. Menschenwissenschaft und Sozialwissenschaft (1919)
GA 200:  Die neue Geistigkeit und das Christus-Erlebnis des zwanzigsten Jahrhunderts (1920)