Seele

Will man die Seele im richtigen Sinne betrachten, dann muß man sie in Beziehung setzen zu den beiden anderen Gliedern der menschlichen Wesenheit, zum Körper auf der einen Seite und zum Geist auf der anderen Seite. [1] Bezeichnet die Geheimwissenschaft das innere Erleben als Seelisches, so benennt sie das Schöpferische als Geistiges. Der [physische] Leib nimmt durch Organe wahr; die Seele erlebt sich im Innern; der Geist schafft nach außen. [2] Astralischer Leib und Ich, das ist die Seele. [3]

Mit dem Worte Seele soll auf das gedeutet werden, wodurch der Mensch die Dinge (die der Leib wahrgenommen hat) mit seinem eigenen Dasein verbindet, wodurch er Gefallen und Mißfallen, Lust und Unlust, Freude und Schmerz an ihnen empfindet. [4] Es ist schon für jede seelische Funktion etwas Physisches da während des menschlichen physischen Erdenlebens; aber nichts wird für die Seele benützt, was nicht andererseits eine viel größere Bedeutung hätte in der Wechselwirkung mit andern Organen für die körperliche Organisation. Unser gesamtes Seelisches und Geistiges ist abgerungen dem Körperlichen, wird herausgeholt aus dem Körperlichen. Und wir dürfen nicht anerkennen besondere seelische Organe. Wir können nur sagen: Seelenfunktionen sind solche, welche herausgegliedert werden aus den organischen Wirkungen und besonders angepaßt werden der Seelentätigkeit. Erst wenn wir wirklich ernst machen damit, daß begriffen wird dasjenige, was eigentlich im physischen Organismus des Menschen wirkt, wenn wir nicht in einer so äußerlichen Weise vorgehen, daß wir das ganze Nervensystem nur für eine dem Seelenleben dienende Einlagerung ansehen, dann können wir hoffen, daß wir die menschliche Organisation durchschauen. [5]

Schon im grauen Altertum haben die Menschen die Vielgestaltigkeit, die Vielgliedrigkeit der Seele beobachtet. Was ist die Seele? Solange wir glauben, daß die Seele etwas ist, was im Körper nur wohnt und ihn dann wieder verläßt, können wir zu einer Erkenntnis der Seele nicht kommen. Nein, sie ist etwas, das in uns tätig ist und lebt und alle Verrichtungen des Körpers durchdringt. In der Bewegung, in der Atmung, in der Verdauung lebt sie. Aber sie ist nicht gleichmäßig in all unserem Tun darin.

Der Mensch bildet die Organe seines Körpers wie die Pflanze ihre Blätter und Blüten bildet, und es ist das Wachsen des Menschen gleich dem der Pflanze. Deshalb sprachen die alten Forscher auch den Pflanzen eine Seele zu. Sie sprachen von der Pflanzenseele. Sie nannten es die vegetative Seele und sahen durch sie den Menschen verwandt mit der Natur, mit allem Organischen. Wenn wir aber nur die Pflanzenseele hätten, würden wir es nicht über das bloß organische Leben hinausbringen. Aber wir besitzen die Fähigkeit des Wahrnehmens, des Empfindens. Wir erleiden Schmerz, wenn wir eines unserer Glieder mit einer Nadel durchbohren, während die Pflanze von einer Durchbohrung, etwa eines Blattes unberührt bleibt. Es weist uns dies auf den zweiten Grad des Seelischen hin, auf die animalische Seele. Sie gibt uns das Empfindungs-, Begehrungs-, das Bewegungsvermögen, das, was wir mit dem ganzen Reiche des Tierischen teilen und deshalb Tierseele nennen. Dadurch ist uns die Möglichkeit gegeben, nicht nur pflanzengleich zu wachsen, sondern zum Spiegel für das ganze Weltall zu werden. Mit der vegetativen Seele kommt das Aufnehmen der Stoffe, die den Organismus bilden, mit der animalischen Seele das Aufnehmen des untergeordneten Seelenlebens. Aus Lust und Schmerz baut sich das Empfindungsleben auf. Wie unsere vegetative Seele nicht Organe ausbilden könnte, wenn es nicht in der Welt Stoffe um uns gäbe, ebenso kann die animalische Seele das Empfinden, das Begehren nur aus der Welt des Begierdenhaften, des Triebhaften um uns schöpfen. Aus der Welt der Begierden, der Kamawelt oder dem Kamaloka, nimmt die animalische Seele die «Begierdenstoffe» in sich auf. Die begierdenhafte Seele hat der Mensch mit dem Tiere gemeinsam.

Wir würden steckenbleiben im Tierischen, wenn wir bloß eine animalische Seele hätten, wie wir bei einer nur vegetativen nicht über die Pflanze herausgekommen wären. Deswegen ist die Frage so wichtig: Unterscheidet sich der Mensch wirklich nicht von den höheren Tieren? Wer sich die Frage vorlegt und sie rückhaltlos prüft, der wird finden, daß des Menschen Geist doch hinausragt über alle Tiere. Wenn die Pythagoreer das Vorhandensein der höheren Seele bei den Menschen beweisen wollten, betonten sie, daß einzig dem Menschen die Fähigkeit des Zählens gegeben sei. Diese dritte Stufe des menschlichen Seelenlebens bildet nun die Verstandesseele. [6]

Welches sind nun die Kräfte der Seele? Diese Kräfte, die durchaus sich nicht vergleichen lassen mit anderen Kräften, sondern auf höherer Stufe stehen, und nicht wesensgleich sind mit der sprossenden Lebenskraft der Pflanze, diese Kräfte sind – um in großen Zügen all das, was wir Seelenleben nennen, zusammenzufassen –: Sympathie und Antipathie. [7]

Der Geist ist unser Führer im Reiche der Seele. Damit ist von vornherein dem Geiste zugestanden die Überordnung über die bloße Welt der Sympathie und Antipathie, über das bloße Seelische, und wenn der Geist die Welt der unberechtigten, der niederen Sympathie und Antipathie immerfort überwindet, dann stellt dies einen Hinaufstieg dar der Seele zum Geiste. Es gibt Anfangszustände der Seele, da ist sie verstrickt in die Gestalten der äußeren Wirklichkeit. Da ging ihre Sympathie zu äußeren Formen hin. Aber die höher entwickelte Seele ist die, die auf die Forderungen des Geistes hört, und so entwickelt sich die Seele von der Neigung zum Sinnlichen hinauf zu ihrer Neigung zur Sympathie für den Geist selbst. Sie können das noch in anderer Weise verfolgen. Die Seele ist zunächst ein verlangendes Wesen. Die Seele ist erfüllt von Sympathie und Antipathie, von der Begierdenwelt, von der Welt des Verlangens. Der Geist aber zeigt nach einiger Zeit der Seele, daß sie nicht bloß zu verlangen hat. Wenn die Seele durch den Entschluß des Geistes das Verlangen überwunden hat, dann ist sie nicht untätig, dann strömt ebenso wie aus der unentwickelten Seele das Verlangen strömt, aus der entwickelten Seele die Liebe. Verlangen und Liebe, das sind die beiden entgegengesetzten Kräfte, zwischen denen sich die Seele entwickelt. Die noch in Sinnlichkeit, in äußere Gestalt verstrickte Seele ist die verlangende Seele; die ihren Zusammenhang, ihre Harmonie mit dem Geiste entwickelnde Seele ist diejenige, welche liebt. Das ist dasjenige, was die Seele in ihrem Laufe von Wiedergeburt zu Wiedergeburt führt, daß sie von einer begehrenden, verlangenden Seele zu einer liebenden Seele wird, daß ihre Werke Werke der Liebe werden. Damit haben wir die dritte Form der Gefühle bezeichnet, und wir haben zu gleicher Zeit die Grundeigenschaft des Geistes entwickelt, seine Wirksamkeit im Menschen dargestellt und gezeigt, daß er der große Erzieher der Seele vom Verlangen zur Liebe ist, und daß er die Seele wie mit magnetischer Gewalt zu sich hinaufzieht. [8]

Der Ätherleib ist noch etwas dem Menschen Äußerliches. Mit dem ersten Regen der Empfindung antwortet das Innere selbst auf die Reize der Außenwelt. Man mag dasjenige, was man Außenwelt zu nennen berechtigt ist, noch so weit verfolgen: die Empfindung wird man nicht finden können. (Ein Beispiel:) Die Lichtstrahlen dringen in das Auge; sie pflanzen sich innerhalb desselben bis zur Netzhaut fort, da rufen sie chemische Vorgänge – im sogenannten Sehpurpur – hervor; die Wirkung dieser Reize setzt sich durch den Sehnerv bis zum Gehirn fort; dort entstehen weitere physische Vorgänge. Könnte man diese beobachten, so sähe man eben physische Vorgänge wie anderswo in der Außenwelt. Vermag ich den Ätherleib zu beobachten, so werde ich wahrnehmen, wie der physische Gehirnvorgang zugleich ein Lebensvorgang ist. Aber die Empfindung der blauen Farbe, die der Empfänger der Lichtstrahlen hat, kann ich auf diesem Wege nirgends finden. Sie entsteht erst innerhalb der Seele dieses Empfängers. Wäre also das Wesen dieses Empfängers mit dem physischen Körper und dem Ätherleib erschöpft, so könnte die Empfindung nicht da sein. Ganz wesentlich unterscheidet sich die Tätigkeit, durch welche die Empfindung zur Tatsache wird, von dem Wirken der Lebensbildekraft. Ein inneres Erlebnis wird durch jene Tätigkeit aus diesem Wirken hervorgelockt. Ohne diese Tätigkeit wäre ein bloßer Lebensvorgang da, wie man ihn auch an der Pflanze beobachtet. Man stelle sich den Menschen vor, wie er von allen Seiten Eindrücke empfängt. Man muß sich ihn zugleich nach allen Richtungen hin, woher er diese Eindrücke empfängt, als Quell der bezeichneten Tätigkeit denken. Nach allen Seiten hin antworten die Empfindungen auf die Eindrücke. Dieser Tätigkeitsquell soll Empfindungsseele heißen. Ohne Seher zu sein, kennt der Mensch die Empfindungswelt nur als «innere», nur als die eigenen verborgenen Erlebnisse seiner Seele; mit dem geöffneten «geistigen Auge» leuchtet vor dem äußeren geistigen Anblick (siehe: Aura) auf, was sonst nur «im Innern» des anderen Wesens lebt. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei hier ausdrücklich gesagt, daß der Seher nicht etwa in sich dasselbe erlebt, was das andere Wesen als den Inhalt der Empfindungswelt in sich hat. Dieses erlebt die Empfindungen von dem Gesichtspunkte seines Innern; der Seher nimmt eine Offenbarung, eine Äußerung der Empfindungswelt wahr. Die Empfindungsseele hängt in bezug auf ihre Wirkung vom Ätherleib ab. Denn aus ihm holt sie ja das hervor, was sie als Empfindung aufglänzen lassen soll. Und da der Ätherleib das Leben innerhalb des physischen Leibes ist, so ist die Empfindungsseele auch von diesem mittelbar abhängig. Nur bei richtig lebendem, wohl gebautem Auge sind entsprechende Farbenempfindungen möglich. Dadurch wirkt die Leiblichkeit auf die Empfindungsseele. Diese ist also durch den Leib in ihrer Wirksamkeit bestimmt und begrenzt. Sie lebt innerhalb der ihr durch die Leiblichkeit gezogenen Grenzen. – Der (physische) Leib wird also aus den mineralischen Stoffen auferbaut, durch den Ätherleib belebt, und er begrenzt selbst die Empfindungsseele. Aber die Grenze der Empfindungsseele fällt nicht mit derjenigen des physischen Körpers zusammen. Diese Seele ragt über den physischen Leib hinaus. Man sieht daraus, daß sie sich mächtiger erweist, als er ist. Aber die Kraft, durch die ihr die Grenze gesetzt ist, geht von dem physischen Leibe aus. Damit stellt sich zwischen den physischen Leib und den Ätherleib einerseits und die Empfindungsseele andererseits noch ein besonderes Glied der menschlichen Wesenheit hin. Es ist der Seelenleib oder Empfindungsleib. Man kann auch sagen: ein Teil des Ätherleibes sei feiner als der übrige, und dieser feinere Teil des Ätherleibes bildet eine Einheit mit der Empfindungsseele, während der gröbere Teil eine Art Einheit mit dem physischen Leib bildet. Doch ragt, wie gesagt, die Empfindungsseele über den Seelenleib hinaus. Was hier Empfindung genannt wird, ist nur ein Teil des seelischen Wesens – der Ausdruck Empfindungsseele wird der Einfachheit halber gewählt. An die Empfindungen schließen sich die Gefühle der Lust und Unlust, die Triebe, Instinkte, Leidenschaften. All das trägt denselben Charakter des Eigenlebens wie die Empfindungen und ist, wie sie, von der Leiblichkeit abhängig.

Ebenso wie mit dem Leibe tritt die Empfindungsseele auch mit dem Denken, dem Geiste, in Wechselwirkung. Der Mensch bildet sich Gedanken über seine Empfindungen. Dadurch klärt er sich über die Außenwelt auf. Das Kind, das sich verbrannt hat, denkt nach und gelangt zu dem Gedanken: «das Feuer brennt». Auch seinen Trieben, Instinkten und Leidenschaften folgt der Mensch nicht blindlings; sein Nachdenken führt die Gelegenheit herbei, durch die er sie befriedigen kann. Was man materielle Kultur nennt, bewegt sich durchaus in dieser Richtung. Sie besteht in den Diensten, die das Denken der Empfindungsseele leistet. Unermeßliche Summen von Denkkräften werden auf dieses Ziel gerichtet. Denkkraft ist es, die Schiffe, Eisenbahnen, Telegrafen, Telefone gebaut hat; und alles das dient zum weitaus größten Teil zur Befriedigung von Bedürfnissen der Empfindungsseelen. In ähnlicher Art, wie die Lebensbildekraft den physischen Körper durchdringt, so durchdringt die Denkkraft die Empfindungsseele. Die Lebensbildekraft knüpft den physischen Körper an Vorfahren und Nachkommen und stellt ihn dadurch in eine Gesetzmäßigkeit hinein, die das bloß Mineralische nichts angeht. Ebenso stellt die Denkkraft die Seele in eine Gesetzmäßigkeit hinein, der sie als bloße Empfindungsseele nicht angehört. – Durch die Empfindungsseele ist der Mensch dem Tiere verwandt. Auch beim Tiere bemerken wir das Vorhandensein von Empfindungen, Trieben, Instinkten und Leidenschaften. Aber das Tier folgt diesen unmittelbar. Sie werden bei ihm nicht mit selbständigen, über das unmittelbare Erleben hinausgehenden Gedanken durchwoben. Auch beim unentwickelten Menschen ist das bis zu einem gewissen Grade der Fall. Die bloße Empfindungsseele ist daher verschieden von dem entwickelten höheren Seelengliede, welches das Denken in seinen Dienst stellt. Als Verstandesseele sei diese vom Denken bediente Seele bezeichnet. Man könnte sie auch die Gemütsseele oder das Gemüt nennen. [9]

Durch das Denken wird der Mensch über das Eigenleben hinausgeführt. Er erwirbt sich etwas, das über seine Seele hinausreicht. Es ist für ihn eine selbstverständliche Überzeugung, daß die Denkgesetze in Übereinstimmung mit der Weltordnung sind. In seiner Seele sucht der Mensch nach Wahrheit; und durch diese Wahrheit spricht sich nicht allein die Seele, sondern sprechen sich die Dinge der Welt aus. Was durch das Denken als Wahrheit erkannt wird, hat eine selbständige Bedeutung, die sich auf die Dinge der Welt bezieht, nicht bloß auf die eigene Seele. [10] Das Sittlich-Gute hat ebenso wie die Wahrheit seinen Ewigkeitswert in sich und erhält ihn nicht durch die Empfindungsseele. Indem der Mensch das selbständige Wahre und Gute in seinem Innern aufleben läßt, erhebt er sich über die bloße Empfindungsseele. Der ewige Geist scheint in diese hinein. Ein Licht geht in ihr auf, das unvergänglich ist. Sofern die Seele in diesem Lichte lebt, ist sie eines Ewigen teilhaftig. Sie verbindet mit ihm ihr eigenes Dasein. Was die Seele als Wahres und Gutes in sich trägt, ist unsterblich in ihr. – Das, was in der Seele als Ewiges aufleuchtet, sei hier Bewußtseinsseele genannt. – Von Bewußtsein kann man auch bei den niedrigeren Seelenregungen sprechen. Die alltäglichste Empfindung ist Gegenstand des Bewußtseins. Insofern kommt auch dem Tiere Bewußtsein zu. Der Kern des menschlichen Bewußtseins, also die Seele in der Seele, ist hier mit Bewußtseinsseele gemeint. Die Bewußtseinsseele wird hier noch als ein besonderes Glied der Seele von der Verstandesseele unterschieden. Diese letztere ist noch in die Empfindungen, in die Triebe, Affekte und so weiter verstrickt. Jeder Mensch weiß, wie ihm zunächst das als wahr gilt, was er in seinen Empfindungen und so weiter vorzieht. Erst diejenige Wahrheit aber ist die bleibende, die sich losgelöst hat von allem Beigeschmack solcher Sympathien und Antipathien der Empfindungen und so weiter. Die Wahrheit ist wahr, auch wenn sich alle persönlichen Gefühle gegen sie auflehnen. Derjenige Teil der Seele, in dem diese Wahrheit lebt, soll Bewußtseinsseele genannt werden. So hätte man, wie in dem Leib (bestehend aus: physischem Leib, Ätherleib, Empfindungsleib), auch in der Seele drei Glieder zu unterscheiden; die Empfindungsseele, die Verstandesseele und die Bewußtseinsseele.

Und wie von unten herauf die Leiblichkeit auf die Seele begrenzend wirkt, so wirkt von oben herunter die Geistigkeit auf sie erweiternd. Denn je mehr sich die Seele von dem Wahren und Guten erfüllt, desto weiter und umfassender wird das Ewige in ihr. Für denjenigen, der die Seele zu schauen vermag (siehe: Aura), ist der Glanz, der von dem Menschen ausgeht, weil sein Ewiges sich erweitert, eine ebensolche Wirklichkeit, wie für das sinnliche Auge das Licht wirklich ist, das von einer Flamme ausstrahlt. Für den «Sehenden» gilt der leibliche Mensch nur als ein Teil des ganzen Menschen. Der Leib liegt als das gröbste Gebilde inmitten anderer, die ihn und sich selbst gegenseitig durchdringen. Als eine Lebensform erfüllt den physischen Körper der Ätherleib; an allen Seiten über diesen hinausragend erkennt man den Seelenleib (als) Astralgestalt. Und wieder über diesen hinausragend die Empfindungsseele, dann die Verstandesseele, die um so größer wird, je mehr sie von dem Wahren und Guten in sich aufnimmt. Denn dieses Wahre und Gute bewirkt die Erweiterung der Verstandesseele. Ein Mensch, der lediglich seinen Neigungen, seinem Gefallen und Mißfallen leben würde, hätte eine Verstandesseele, deren Grenzen mit denen seiner Empfindungsseele zusammenfiele. Diese Gebilde, inmitten deren der physische Körper wie in einer Wolke erscheint, kann man die menschliche Aura nennen. [11] (Siehe auch: Aura).

Innerhalb der durch Geburt und Tod bestimmten Grenzen gehört der Mensch den drei Welten, der Leiblichkeit, dem Seelischen und dem Geistigen, an. Die Seele bildet das Mittelglied zwischen Leib und Geist, indem sie das dritte Glied des Leibes, den Seelenleib, mit der Empfindungsfähigkeit durchdringt und indem sie das erste Glied des Geistes, das Geistselbst (siehe: Manas), als Bewußtseinsseele durchsetzt. Sie hat dadurch während des Lebens Anteil an dem Leibe sowohl wie an dem Geiste. Dieser Anteil kommt in ihrem ganzen Dasein zum Ausdruck. Von der Organisation des Seelenleibes wird es abhängen, wie die Empfindungsseele ihre Fähigkeiten entfalten kann. Und von dem Leben der Bewußtseinsseele wird es andererseits abhängig sein, wie weit das Geistselbst in ihr sich entwickeln kann.

Physischer Körper, Ätherleib und Seelenleib machen in gewisser Beziehung ein Ganzes aus. Daher ist auch der Seelenleib in die Gesetze der physischen Vererbung, durch die der Leib seine Gestalt erhält, mit einbezogen. Und da er die beweglichste, gleichsam flüchtigste Form der Leiblichkeit ist, so muß er auch die beweglichsten und flüchtigsten Erscheinungen der Vererbung zeigen. Während daher der physische Leib nur nach Rassen, Völkern, Stämmen am wenigsten verschieden ist und der Ätherleib zwar eine größere Abweichung für die einzelnen Menschen, aber doch noch eine überwiegende Gleichheit aufweist, ist diese Verschiedenheit beim Seelenleib schon eine sehr große. In ihm kommt zum Ausdruck, was man als äußere, persönliche Eigenart des Menschen empfindet. Er ist daher auch der Träger dessen, was sich von dieser persönlichen Eigenart von den Eltern, Großeltern und so weiter auf die Nachkommen vererbt. Und weil die Empfindungsseele den Seelenleib durchdringt, gleichsam ausfüllt, so formt sich dieser nach der Natur der Seele, und er kann dann als Vererbungsträger die Neigungen, Leidenschaften und so weiter von den Vorfahren auf die Nachkommen übertragen. [12]

In der Bewußtseinsseele ist eigentlich so recht erst das vorhanden, was man das menschliche Selbstbewußtsein nennt. Trotzdem ist das Ich des Menschen in allen drei Teilen seines inneren Lebens – sowohl in der Empfindungsseele als auch in der Verstandes- oder Gemütsseele und in der Bewußtseinsseele tätig. Das Ich brütet dumpf in dem, was wir Empfindungsseele nennen, es arbeitet sich dann erst heraus, kommt erst zum Vorschein in der Verstandesseele und wird ganz klar erst in der Bewußtseinsseele. Wenn wir diese drei Glieder des menschlichen Innern abgesondert für sich untersuchen wollen, so müssen wir sie als drei Modifikationen, als drei Teile innerhalb des Astralleibes ansehen. Allerdings gilt ja das, daß diese drei Modifikationen, diese drei Glieder des Astralleibes, vorbereitend umarbeiten den Astralleib selber, den Ätherleib und den physischen Leib. Aber diese Umarbeitungen sind doch nicht dasjenige, was uns als das eigentliche menschliche Innere, als das Seelische entgegentritt. Das Seelische, das Innere des Menschen, sind drei Modifikationen des astralischen Leibes. Die drei Modifikationen müssen sich gewisser Werkzeuge bedienen, und diese prägen sich so aus, daß im Astralleibe die Empfindungsseele eine Art von Werkzeug hat, im Ätherleibe die Verstandes- oder Gemütsseele, und im physischen Leibe die Bewußtseinsseele. [13]

Dadurch zerfällt für uns dann in der geisteswissenschaftlichen Betrachtung das innere Seelenleben in drei Glieder, die in drei äußere Leibeshüllen wie eingeschlossen sind, diese ausfüllend. Wir leben zunächst mit unserer Seele so, daß wir in ihr dasjenige erleben, was unsere Augen sehen, unsere Ohren hören, unsere Sinne überhaupt ergreifen können, was unser Verstand begreifen kann. Wir leben mit unserer Seele in unserem physischen Leibe. Insofern unsere Seele im physischen Leibe lebt, nennen wir sie in der Geisteswissenschaft die Bewußtseinsseele, weil erst durch das vollständige Einleben in den physischen Leib im Laufe des Menschenwerdens es möglich geworden ist, daß der Mensch zum Ich-Bewußtsein aufgerückt ist. Dann lernt insbesondere der moderne Hellseher auch kennen das Leben der Seele in demjenigen, was wir Ätherleib genannt haben. Da lebt die Seele so im Ätherleib, daß sie zwar ihre Kräfte hat, daß da aber die Seelenkräfte so wirken, daß wir nicht sagen können, unsere persönlichen Kräfte sind es. Es sind allgemeine Menschheitskräfte, Kräfte, durch die wir den gesamten verborgenen Tatsachen der Natur viel näherstehen. Insofern die Seele diese Kräfte in einer äußeren Hülle, eben in dem Ätherleib wahrnimmt, sprechen wir von der Verstandes- oder Gemütsseele als einem zweiten Seelenglied. So daß, ebenso wie wir die Bewußtseinsseele in der Hülle des physischen Leibes eingeschlossen finden, wir die Verstandes- oder Gemütsseele in dem ätherischen Leib eingeschlossen haben. Und dann haben wir einen noch feineren Leib, durch den wir heraufragen in die übersinnliche Welt. Alles das, was wir innerlich erleben als unsere ureigensten Geheimnisse, zugleich als das, was heute dem Bewußtsein verborgen ist und was in der Zeit des alten Hellsehens als die Werdekräfte empfunden wurde im menschlichen Entwickelungsprozeß, was so empfunden wurde, als ob man zurückschauen könnte in die Ereignisse grauer Vorzeiten, alles das schreiben wir der Empfindungsseele zu, schreiben es dieser so zu, daß sie in den feinsten menschlichen Leib eingeschlossen ist, in dem, was wir den astralischen Leib nennen. Es ist der Wesensteil des Menschen, der gleichsam dem Menschen dasjenige an das äußere Irdische anknüpft, was inspirierend hereinwirkt in sein Inneres, was er nicht durch die äußeren Sinne wahrnehmen kann, auch nicht wahrnehmen kann, wenn er durch sein eigenes Inneres in den Ätherleib hineinsieht, sondern was er wahrnimmt, wenn er von sich selber, von dem Ätherleib unabhängig wird und verbunden ist mit den Kräften seines Ursprungs. [14]

Wenn Sie zunächst die Bewußtseinsseele nehmen, so ist das für uns Menschen vorerst das höchste Seelenglied, aber zugleich das Seelenglied, das in gewisser Weise sich am meisten von der ganzen übrigen Welt abgesondert hat. Es ist das selbständigste Seelenglied. Wenn der Mensch sich in die Bewußtseinsseele versenkt, kann er in seinem Seelenleben am meisten einsam sein, sich absperren gegen die äußere Welt. Aber es ist auch das Seelenglied, welches seiner Natur nach am meisten Grenzen aufgerichtet hat gegenüber der Umwelt, so daß es am stärksten dazu veranlagt ist, in Irrtum und Fehler zu verfallen. Es ist am meisten aus dem Universum losgelöst. Aber dieses Seelenglied kann doch nur in beschränktem Maße in Irrtum verfallen. Das ist das Wichtigste in dem, was wir Bewußtseinsseele nennen. Sie äußert sich vor allem als logisches Denken, als Begriffszergliederung, geht auch als rechnerisches Denken vor, als alles das, was der Mensch in gewisser Beziehung als eine ihm eigene Fähigkeit hat, und was sich nicht bei den Tieren findet. Und weil die Bewußtseinsseele das Isolierteste ist, sind die Menschen in bezug auf die Meinungen so sehr voneinander getrennt. Sprechen wir von dem, was wir gemeinsam einhalten, weil es innerhalb unserer Volksgemeinschaft, unseres Familienkreises ausgebildet ist, weil es gang und gäbe ist in der Umgebung, so sprechen wir von solchen Dingen, die in der Verstandes- oder Gemütsseele sitzen. Aber auch die Dinge, die erst in der Bewußtseinsseele sitzen, wandern in die Verstandesseele herein, zum Beispiel eine von uns einmal gebildete Meinung kann eine gewohnte Meinung werden. Oder eine Fähigkeit kann sich in Geschicklichkeit, in Gewohnheit umwandeln. Dann sind sie in die Verstandesseele herabgestiegen. Die Bewußtseinsseele ist auch deshalb das Isolierteste, weil der Mensch durch die Bewußtseinsseele unmittelbar die Fühlhörner in die Umgebung streckt. Wenn wir überlegen, was wir tun wollen, leben wir in der Verstandesseele. Wenn wir anschauen, was um uns herum ist, strecken wir durch die Sinne direkt die Fühlhörner der Bewußtseinsseele heraus und kommen wieder zu dem, was uns zu dem isolierten Wesen macht. [15]

Die menschliche Seele erschafft, indem sie durch die Sinne wahrnimmt, dasjenige, was sie zunächst als ihre Welt bezeichnen muß. Aber warum schafft sie es, trotzdem das Schaffen im Wirklichen waltet? Nun, sie schafft es aus dem Grunde, weil das, was Menschenseele ist, mit dem Menschen nicht so zusammenhängt, daß man sagen kann: Da ist der menschliche Leib, und in diesem menschlichen Leibe wohnt die unsterbliche Seele drinnen, so wie irgend ein Mensch in seiner Wohnung wohnt und von seiner Wohnung aus die Außenwelt in irgend einer Weise beeinflußt oder durch Fenster die Außenwelt ansieht. Der Zusammenhang der Menschenseele mit dem menschlichen Leibe muß eben ganz anders vorgestellt werden. Er muß so vorgestellt werden, daß gewissermaßen der Leib selber die Seele durch einen Erkenntnisprozeß in sich hält. In dem Sinne, wie Farben und Licht, wie Töne außer uns sind, in demselben Sinne ist die Menschenseele selber außerhalb des Leibes, und indem die Wirklichkeit uns durch die Sinne Farben und Töne hereinträgt, in demselben Sinne leben gewissermaßen auf den Flügeln der Sinneswahrnehmungen die Inhalte der Seele. Die Seele darf nicht so vorgestellt werden etwa nur als ein feineres leibliches Wesen, das im äußeren gröberen Leibe wohnt, sondern als ein Wesen, das selbst mit dem Leibe so verbunden ist, daß der Leib dieselbe Tätigkeit, die wir sonst im Erkennen ausüben, im Festhalten der Seele ausübt. Nur dann, wenn man versteht, wie im gewissen Sinne dasjenige, was wir unser Ich, was wir den Träger unseres Selbstbewußtseins nennen, in demselben Sinne außerhalb des Leibes ist, wie der Ton oder die Farbe, dann verstehen wir das Verhältnis der Menschenseele zum Menschenleibe. Indem der Mensch Ich ausspricht, nimmt er als Leibesmensch gewissermaßen dieses Ich von derselben Wirklichkeitsseite her wahr, von der er Farben und Töne wahrnimmt. [16]

Zitate:

[1]  GA 52, Seite 139   (Ausgabe 1972, 442 Seiten)
[2]  GA 89, Seite 37   (Ausgabe 2001, 234 Seiten)
[3]  GA 98, Seite 28   (Ausgabe 1983, 272 Seiten)
[4]  GA 9, Seite 27   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[5]  GA 315, Seite 115   (Ausgabe 1966, 140 Seiten)
[6]  GA 52, Seite 34ff   (Ausgabe 1972, 442 Seiten)
[7]  GA 52, Seite 339   (Ausgabe 1972, 442 Seiten)
[8]  GA 52, Seite 346f   (Ausgabe 1972, 442 Seiten)
[9]  GA 9, Seite 39uf   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[10]  GA 9, Seite 44   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[11]  GA 9, Seite 46f   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[12]  GA 9, Seite 75ff   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[13]  GA 121, Seite 52   (Ausgabe 1982, 214 Seiten)
[14]  GA 158, Seite 30f   (Ausgabe 1993, 234 Seiten)
[15]  GA 127, Seite 43f   (Ausgabe 1975, 256 Seiten)
[16]  GA 65, Seite 551f   (Ausgabe 1962, 704 Seiten)

Quellen:

GA 9:  Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung (1904)
GA 52:  Spirituelle Seelenlehre und Weltbetrachtung (1903/1904)
GA 65:  Aus dem mitteleuropäischen Geistesleben (1915/1916)
GA 89:  Bewußtsein – Leben – Form. Grundprinzipien der geisteswissenschaftlichen Kosmologie (1903-1906)
GA 98:  Natur- und Geistwesen – ihr Wirken in unserer sichtbaren Welt (1907/1908)
GA 121:  Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhang mit der germanisch-nordischen Mythologie (1910)
GA 127:  Die Mission der neuen Geistesoffenbarung. Das Christus-Ereignis als Mittelpunktsgeschehen der Erdenevolution (1911)
GA 158:  Der Zusammenhang des Menschen mit der elementarischen Welt. Kalewala – Olaf Åsteson – Das russische Volkstum – Die Welt als Ergebnis von Gleichgewichtswirkungen (1912-1914)
GA 315:  Heileurythmie (1921/1922)