Schilderung von Teilen der übersinnlichen Welt
► Bewußtseinsstufen

Das menschliche Innere, das für jeden einzelnen Menschen aus einem göttlichem Urgrunde stammte, müßte ganz fremd gegenüberstehen dem, was ihm im irdischen Leben gegenübertritt. Nur dann wird das – wie es ja tatsächlich ist – nicht der Fall sein, wenn dieses menschliche Innere mit dem Äußeren bereits verbunden war, wenn es nicht zum ersten Male in diesem lebt. Nur die wiederholten Erdenleben im Zusammenhang mit den von der Geistesforschung dargelegten Tatsachen im geistigen Gebiet zwischen den Erdenleben: nur dies alles kann eine befriedigende Erklärung des allseitig betrachteten Lebens der gegenwärtigen Menschheit geben. [1]

Das Dasein des gegenwärtigen Menschen verläuft nicht bloß in einem sondern in mehreren Bewußtseinszuständen. Der gewöhnliche Zustand ist derjenige, in dem sich der Mensch befindet von dem Erwachen bis zum Einschlafen. Er nimmt in diesem Zustande die Dinge durch seine Sinne wahr und bildet sich aus den Sinneswahrnehmungen Vorstellungen. Dadurch ist für ihn die physische Welt vorhanden. Und auf sie beziehen sich auch die Kräfte seiner Seele, sein Denken, Fühlen, Wollen und Handeln.

Mit diesem Zustand des Bewußtseins wechseln nun zwei andere ab: der traumerfüllte Schlaf und der tiefe, traumlose Schlaf. Man bezeichnet diese Zustände oftmals mit dem Worte «unbewußt».Doch ist diese Bezeichnung eine solche, die den hier in Betracht kommenden Tatbestand verschleiert. Sie sind in Wahrheit nur andere Arten des Bewußtseins. Man könnte sie dumpfere Arten desselben nennen. [2]

Der traumerfüllte Schlaf zeigt nicht Gegenstände wie das wache Tagesbewußtsein, sondern in der Seele aufsteigende und verschwindende Bilder. So sinnverwirrend sich diese Bilder dem gewöhnlichen Bewußtsein gegenüber auch ausnehmen: die Aufhellung ihrer Wesenheit ist geeignet, tiefer in die Natur der Welt hineinzuführen. Das, als was sie sich im nächtlichen Seelenleben darstellen, kann keine rechte Grundlage für ihre Erkenntnis abgeben. Eine solche ist erst für denjenigen Menschen vorhanden, der im Sinne einer solchen Schulung, wie sie in diesem Buche beschrieben wird, seine höheren Erkenntniskräfte ausbildet, die ihn zu einem Einblick in die übersinnlichen Welten führen. In diesem Kapitel soll eine Beschreibung der Tatsachen gegeben werden, die für diese höheren Welten gelten. Wer den Erkenntnispfad in diese Gebiete selbst antritt, wird dann auch diese Tatsachen bewahrheitet finden.

Was an der Traumwelt zunächst auffallen muß, ist der in ihren Bildern auftretende sinnbildliche Charakter. Bei einer einigermaßen subtilen Aufmerksamkeit auf die bunte Mannigfaltigkeit der Traumerlebnisse kann dieser Charakter klar werden. Von einfachen Sinnbildern bis zu dramatischen Vorgängen finden sich alle Zwischenstufen in dieser durch die Seele huschenden Welt. – Man träumt von einer Feuersbrunst; man wacht auf und merkt, daß man neben der Lampe eingeschlafen war. Das Licht der Lampe hat man da im Traume wahrgenommen, aber nicht so, wie es sich in der gewöhnlichen Welt den Sinnen darstellt, sondern im Sinnbild, als Feuersbrunst. Oder man träumt von einer Reiterschar, die man vorübertrampeln hört; man wacht auf, und das Pferdegetrampel setzt sich unmittelbar fort als das Schlagen der Uhr, das sich auf diese Art versinnbildlicht hat. – Man träumt von einem Tiere, das einem an der Gesichtsseite kratzt; beim Aufwachen zeigt sich, daß man an der betreffenden Stelle einen Schmerz fühlt, der auf die angegebene Art sein Traum-Sinnbild gefunden hat. – Ein länger ausgesponnener Traum könnte etwa der folgende sein. Jemand träumt, er gehe durch einen Wald. Er vernimmt ein Geräusch. Beim Weitergehen tritt aus einem Gebüsche ein Mensch auf ihn zu. Dieser geht zum Angriffe über. Ein Kampf entspinnt sich, der Angreifer schießt. In diesem Augenblicke wacht der Träumer auf, und er merkt, daß er eben den Stuhl neben seinem Bette umgeworfen habe. Der Aufschlag des Stuhles ist durch das Traumbewußtsein in die geschilderte sinnbildliche Handlung umgewandelt worden. So können äußere Vorgänge oder auch innere Tatsachen, wie in dem oben gegebenen Beispiele von dem kratzenden Tiere, durch den Traum als Sinnbilder wahrgenommen werden. Auch Affekte, Stimmungen können sich so darstellen. Jemand leidet zum Beispiel unter dem bedrückenden Gefühle, daß für ihn in den nächsten Tagen ein unangenehmes Ereignis eintreten werde. Im Traume stellt sich dieses Gefühl so dar, daß er sich in der Gefahr des Ertrinkens befindet.

Durch das in Beispielen Geschilderte sind zwei Eigenschaften des Traumbewußtseins charakterisiert: erstens sein bildartiger, sinnbildlicher Charakter und zweitens etwas Schöpferisches in demselben. –– Dem Tagesbewußtsein ist dieses Schöpferische nicht eigen. Dieses gibt die Dinge der Umgebung so, wie sie in der physischen Außenwelt sind. Das Traumbewußtsein fügt aus einer andern Quelle etwas hinzu. [3]

Wodurch wird diese Quelle eröffnet? Durch nichts anderes als dadurch, daß jene Sinnestätigkeit, von der das Tagesbewußtsein abhängt, im Schlafe aufgehört hat. Das Schweigen dieser Sinnestätigkeit drückt sich dadurch aus, daß das Selbstbewußtsein des Menschen entschwindet. Dieses Selbstbewußtsein ist eben an die Tätigkeit der äußeren Sinne gebunden; schweigen diese, so versinkt es in einen Abgrund. Man bezeichnet diese Tatsache in der sogenannten Geheimwissenschaft dadurch, daß man sagt: die Seele des Menschen hat sich aus der physischen Welt zurückgezogen. Wer nun nicht behaupten will, der Mensch höre beim Einschlafen auf zu sein und entstehe beim Aufwachen von neuem, dem wird die. Erkenntnis nicht schwerfallen, daß der Mensch während des Schlafes in einer andern als der physischen Welt vorhanden ist. Man nennt diese Welt die astrale. Der Leser nehme diesen Ausdruck zunächst als eine Bezeichnung für jene Welt hin, von der der Mensch eine Ahnung erhält durch seine Träume. Die Berechtigung dieses Ausdruckes wird aus anderen Kapiteln dieses Buches sich ergeben.

Während des Traumes weilt der Mensch in der astralen Welt. Die Tatsachen und Wesen dieser Welt stellen sich in Bildern dar. Das Bewußtsein nimmt diese Bilder wahr; aber das Selbstbewußtsein des Menschen fehlt. – Eine Vergleichung mit dem Alltagsleben kann eine Vorstellung davon geben, was eigentlich hier vorliegt. Der Mensch nimmt eine Außenwelt nur wahr, insoferne er Organe dazu hat. Ohne Ohr gäbe es für ihn keine Tonwelt, ohne Auge keine Welt des Lichtes und der Farben und so weiter. Könnte der Mensch ein neues Organ seines Leibes entwickeln, so träte in seiner Umwelt ebenso etwas ganz Neues auf, wie für den Blindgeborenen nach seiner Operation Licht und Farben als etwas ganz Neues auftreten. [4]

So wie nun der physische Leib des Menschen durch seine Organe die physische Welt wahrnimmt, so nimmt während des Traumes ein anderer Leib – ein seelischer – durch die ihm eigenen Organe die andere Welt, die astrale, wahr. Nur ist mit diesem Leibe kein Selbstbewußtsein verbunden. Dieses ist in diesem Zustande außerhalb des Bereiches des Menschen.

Wäre es nun unmöglich, daß das Selbstbewußtsein des Menschen auch in diesem Zustande ins Dasein trete, so könnte er die hier in Betracht kommenden Verhältnisse niemals durchschauen. Dies ist aber möglich durch die obenerwähnte und in diesem Buche beschriebene höhere Schulung, die man auch die Einweihung nennt. Durch sie lernt der Mensch im Traumzustande an seinem astralischen Leibe ähnliche Organe entwickeln, wie sie sein physischer Leib hat zur Wahrnehmung der physischen Welt. Und sind diese Organe entwickelt, dann tritt während des Traumes ein Selbstbewußtsein auf, das auch ähnlich dem ist, welches er während des wachen Tageslebens hat. – Ist eine solche Daseinsstufe erreicht, dann verwandelt sich allerdings auch die ganze Traumwelt in erheblichem Maße. Sie verliert die sinnverwirrende Buntheit, die sie beim gewöhnlichen Schläfer hat, und an die Stelle tritt eine innere Ordnung und Harmonie, welche der gewöhnlichen physischen Welt nicht nur nicht nachsteht, sondern diese in hohem Grade in bezug auf diese Eigenschaften überragt. Der Mensch wird gewahr, daß immer um ihn herum noch eine andere Welt war, in demselben Sinne, wie um den Blinden herum die Welt des Lichtes und der Farben ist. Er konnte sie nur aus Mangel an Wahrnehmungsorganen nicht sehen, wie der Blinde vor seiner Operation die Welt des Lichtes und der Farben nicht sehen kann. Der bedeutungsvolle Moment, in dem die astralen Wahrnehmungsorgane anfangen am Menschen tätig zu sein, wird in der Geheimwissenschaft die Erweckung oder Wiedergeburt genannt.

In diesem Augenblicke der Erweckung erfährt der Mensch, daß er von einer höheren Welt umgeben ist, in welcher nicht nur die ihm vorher bekannten Dinge der sinnlichen Welt andere Eigenschaften haben, sondern in der es Tatsachen und Wesenheiten gibt, die ihm vorher unbekannt waren. – Und jetzt wird ihm auch klar, daß in dieser anderen Welt die Bilder vorhanden sind, aus denen sich die Dinge der sinnlichen Welt heraus formen. Es ist keine unzutreffende Vorstellung, wenn man die Art, wie die physische Welt aus der astralen heraus entsteht, vergleicht mit der Bildung des Eises aus dem Wasser. Wie das Eis umgeformtes Wasser ist, so ist die physische Welt die umgeformte astrale. Und wie das Wasser ein verfließendes Element ist, so steht im Hintergrunde der physischen Welt die astrale als eine sich stets wandelnde Bilderwelt. Nichts Festbegrenztes, Abgeschlossenes findet sich in ihren Formen wie in der gewöhnlichen Welt. Alles fließt ineinander über, formt sich um. Und ein physisches Ding oder ein physisches Wesen entsteht nur so, wie wenn ein solches verfließendes Bild im Augenblicke erstarrte. Wer die Vorstellungen der physischen Welt mit ihren festen Umgrenzungen auf das Gebiet des Astralen anwenden wollte, der verriete dadurch nur, daß ihm ein wirklicher Einblick in diese ganz andersartige Welt fehlt. [5]

So wie nun die Wesen der physischen Welt in dem physischen Leibe verkörpert sind, so sind die astralen Bilder der Ausdruck für Wesenheiten, die die physische Welt nicht betreten. Sie finden diesen Ausdruck eben in einem andern Stoff als der im Physischen lebende Mensch, der den seinigen in Fleisch und Blut findet.

Welches ist nun dieser astrale Stoff? Es ist kein anderer als der, welchen der Mensch tatsächlich auch in sich hat. Er wird nur in ihm während des wachen Alltagslebens von den sinnlichen Vorstellungen gleichsam überdeckt. – An diese sinnlichen Vorstellungen knüpfen sich die menschlichen Begierden, Wünsche und Verabscheuungen, seine Sympathien und Antipathien. Er wünscht den einen Gegenstand, den andern lehnt er ab. In nichts anderem als in diesen Begierden, Wünschen und Verabscheuungen ist die Quelle zu suchen, aus welcher auch das Traumbewußtsein herausschöpft, wenn es die Dinge zu Sinnbildern umwandelt. Das Selbstbewußtsein des Tageslebens gibt mit den äußeren Wahrnehmungen den Begierden und Wünschen eine ihnen entsprechende Nahrung. Schweigen die Tätigkeiten der äußeren Sinne, dann tritt eine andere schöpferische Kraft ein und formt in dem Stoffe der Wünsche und Begierden die Bilder. Die Geheimwissenschaft sagt nun, daß der träumende Mensch sich in dem aus Wünschen und Begierden gewobenen astralischen Leibe befinde und daß der physische Leib von dem Selbstbewußtsein verlassen sei. Beim Eingeweihten oder Erweckten ist die Sache so, daß er ebenfalls seinen physischen Leib verlassen hat, daß aber sein Selbstbewußtsein in seinem astralischen Leibe wohnt. Wie nun der physische Leib die Wahrnehmung der physischen Dinge vermitteln kann, weil seine Organe aus demselben Stoffe gebildet sind wie die physische Welt, so kann der Eingeweihte die Wesen der astralen Welt wahrnehmen, weil er Organe hat aus dem Stoffe der Wünsche und Begierden, in dem sie ihren Ausdruck finden. Der Unterschied zwischen dem uneingeweihten und dem eingeweihten Menschen besteht darin, daß dem ersteren die astrale Welt nicht als Außenwelt sichtbar wird und für den letzteren das der Fall ist. Diese astrale Welt bleibt nämlich für den Unerweckten eine bloße Innenwelt; er erlebt sie in seinen Wünschen und Begehrungen; aber er sieht sie nicht. Der Eingeweihte fühlt nicht nur seinen Wunsch; er nimmt ihn als ein Ding der Außenwelt wahr, wie der Unerweckte Tische und Stühle wahrnimmt. [6]

Von dieser Welt des Eingeweihten ist nun allerdings die gewöhnliche Traumwelt nur ein schwacher Nachklang. Sie kann dies ja auch nur sein, weil das Selbst-bewußtsein nicht an ihr beteiligt ist. Wo aber ist dieses Selbstbewußtsein während des Traumes? Es hat sich zurückgezogen in eine höhere Welt, in welcher der Mensch zunächst nicht als solcher vorhanden ist. Welches Verhältnis er zu dieser Welt hat, kann zunächst ein Vergleich klarmachen. Man denke an eine Hand des Menschen und an ein Werkzeug, das von ihr gehalten wird. Solange die Hand das Werkzeug hält, bilden beide gleichsam ein Ganzes. Das letztere führt die Tätigkeiten aus, welche von der ersteren bestimmt werden. Sobald aber die Hand das Werkzeug weglegt, ist dieses sich selbst überlassen; und die Bewegungen der Hand sind nur Ausdrücke des Willens im Menschen, dem sie angehört. So muß der physische Leib während des wachen Tageslebens als ein Werkzeug des Gliedes einer höheren Wesenheit angesehen werden. Streckt diese höhere Wesenheit gleichsam ein Glied in den physischen Leib hinein, so tritt in diesem die Sinnestätigkeit und damit das Selbstbewußtsein auf. Verläßt dieses Glied den Leib, so hört das Selbstbewußtsein auf. So ist die innerste Wesenheit des Menschen, die Selbstbewußtsein haben kann, ein Glied einer höheren Wesenheit, aus der es zeitweilig gewissermaßen hervorgestreckt und mit dem physischen Leibe überzogen wird. Noch besser wird man die entsprechende Vorstellung aber gestalten, wenn man das Vorstrecken zugleich als ein Abschnüren ansieht, wie wenn während des Wachens sich ein Tropfen loslöste aus dem betreffenden höheren Wesen, der während des Schlafes wieder aufgesogen wird. Denn der Mensch ist sich während des Wachens seines Zusammenhanges mit einer höheren Wesenheit nicht bewußt; er ist also von ihr tatsächlich abgeschnürt. Während des Schlafes muß ihm das Selbstbewußtsein fehlen, denn es zieht sich da in die höhere Wesenheit zurück; diese saugt es auf, und er ruht also in derselben eingeschlossen. [7] Tritt der traumlose Schlaf ein, so verschwindet die Bilderwelt. Scheinbar liegt nun der physische Leib ganz bewußtlos da; in Wahrheit ist aber sein Bewußtseinszustand nur ein noch dumpferer als im traumerfüllten Schlaf. Es ist auch die bilderzeugende Kraft aus dem physischen Leib ausgetreten. Daher können nur die Einsichten des Erweckten Aufklärung über diesen Zustand bringen. Dem Nichterweckten fehlen die Wahrnehmungen über denselben. Für den Erweckten aber erscheint der bildererzeugende Leib, der vorher mit dem physischen noch locker verbunden war, aus demselben herausgehoben. Und er ist jetzt nicht tatenlos, sondern er hat die Aufgabe, die durch Ermüdung sich als erschöpft darstellenden Kräfte des physischen Leibes wieder in der angemessenen Stärke herzustellen. Das Erfrischende eines gesunden Schlafes erklärt sich dadurch. Ermattet sinkt der physische Leib in Schlaf. Sein Selbstbewußtsein gibt er in diesem Augenblicke an höhere Wesen ab. In dem Zwischenzustand des Traumschlafes bleibt die Seele noch in einer losen Verbindung mit dem physischen Leib. Das Charakteristische dieser Seele ist ihr Schöpferisches. Sie beginnt mit dem Augenblicke des Aufwachens ihre schöpferische Kraft darauf zu wenden, daß sie die durch die Sinne vermittelten Wahrnehmungen zum menschlichen Innenleben verarbeitet. Im Momente des Einschlafens fallen die äußeren Sinneswahrnehmungen weg. Im Zwischenzustand des Träumens gestaltet sich das Schöpferische noch zu den geschilderten Sinnbildern um; dann fallen auch diese Sinnbilder weg; die Seele wendet ihre ganze Schöpferkraft auf den Leib, den sie nun von außen bearbeitet. – Wer ganz von den Mitteilungen der Geheimwissenschaft absehen wollte, der könnte schon aus der Tatsache der Erfrischung am Morgen beim Erwachen entnehmen, wodurch sich die nächtliche Tätigkeit der Seele kennzeichnet. Das Leben des Tages hat etwas Unharmonisches, Chaotisches. Von allen Seiten wirken die Dinge der physischen Umgebung auf den Menschen. Bald findet dies, bald jenes Einlaß in sein Inneres. Das bringt die inneren Bildungskräfte außer die Ordnung, die ihnen durch ihre ursprüngliche Natur zukommt. In der Nacht wird das wieder ausgeglichen. Die Seele stellt die Ordnung und Harmonie her. Durch das Tagesleben sieht allmählich der physische Leib aus wie eine Luftmasse, welche von allen Seiten von Windströmungen durchzogen wird und deren Teile sich in unregelmäßiger Art durcheinanderbewegen. Beim Erwachen aber ist er einer solchen Luftmasse zu vergleichen, die von dem Rhythmus und der Harmonie eines Musikstückes in regelmäßige Schwingungen versetzt ist. Und in der Tat stellt sich die Arbeit der Seele am Leibe während des Schlafes für den Eingeweihten wie ein Durchtönen desselben dar. Der Mensch taucht während des Schlafes unter in die Harmonie des Seelenlebens. Und es ist dies dieselbe Harmonie, aus welcher er heraus gebildet worden ist. Bevor sich der physische Leib zum erstenmale durch die Sinnesorgane der Außenwelt aufgeschlossen hat, stand er ganz unter dem Einflusse dieser Harmonie, die ihn gegliedert hat. Diese Harmonie durchzieht als Seelenharmonie, als Seelentönen die ganze Welt. Der Mensch ist von ihren Klängen so umgeben, wie er von den vorhin geschilderten Bildern umgeben ist. Wie dem Erweckten durch die Schulung diese Bilderwelt als wirkliche Umgebung wahrnehmbar wird, so auf einer noch höheren Stufe diese dritte Welt. Es fängt um ihn herum an zu klingen und zu tönen. Und in diesen Tönen erschließt sich ihm der Sinn der Welt. Wie die Form der physischen Welt aus den Bildern heraus entstanden ist, so erhielten diese Formen ihre innere Bedeutung und Wesenheit aus den geschilderten Tönen heraus. Alle Dinge sind von diesem Gesichtspunkte aus formgewordene Töne. [8]

Während des Wachens ist also der Mensch ein Wesen, das sich aus drei Gliedern zusammensetzt: dem physischen Leib, der durch die ihm aus der äußeren Welt eingepflanzten Organe die physische Welt wahrnimmt und das Selbstbewußtsein umschließt; einen Leib, der in sich beweglichen Bildcharakter hat; seine Bilder sind zugleich die Urbilder des physischen Leibes, dessen festumrissene Formen gleichsam durch Erstarrung aus den wechselvollen Bildern des zweiten Leibes heraus entstanden sind; und ferner ist sowohl physischer wie Bilderleib von einer Tonharmonie durchzogen, einem dritten Leibe. – Im Traumschlafe zieht sich die Seele zurück von dem physischen Leibe; sie bleibt noch in Verbindung mit den beiden andern Leibern, durchtönt den Tonleib und durchsetzt den Bilderleib mit Bildern. Diese letzteren wirken in den physischen Leib herein und teilen ihm die schattenhaften Traumbilder mit. Im traumlosen Schlafe ist die Seele nur noch mit dem Tonleib verbunden; was im Wachen von ihr in dem physischen Leibe war, ist jetzt außerhalb desselben und bearbeitet ihn von außen. Diese von ihr in ihn einströmende Tätigkeit erzeugt in ihm nur ein so dumpfes Bewußtsein, daß es von dem Menschen nicht wahrgenommen wird.

In der Tat stellen sich damit drei Bewußtseinszustände des physischen Leibes dar: das wache Tagesbewußtsein, das Traumbewußtsein und das traumlose Schlaf-bewußtsein. Für den Eingeweihten hellt sich die Dumpfheit der beiden letzten Bewußtseinszustände auf; er lebt durch diese Aufhellung so in höheren Welten, wie der Unerweckte während des wachen Tageslebens in der physischen Außenwelt lebt. Man hat damit fünf Bewußtseinszustände gegeben, welche sich nach ihrer zunehmenden Helligkeit in die folgende Reihe gliedern:

  1. das traumlose Schlafbewußtsein
  2. den Traumschlaf
  3. das wache Tagesbewußtsein
  4. das Bilderbewußtsein des Eingeweihten
  5. das Tonbewußtsein des Eingeweihten

Wenn man bedenkt, daß durch geheimwissenschaftliche Schulung die beiden letzten Bewußtseinszustände von dem Eingeweihten als eine höhere Entwicklungsstufe der Menschheit erreicht werden, so wird ohne weiteres einleuchtend sein, daß auch das wache Tagesbewußtsein eine höhere Stufe der beiden untergeordneten Bewußtseinszustände darstellt, sich also aus ihnen entwickelt hat. Dies ist es, was von der Geheimwissenschaft dargestellt wird. Sie erklärt, daß der Mensch in urferner Vergangenheit durch eine Entwickelungsstufe durchgegangen ist, im welcher er nur ein dumpfes, von keinem Traumbild durchsetztes Schlafbewußtsein hatte; dann stieg er hinauf zu einem dumpfen Traumbewußtsein, um endlich anzukommen beim wachen Tagesbewußtsein von heute. Der Einzuweihende setzt diese Entwickelungslinie fort. Er bildet die beiden höheren Bewußtseinsformen aus. [9]

Zitate:

[1]  GA 13, Seite 135f   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[2]  GA 89, Seite 21   (Ausgabe 2001, 234 Seiten)
[3]  GA 89, Seite 22   (Ausgabe 2001, 234 Seiten)
[4]  GA 89, Seite 23   (Ausgabe 2001, 234 Seiten)
[5]  GA 89, Seite 24   (Ausgabe 2001, 234 Seiten)
[6]  GA 89, Seite 25f   (Ausgabe 2001, 234 Seiten)
[7]  GA 89, Seite 26   (Ausgabe 2001, 234 Seiten)
[8]  GA 89, Seite 27f   (Ausgabe 2001, 234 Seiten)
[9]  GA 89, Seite 29f   (Ausgabe 2001, 234 Seiten)

Quellen:

GA 13:  Die Geheimwissenschaft im Umriß (1910)
GA 89:  Bewußtsein – Leben – Form. Grundprinzipien der geisteswissenschaftlichen Kosmologie (1903-1906)