Schulung esoterische
► Bedingungen und Problematik der Geistesschulung

Die Seele ist zunächst ein ebenso undifferenziertes Organ, (genau) wie der Organismus eines niederen Wesens, das seine Sinne aus seiner Substanz heraus bildet, und daß sich aus dieser Substanz seelische Begriffe, seelisch differenzierte Geistesorgane herausbilden können, die (sie) dann der geistigen Welt gegenüberstellen. Die Seele muß in innere Regsamkeit (kommen), um dasjenige, was in ihr undifferenziert ist, zu geistigen Organen, die dann die geistige Welt schauen können, wirklich umzugestalten. [1] Die erste Bedingung ist: man richte sein Augenmerk darauf, die körperliche und geistige Gesundheit zu fördern. Der Schüler muß den Willen haben, gesund zu leben. Darinnen muß der Mensch die möglichste Selbständigkeit erlangen. Um unsere Pflichten zu erfüllen, müssen wir uns ja oft Dinge auferlegen, die unserer Gesundheit nicht förderlich sind. Der Mensch muß verstehen, im rechten Falle die Pflicht höher zu stellen als die Sorge um die Gesundheit. Aber was kann nicht alles unterlassen werden bei einigem guten Willen! Besonders wichtig für den Geheimschüler ist das Streben nach völliger geistiger Gesundheit. Ungesundes Gemüts- und Denkleben bringt auf alle Fälle von den Wegen zu höheren Erkenntnissen ab. Nichts soll ja dem Geheimschüler ferner liegen als die Neigung zum Phantastischen, zum aufgeregten Wesen, zur Nervosität, zur Exaltation, zum Fanatismus. Er soll sich bemühen, überall, wo es nötig ist, dem Leben gerecht zu werden. Alles Überspannte, Einseitige soll in seinem Urteilen und Empfinden vermieden werden. Würde diese Bedingung nicht erfüllt, so käme der Geheimschüler statt in höhere Welten in diejenige seiner eigenen Einbildungskraft; statt der Wahrheit machten sich Lieblingsmeinungen bei ihm geltend. Besser ist es für den Geheimschüler, «nüchtern» zu sein als exaltiert und phantastisch. [2]

Diese Dinge, die einer kommenden Geisteswissenschaft zugrunde liegen sollen, die eine kommende geisteswissenschaftliche Forschungsweise abgeben sollen, sind ebenso, wie die naturwissenschaftlichen Verrichtungen im Laboratorium und so weiter, nichts weiter als feinere Ausbildung der auch sonst in der Außenwelt erfolgenden Hantierungen. Diese inneren, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, Hantierungen des Geistesforschers sind nichts anderes als die Fortsetzung desjenigen, was das Seelenleben sonst auch vollbringt, um die Beziehung zwischen menschlichem Seelenleben und Geistesleben herzustellen, die eigentlich immer da ist, die aber durch diese Übungen mehr oder weniger ins Bewußtsein hinein gerufen wird. [3]

Die zweite Bedingung ist, sich als ein Glied des ganzen Lebens zu fühlen. Dann wird mir die Vorstellung auch nicht mehr ferne liegen, daß ich nur ein Glied in der ganzen Menschheit bin und mitverantwortlich für alles, was geschieht. Es soll hier nicht gesagt werden, daß ein solcher Gedanke sich sofort in äußere agitatorische Taten umsetzen soll. Aber still in der Seele soll er gepflegt werden. Dann wird er sich ganz allmählich in dem äußeren Verhalten eines Menschen ausprägen. Und damit hängt die dritte Bedingung für die Geheimschulung unmittelbar zusammen. Der Zögling muß sich zu der Anschauung emporringen können, daß seine Gedanken und Gefühle ebenso Bedeutung für die Welt haben wie seine Handlungen. Es muß erkannt werden, daß es ebenso verderblich ist, wenn ich meinen Mitmenschen hasse, wie wenn ich ihn schlage. Dann komme ich auch zu der Erkenntnis, daß ich nicht nur für mich etwas tue, wenn ich mich vervollkommene, sondern auch für die Welt. [4] Damit ist eigentlich schon die vierte Bedingung ausgesprochen: die Aneignung der Ansicht, daß des Menschen eigentliche Wesenheit nicht im Äußerlichen, sondern im Inneren liegt. Wer sich nur als ein Produkt der Außenwelt ansieht, als ein Ergebnis der physischen Welt, kann es in der Geheimschulung zu nichts bringen. Die fünfte Bedingung ist die Standhaftigkeit in der Befolgung eines einmal gefaßten Entschlusses. Nichts darf den Geheimschüler dazu bringen, von einem gefaßten Entschluß abzukommen, als lediglich die Einsicht, daß er im Irrtume befangen ist. Der Geheimschüler kommt dazu, nicht erst die äußeren Wirkungen seiner Taten abzuwarten, sondern sich an den Handlungen selbst zu befriedigen. Er wird lernen, seine Taten, ja sein ganzes Wesen der Welt zu opfern, wie auch immer diese sein Opfer aufnehmen mag. Zu solchem Opferdienst muß sich bereit erklären, wer Geheimschüler werden will. Eine sechste Bedingung ist die Entwickelung des Gefühles der Dankbarkeit gegenüber allem, was dem Menschen zukommt. Man muß wissen, daß das eigene Dasein ein Geschenk des ganzen Weltalls ist. Was verdanken wir der Natur und anderen Menschen! Zu solchen Gedanken müssen diejenigen geneigt sein, die Geheimschulung wollen. Wer sich ihnen nicht hingeben kann, der vermag nicht jene Alliebe zu entwickeln, die notwendig ist, um zu höherer Erkenntnis zu kommen. Etwas, das ich nicht liebe, kann sich mir nicht offenbaren. Und eine jede Offenbarung muß mich mit Dank erfüllen, denn ich werde durch sie reicher. [5]

Alle die genannten Bedingungen müssen sich in einer siebenten vereinigen: das Leben unablässig in dem Sinne aufzufassen, wie es die Bedingungen fordern. Dadurch schafft sich der Zögling die Möglichkeit, seinem Leben ein einheitliches Gepräge zu geben. Er wird zu der Ruhe vorbereitet sein, zu welcher er kommen muß während der ersten Schritte in der Geheimschulung. Hat jemand den ernsten und ehrlichen Willen, die angegebenen Bedingungen zu erfüllen, dann mag er sich zur Geistesschulung entschließen. [6]

Es muß eines jeden Menschen völlig freier Wille sein, okkulte Höherentwickelung der Seelenkräfte anzufangen. Wer aber die höhere geistige Entwickelung durchmachen will, der muß auch die notwendigen Bedingungen einhalten und sich ihnen fügen. Der Schlaf ist der Ausgangspunkt für die Entwickelung der geistigen Sinne. Wenn nun der Mensch anfängt, im Schlafe schauend zu werden, dann werden dem Körper für eine gewisse Zeit Kräfte entzogen, die bisher die Wiederherstellung an physischem und Ätherleib besorgt haben. Sie müssen auf andere Weise ersetzt werden, soll nicht eine große Gefahr für den physischen und den Ätherleib entstehen. Geschieht dies nämlich nicht, dann kommen diese mit ihren Kräften sehr herunter, und amoralische Wesenheiten bemächtigen sich ihrer. Daher kann es vorkommen, daß Menschen zwar das astrale Hellsehen entwickeln, aber unmoralische Menschen werden. Wichtig ist (auch folgendes): Man kann eine Wesenheit und eine Sache um so mehr sich selbst überlassen, je mehr Rhythmus man hineingebracht hat. So muß der Geheimschüler auch in seine Gedankenwelt eine gewisse Regelmäßigkeit, einen Rhythmus hineinbilden. Dazu ist notwendig:

1. Gedankenkontrolle,
das heißt, der Schüler darf nur die Gedanken in sich hineinkommen lassen, die er selbst haben will. Diese Übungen erfordern viel Geduld und Ausdauer. Aber wenn man sie nur 5 Minuten lang treibt, sind sie schon von Bedeutung für das innere Leben.
2. Initiative der Handlungen
Diese sollen etwas sein, was ursprünglich aus der eigenen Seele selbst herauskommt.
3. Innere Gelassenheit
Man entwickelt dadurch ein viel feineres Mitgefühl.
4. In allen Dingen und Vorgängen die positive Seite finden
5. Unbefangenheit und Vorurteilslosigkeit
Man soll sich stets die Möglichkeit offen lassen, neue Tatsachen anzuerkennen.
6. Inneres Gleichgewicht und innere Harmonie

Wenn der Mensch diese Eigenschaften alle in sich ausbildet, dann kommt ein solcher Rhythmus in sein inneres Leben, daß der Astralleib die Regeneration im Schlafe nicht mehr zu verrichten braucht. Denn es kommt durch diese Übungen auch in den Ätherleib ein solches Gleichgewicht, daß er sich selbst beschützen und wiederherstellen kann. Wer die okkulte Schulung ohne die Ausbildung dieser 6 Eigenschaften beginnt, der läuft Gefahr und ist nachts den schlimmsten Wesenheiten ausgesetzt. Wer aber die 6 Eigenschaften eine Zeitlang geübt hat, der darf damit beginnen, seine astralischen Sinne zu entwickeln, und er fängt nun an, mit Bewußtsein zu schlafen. (Mehr dazu weiter unten unter Nebenübungen).94.171f

Diese Seelenverfassung (die der übersinnlichen Welt gegenübertritt) entwickelt (der Geistesschüler) als eine zweite Wesenheit in sich; und die gesunde andere Wesenheit läuft in der alten Weise ihren Gang fort. Er weiß beide Wesenheiten in Vollbewußtheit auseinanderzuhalten; er weiß sie in rechter Art miteinander in Wechselwirkung zu setzen. [7]

Die erste Erfahrung, die eintritt durch die Organisation des astralischen Leibes, die also eintritt als Wirkung von Meditation, Konzentration und so weiter, könnte man ausdrücken als ein Gefühls-, als ein Empfindungserlebnis, als ein Erlebnis, das man, wenn man es beschreiben will, am besten benennen könnte wie eine in sich verlaufende vollbewußte Spaltung unserer ganzen Persönlichkeit. Das zweite besteht darin, daß nun die zweite Persönlichkeit, die in der ersten darinnen steckt, nach und nach die Fähigkeit erlangt, wirklich aus dieser ersten Persönlichkeit seelisch-geistig herauszutreten. Dieses Erlebnis, das drückt sich schon dadurch aus, daß der Mensch nunmehr die Erfahrung, wenn auch zuweilen oft für kurze Zeit, macht, als ob er sich selbst sehen würde, als ob er sich gleichsam wie seinen eigenen Doppelgänger vor sich hätte. Diese zweite Erfahrung hat allerdings eine viel größere Tragweite als die erste. Denn mit dieser zweiten ist etwas verknüpft, was – man möchte sagen – nur sehr schwer zu ertragen ist für den Menschen. Man muß bedenken, im normalen Leben steckt der Mensch in seinem physischen Leibe darinnen. Unser Ätherleib, unser Astralleib sind hineingepaßt in Formen, welche die Götter geschaffen haben. Werden wir nun frei und selbständig, dann liegt die Sache anders. Dann machen wir uns zu gleicher Zeit frei von dem Wunderwerkzeuge der Götterschöpfung. Wir verlassen also nicht etwa den physischen Leib als etwas, worauf wir als auf ein Unvollkommenes herabschauen dürfen, sondern als den Tempel, den die Götter für uns gebaut haben, in dem wir sonst wohnen während unseres tagwachen Lebens. [8]

Solange wir vom Morgen bis zum Abend im physischen Leibe stecken, korrigiert die göttliche Schöpfung des Tempels unseres physischen Leibes dasjenige, was wir uns selbst anorganisiert haben von Verkörperung zu Verkörperung im Laufe unseres (Gesamt)-Erdenlebens; jetzt aber, wo wir heraustreten, haben unser astralischer Leib und unser Ätherleib dasjenige, was sie sich erworben haben von Leben zu Leben ohne Korrektur; jetzt sehen sie so aus, wie sie aussehen müssen nach dem, was sie selbst aus sich gemacht haben. Wenn der Mensch in einem solch unvorbereiteten Zustand heraustritt aus seinem physischen Leibe, dann ist er nicht etwa ein Wesen von einer höheren, edleren, reineren Form als diejenige war, die er gehabt hat im physischen Leib, sondern ein Wesen mit all den Unvollkommenheiten, die er sich auf sein Karma geladen hat. Das alles bleibt unsichtbar, solange der Leibestempel unseren Ätherleib und astralischen Leib und unser Ich aufnimmt. Es wird sichtbar in dem Augenblick, wo wir mit den höheren Gliedern unserer Wesenheit heraustreten aus dem physischen Leibe. Da stehen, wenn wir nun zu gleicher Zeit hellsichtig werden, vor unserem Auge all die Neigungen und Leidenschaften, die wir noch haben aus dem, was wir in früheren Erdenleben gewesen sind. Alles, was der Mensch fähig ist, an diesen oder jenen Dingen in der Welt zu vollbringen, alles das, dessen er sich schuldig gemacht hat gegen diesen oder jenen Menschen – was er gegen diesen oder jenen Menschen in der Zukunft abzutragen hat –, alles das ist in diesem Astralleib und Ätherleib verkörpert, wenn er heraustritt aus dem physischen Leib. Wir sehen in diesem Augenblick, wie tief wir unter jener Vollkommenheit stehen, die uns vorschweben muß als unser künftiges Entwickelungsideal. Wir wissen in diesem Augenblick, wie tief wir unter die Welt der Vollkommenheit heruntergestiegen sind. Das ist das Erlebnis, das verbunden ist mit der Erleuchtung; das ist das Erlebnis, was man die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle (siehe: Hüter der Schwelle) nennt. Er behütet uns vor jenem Erlebnis, das wir erst ertragen lernen müssen. Wir müssen erst jene starke Kraft in uns haben, die uns befähigt, uns zu sagen: Es liegt eine Welt der Zukunft vor uns, und wir sehen ohne Schrecken und Grauen auf dasjenige, was wir geworden sind, denn wir wissen ganz gewiß, daß wir alles das wiederum ausgleichen können. Die Fähigkeit, die wir haben müssen, um diesen Moment zu erleben, ohne daß wir von ihm niedergedrückt werden, diese Fähigkeit müssen wir uns während der Vorbereitung zur hellseherischen Forschung aneignen. Diese Vorbereitung besteht darin, daß wir insbesondere die aktiven, die positiven Eigenschaften unserer Seele stark und energisch machen, daß wir unseren Mut, unser Freiheitsgefühl, unsere Liebe, unsere Energie des Denkens, unsere Energie des klarsichtigen Intellekts so steigern, als wir sie nur steigern können, so daß wir nicht als schwache, sondern als starke Menschen heraustreten aus unserem physischen Leibe. Wenn aber von demjenigen, was man im gewöhnlichen Leben als Angst und Furcht kennt, zu viel im Menschen vorhanden ist, so wird er nicht ohne Bedrückung dieses Erlebnis überstehen können. [9]

So also sieht man, daß es gewisse Bedingungen gibt, um hineinzuschauen in die geistigen Welten, die in einer gewissen Beziehung ja das Höchste, was zu denken ist für das Leben der gegenwärtigen Menschheitsentwickelung, in Aussicht stellen, und die gleichzeitig notwendig machen, daß der Mensch eine vollständige Umformung und Umstülpung seines Wesens für die Feieraugenblicke sich erringt. Die größte Wohltat in unserer heutigen Zeit wird demjenigen, welcher, bevor er zu diesem Erlebnis vorschreitet, sich beschreiben läßt, was diejenigen, die erlebt haben in den höheren Welten, geschaut haben. Dann, wenn die Seele solches durchgemacht hat, wird der Moment der Begegnung mit dem Hüter der Schwelle zu etwas anderem, als was er sonst geworden wäre. In ganz anderer Weise werden Angst und Besorgniszustände überwunden, wenn man vorher durch das Erfassen der Erzählungen der höheren Welten hindurchgegangen ist, als wenn dies nicht geschehen ist. Dann aber, wenn der Mensch dieses Erlebnis gehabt hat, daß er sich selbst gegenübergetreten ist, daß er also dem Hüter der Schwelle begegnet ist, dann beginnt für ihn die Welt eine ganz andere zu werden; dann erfahren in einer gewissen Beziehung alle Dinge der Welt eine neue Gestalt. [10]

Zitate:

[1]  GA 178, Seite 18f   (Ausgabe 1980, 248 Seiten)
[2]  GA 10, Seite 103ff   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[3]  GA 67, Seite 110f   (Ausgabe 1962, 367 Seiten)
[4]  GA 10, Seite 105ff   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[5]  GA 10, Seite 108ff   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[6]  GA 10, Seite 110   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[7]  GA 10, Seite 223   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[8]  GA 113, Seite 38ff   (Ausgabe 1982, 228 Seiten)
[9]  GA 113, Seite 40ff   (Ausgabe 1982, 228 Seiten)
[10]  GA 113, Seite 42f   (Ausgabe 1982, 228 Seiten)

Quellen:

GA 10:  Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? (1904/1905)
GA 67:  Das Ewige in der Menschenseele. Unsterblichkeit und Freiheit (1918)
GA 113:  Der Orient im Lichte des Okzidents. Die Kinder des Luzifer und die Brüder Christi (1909)
GA 178:  Individuelle Geistwesen und ihr Wirken in der Seele des Menschen (1917)