Schulung esoterische
► (Einführung)

Der Mensch würde sein wahres Wesen doch nicht im Laufe der Entwickelung erreichen können, wenn er sich nicht die Kraft selbst erwerben und ausbilden müßte, durch die er sich zu den geistigen Welten heranarbeitet. Würde er nur wie ein unverdientes Gnadengeschenk das Überschreiten der Schwelle erlangen, würde er vielleicht ein hohes geistiges Wesen sein können, aber er würde nicht im echten Sinne des Wortes Mensch sein können, ein Wesen sein können, das sich zu seinem eigenen Werte auch selbst bringt; denn das ist das Wesen des Menschen im Weltenzusammenhang, daß er sich doch zu dem selber machen muß, was seine eigentliche Würde ausmacht. [1]

Im Laufe der Jahre ist in unseren esoterischen Betrachtungen und eigentlich auch in allem demjenigen, was außerhalb mitgeteilt wurde, alles gesagt worden, was für eine fortschreitende esoterische Entwicklung notwendig ist. Es hängt nur von einem jeden von uns ab, ob er die nötige Geduld, die nötige Aufmerksamkeit und die nötige Ausdauer hat, um zu dem Ziel, dem Aufstieg in die geistige Welt zu gelangen. Was wir insbesondere brauchen für unsere esoterische Entwicklung, das ist Geduld; Geduld, immer wieder unsere Seele ganz leer zu machen, damit wir so die intensiveren Erlebnisse, die sich auf dem tiefen Grunde unserer Seele abspielen, auffangen können. Wenn wir nur genügend achtgeben, werden wir bemerken, wie unser Seelenleben sich allmählich wandelt. Wir werden zum Beispiel bemerken, daß wir nicht länger mehr einfach in Begriffen denken, sondern daß es so wird, daß wir tatsächlich dasjenige sind, was wir denken. An Stelle des «Erkennens» kommt das «Erleben». [2]

Wenn der Mensch durch geisteswissenschaftliche Methodik, wie ich es hier nur im Prinzip kurz schildern kann, Vorstellungen, die nicht Reminiszenzen sein dürfen, zu Dauervorstellungen macht, wenn er sich meditativ leicht überschaubaren Vorstellungen hingibt, wenn er seine Seele darauf ruhen läßt, darauf konzentriert, aber so, daß alles ausgeschlossen ist, was nicht aus der menschlichen Willensanwendung erfolgt, und wenn er alle nebulose Mystik ausschließt, dann gelangt der Mensch in der Tat dazu, hinter das Gedächtnis zu schauen; er gelangt dazu, zur wirklichen Selbsterkenntnis zu kommen. Diese Selbsterkenntnis, wie sie die anthroposophische Geisteswissenschaft anstreben muß mit ihren empirischen Methoden, sie unterscheidet sich selbst gar sehr von einer solchen poetischen, in einem gewissen Sinne bewunderungswürdigen Mystik eines Johannes vom Kreuz oder der heiligen Therese (Therese von Avila). Wer sich den Schriften dieser Geister hingibt, empfindet das Hochpoetische, empfindet, was in diesen wunderbaren Bildern waltet. Wer im anthroposophischen Sinne ein Geistesforscher geworden ist, der weiß ein anderes, der weiß, daß gerade bei solchen Geistern aus den Untergründen der menschlichen Natur, in die das gewöhnliche Bewußtsein nicht hinunterschaut, besondere Tatsachen in das Bewußtsein heraufflammen, könnte man sagen. Bei einer heiligen Therese oder bei Johannes vom Kreuz geschehen in den menschlichen Organen, gerade in den sogenannten physischen menschlichen Organen, in Leber, Lunge und in den Verdauungswerkzeugen – man möge das als noch so prosaisch oder profan ansehen, es ist das nicht profan für den, der die Sache durchschaut –, in diesen physischen Organen geschehen abnorme Dinge, die «dampfen herauf» in das Bewußtsein und werden da zu solchen Bildern, wie sie sich dann ausleben in solchen Persönlichkeiten, die dazu geeignet sind. Der wirkliche Geistesforscher aber durchbricht den Gedächtnisspiegel. Er gelangt nicht zu solch nebuloser Selbsterkenntnis, die man Mystik nennt und anhimmelt, sondern er gelangt zu konkreter Selbsterkenntnis. Er gelangt zur lebendigen Anschauung dessen, was die menschlichen Organe sind. Da eröffnet sich der Weg zu einer wirklichen Erkenntnis der menschlichen Organisation, der Weg, auf dem die Geisteswissenschaft auch in das medizinische Gebiet hinüberführt. Aber das ist nur der Anfang. Denn sieht man auf diese Weise durch geistig-übersinnliche Kräfte in das eigentlich Materielle der menschlichen Organisation hinein, dann überwindet man auch das bloße materielle Anschauen dieser menschlichen Organisation. Denn zuletzt sieht man, wie das, was sich einem da als Materielles im Menschen darstellt, nicht bloß aus der Vererbungsströmung herausgeboren ist, mit der es sich nur verbunden hat, sondern wie es herausgeboren ist aus einer Welt, die der Mensch durchlebt hat vor seiner Geburt oder Empfängnis. Man schaut auf dem Umweg durch materielle Innenerkenntnis in das präexistente Menschenleben (siehe: Präexistenz) hinein. Eine Realität vor der übersinnlichen Erkenntnis wird das präexistente Leben. Die gewöhnliche Mystik, wie sie von kritiklosen Geistern angehimmelt wird, ist eher ein Hindernis für wirkliche Geist-Erkenntnis. – Das nach der einen Seite. [3]

Eine andere menschliche Kraft, die für das Leben im eminentesten Sinne notwendig ist, die wiederum ebensowenig durchbrochen werden darf für dieses gewöhnliche Leben, wie die Gedächtnis- oder Erinnerungskraft, ist die Kraft der Liebe. Nun, Sie wissen alle, wie im gewöhnlichen Leben diese Kraft der Liebe gebunden ist an den menschlichen Organismus. Sie wird ja in der Art, wie sie für das soziale Leben ihre besondere Bedeutung hat, in einem besonderen Lebensalter erst geboren, nämlich wenn der Mensch geschlechtsreif wird, vorher ist sie nur eine Art Vorbereitung – aber diese Liebe ist nur ein Spezialfall dessen, was wir «Liebe» im Allgemeinen nennen. So wie die Geschlechtsliebe gebunden ist an den menschlichen Organismus, so ist zunächst auch die Liebe im gewöhnlichen Sinne gebunden an den Organismus. So wie aber losgerissen werden kann die Erkenntnis im Zerbrechen des Gedächtnisses, so kann die Liebe freigemacht werden von dem menschlichen Organismus, wenn sie durch besondere Methodik geistig-seelisch ausgebildet wird. Man muß dann nur nicht alles mögliche im trivialen Sinne «platonische Liebe» nennen, was auch nichts anderes ist als irgendein Dampf aus dem Organismus heraus – sondern es muß diese Liebe im höheren Sinne ausgebildet werden durch menschliche Selbstzucht, wiederum durch Übungen, wie sie angegeben werden in den genannten Schriften (der Geisteswissenschaft). Es kann diese Liebe, die im gewöhnlichen Leben keine Erkenntniskraft ist, dem wir uns sonst nur hingeben im Leben, was uns eigentlich im Leben erzieht, in Selbstzucht in die Hand nehmen, wenn wir gewissermaßen immer mehr und mehr der eigene Begleiter unserer Selbsterziehung in streng methodischer Weise werden, dann gelangen wir dazu, die Liebe zu einer freien Kraft im menschlichen Wesen, in der menschlichen Organisation zu machen, und dann wird sie eine Erkenntniskraft. [4] .

Wie hat man sich nun die Entwicklung solcher in der Seele schlummernder Kräfte zu denken? – Zweierlei ist zunächst anzustreben. Gewissermaßen nach zwei Polen ist das menschliche Seelenleben systematisch, vollbewußt zu entwickeln, wenn eine solche höhere Erkenntnis im Menschen auftauchen soll. Die eine Seite ist diese, welche man am besten begreift, wenn man anknüpft an das, was im Menschen vorstellt das Erinnerungsvermögen. Dieses Erinnerungsvermögen brauchen wir für das gewöhnliche Leben, und wir brauchen es zur Begründung des wissenschaftlichen Lebens. In der Erinnerung werden gewissermaßen unsere Vorstellungen zu etwas Dauerndem. Immer wieder und wiederum können willkürlich oder unwillkürlich aus dem Strome unserer Erlebnisse die Erinnerungen herauftauchen, dadurch konstituiert sich eben unser Seelenleben. Es kann nun das, was da auftritt, das Dauerndmachen der Vorstellungen, durch die Methode, die ich die meditative Erkenntnismethode genannt habe – ich meine das im technischen Sinne, nicht in jenem nebulos-mystischen Sinne, wie es heute vielfach gemeint wird –, in einer gewissen Weise nachgebildet werden, so daß man aus dem Erinnerungsvermögen etwas bildet, – was nun etwas ganz anderes ist als das gewöhnliche Erinnerungsvermögen. Man muß dann dasjenige, was in der Erinnerung auftritt, nämlich daß sich in das Bewußtsein hereinschieben gewisse Vorstellungen, das muß man aus dem vollen, freien Willen heraus nachahmen. Man muß solche leicht überschaubaren Vorstellungen vor sich hinstellen, die keine Reminiszenzen, die nicht selber Erinnerungsvorstellungen sein dürfen, die man sich daher entweder von einem anderen empfehlen lassen kann, oder die man so zusammenstellen muß, daß sie durchaus überschaubar sind, so daß nichts aus dem Unterbewußten heraufkommen und sich hineinmischen kann; und diesen Vorstellungen muß dann durch Willkür Dauer verliehen werden. Man muß gewissermaßen mit dem ganzen Seelenleben ruhen können auf solchen Vorstelungen. Es kommt nicht darauf an, was gerade der Inhalt solcher Vorstellungen ist, sondern es kommt auf diesen Seelenakt an. Es kommt darauf an, das ganze Seelenleben zusammenzubringen in dem Hinschauen, dem innerlichen Hinschauen auf solche Vorstellungen. Auf dieses Verstärken des Seelenlebens kommt es an. Daher ist auch das, was ich jetzt in ganz kurzer Weise beschrieben habe, in der Praxis eine sehr ausführliche Übung, etwas, dem man sich lange und in sehr geordneter Weise hingeben muß. Es entwickeln sich dann Kräfte, die sonst eben durchaus nicht aus dem Seelenleben herausgeholt werden. Wir sind gerade unter dem Einflusse der modernen Wissenschaftsgesinnung eigentlich immer mehr und mehr bestrebt, nicht in dieser Art Vorstellungen herbeizurufen in das Feld unseres Bewußtseins und auf ihnen zu ruhen, sondern wir sind vielmehr dazu gekommen, die Vorstellungen durch das Leben oder durch Beobachtung in uns wachrufen zu lassen, so daß diese Seelenkraft, auf die ich besonders hinwies, die da erstarkt werden muß, in der neuzeitlichen Wissenschafts- und Lebensgesinnung eigentlich wenig geübt worden ist. Aber auf diese Seelenkraft kommt es an. [5]

(Eine spezielle Übung dazu für mehr visuell veranlagte Personen findet man unter: Konzentrationsübung geometrisch und visuell).

Was ich hier geschildert habe, das führt zu einem gewissen Heraufkommen von Seelenkräften, die erstarken, das führt zu der ersten Stufe der übersinnlichen Erkenntnis, die ich die imaginative Stufe nenne. Nicht weil man es mit «Imaginationen» zu tun hatte in dem Sinne, wie das Wort oftmals gebraucht wird, sondern weil man allmählich durch solche Übungen zu Bildern kommt, ohne dazu gezwungen zu sein durch äußere Sinneswahrnehmungen, zu Bildern, die aber rein seelische Bilder sind, die sich nicht mit Halluzinationen vergleichen lassen, sondern sich nur vergleichen lassen mit Erinnerungsvorstellungen. Man kommt allmählich zu solchen Bildern, aber in dem Erleben des Bildes weiß man zugleich, es bezieht sich dieses Bild nicht wie eine Erinnerungsvorstellung auf irgend etwas von uns Erlebtes in dem Leben zwischen Geburt und Tod, sondern es kommen diese Bilder, wenn man dieses Bildgestalten allmählich sich aneignet, aus unbestimmten Seelentiefen heraus. Geradeso wie unsere Erinnerungsvorstellungen auf das gewöhnliche Erleben hinweisen, das wir durchgemacht haben in gesunder, besonnener Weise, so weisen diese Imaginationen, diese Bilder, auf eine geistige Welt hin. Eine geistige Welt hält ihren Einzug in unser Bewußtsein, indem wir diese Seelenkraft aus ihren Tiefen heraufholen.

Nun handelt es sich (für eine zweite Stufe) darum, daß man zunächst nicht stehenbleibt bei einer solchen Übung, sondern daß man dazu übergeht, ebenso durch Willkür solche Bilder wiederum auszuschalten, wie man sie gestaltet hat. Ich möchte sagen: Wie man eine Art höheren, eine Art künstlichen Erinnerns in sich ausbildet, so muß man in einer höheren Weise die Kraft, die sonst im Vergessen liegt, in sich ausbilden. Es ist sogar schwieriger, diese Kraft des Vergessens in die Willkür hereinzubringen, aber es muß dieses geübt werden. Dann ist man erst soweit, daß man, geradeso wie man sonst durch ein äußeres Sinnesorgan den Eindruck auf das Objekt bezieht, nun lernt, das, was man in der Imagination erlebt, auf ein geistiges Objekt zu beziehen. Dadurch erst erlangt man dann die nächsthöhere Stufe der übersinnlichen Erkenntnis, wenn auch zunächst nur teilweise; man gelangt zu derjenigen Stufe, die ich – ich bitte, sich nicht an diesem Ausdruck zu stoßen, er wird auch oft mißbräuchlich angewendet, ich gebrauche ihn nur in dem Sinn, wie ich es oftmals charakterisiert habe –, die ich die inspirierte nenne; inspiriert aus dem Grunde, weil man nun dazu kommt, dasjenige, was vorher nur subjektiv Erlebtes war, nur subjektive Imagination war, auf eine objektive, geistige Außenwelt zu beziehen. Es stellt sich das ein, daß eine Urteilsfällung, die Zustimmung oder eine Verneinung zu irgendeinem Tatbestand, den man auf diese Weise im Geistigen erlebt, die Gestalt einer inneren Tatsächlichkeit annimmt. Man weiß jetzt: Man lebt nicht mehr in einem solchen abstrakten inneren Seelenleben, wie man es gewöhnt war, und wie es sein muß für die äußere Welt, die bloß abgebildet werden muß, die nicht erlebt werden kann, sondern man lebt jetzt in einer inneren Tatsachenwelt, die aber eine rein seelisch-geistige Tatsachenwelt ist. Man erlebt die Zustimmung zu einem Urteil in der Weise, daß dasjenige deutlich auftritt, was man sonst in seinem Seelenleben primitiv die Kraft der Sympathie nennt, und man erlebt die Ablehnung wie die Antipathie; nur daß diese Erlebnisse jetzt nicht etwas sind, was so subjektiv auftritt im Verhältnis zu den Gegenständen wie im gewöhnlichen Leben, sondern wie etwas, was ein Eingliedern ist in jene Geisteswelt, die man jetzt anfängt zu erleben.

Zu diesen Übungen, die ich geschildert habe, müssen nun andere (für eine dritte Stufe) hinzukommen, die man prinzipiell beschreiben kann – als zur menschlichen inneren Selbstzucht gehörend. Wir überlassen uns im gewöhnlichen Dasein dem äußeren Leben. Wir überlassen uns unseren Erziehern als Kinder, wir überlassen uns der Auslebung der ererbten Eigenschaften, wir überlassen uns im späteren Leben mehr oder weniger diesem Leben selbst. Diese Selbstzucht ist nun das, was in systematischer, methodischer Weise von dem Geistesforscher in Angriff genommen werden muß. Es handelt sich darum, daß man zum Beispiel klar und besonnen erforscht, was eine besondere Eigentümlichkeit des eigenen Selbstes ist, was eine Gewohnheit ist, die sich herausgebildet hat und so weiter. Nun geht man aus rein innerem Antriebe daran, diese Gewohnheit vollständig zu beherrschen, das heißt, sie nicht so zu lassen, daß sie einen gewissermaßen führt, daß man unter ihrem Zwang steht, sondern so, daß man sich überlegen kann: Ich folge dieser Gewohnheit oder ich folge ihr auch nicht. Man kann allerlei Übungen durchführen, die nun wiederum durchaus nach dem Gesundenden hingehen – auch deshalb, weil sie den Menschen in eine gewisse Freiheitsphäre einführen, in eine Möglichkeit, sich im Leben und auch gegenüber sich selbst frei zu bewegen. Man kann solche Übungen so durchführen, daß man zum Beispiel, wenn man ein Sklave seiner Schrift ist, sich einmal im Leben dazu entschließt, seine Schriftzüge gründlich zu ändern. Das ist auch die Änderung einer Gewohnheit. Da nimmt man wirklich, wie ich sagen möchte, sein Inneres in die Hand. [6]

Wenn solche Übungen systematisch durchgeführt werden – aber nicht wie bei den vorher beschriebenen Übungen, wo das Seelenleben mehr nach der intellektuellen Seite hin umgestaltet wird, sondern jetzt mehr nach der Willensseite hin –, dann tritt dasjenige ein, daß es für uns innerlich viel mühevoller wird, sagen wir, zu einem Entschluß zu kommen oder von irgend etwas abzulassen, als es sonst im Leben der Fall ist. Sonst im Leben sind die Willensimpulse in den Untergründen unserer Natur; wir folgen ihnen unmittelbar; wir werden von ihnen geleitet. Der Geistesforscher muß für diejenigen Zeiten, in denen er der Geistesforschung sich überliefern will – natürlich bloß für diese Zeiten – in die Lage kommen, sich mit seinem Seelenleben abzuheben von diesem Zwange. Dann tritt die Möglichkeit ein, die inspirierte Erkenntnis, von der ich vorhin gesprochen habe, voll auszubilden, das heißt, jetzt wirklich die Möglichkeit zu gewinnen, die Imaginationen auf geistige Tatsachen, auf geistige Wesenheiten zu beziehen, so wie wir unsere äußeren Sinneseindrücke sonst auf äußere physische Gegenstände oder physische Tatsachen beziehen. Und wir lernen dann erkennen das Wesen des Geistigen. Dann erkennt man, daß diese Imagination nichts anderes ist als eine höhere Entwicklungsstufe dessen, was ich in meiner «Philosophie der Freiheit», die anfangs der neunziger Jahre in der ersten Auflage erschienen ist, genannt habe «das reine Denken». Dieses reine Denken, in dem eigentlich auch der reine Wille lebt, das ist dasjenige Denken, von dem der Impuls der freien Handlung ausgehen muß. [7] Bei der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft, handelt es sich darum, daß man in bezug auf die Entwicklung der Seele mit innerer Systematik streng vorgeht, wie man es gewohnt geworden ist aus dem wissenschaftlichen Gewissen und der wissenschaftlichen Disziplin der neueren Zeit heraus. Damit ich nicht mißverstanden werde, muß ich das folgende noch sagen: Was ich Ihnen hier schildere, das sind Seelenverfassungszustände die der Geistesforscher erringt, die aber nicht etwa dann seine gewöhnlichen Zustände sind. Nein, der Geistesforscher muß gerade im gewöhnlichen Leben mit aller Besonnenheit, mit aller Vernünftigkeit, mit aller Neigung zum gewöhnlichen wissenschaftlichen Denken und Forschen drinnenstehen. Und dasjenige, was ich Ihnen geschildert habe als höhere Erkenntniskraft, das tritt gewissermaßen nur in dem Augenblick ein, wo der Geistesforscher sich diesen höheren Erkenntnissen hingibt. Es ist nicht etwas, wovon er gefangengenommen wird oder was ihn zu einem mystischen Schwärmer macht, der immer außerhalb des Lebens lebt, sondern es ist etwas, was er handhaben kann, zu dem er bewußt hingeht, wie man zu einem äußeren wissenschaftlichen Experiment geht und wieder weggeht ins gewöhnliche Leben, in dem man ein vernünftiger Mensch ist mit aller Nüchternheit, die notwendig ist in diesem Leben. Geradeso, wie wir beim Experiment die Bedingungen herstellen, unter denen die Ergebnisse sich entwickeln, so lernt man durch willkürliche Gedankenprozesse ihre Folgen im materiell-innerlichen Leben kennen. Und indem man das ausbilden lernt, erkennt man, wie das Geistig-Seelische, das Übersinnliche des Menschen, das von Leben zu Leben geht, vor der Geburt, oder besser gesagt der Empfängnis des jetzigen Lebens, in einer geistig-seelischen Welt gelebt hat. Und die andere Seite: Man lernt, wie der Wille wirkt, wie der Wille gewissermaßen zur Dissoziation der Materie führt, wie der Wille einen Wärmeprozeß einleitet, der dann in etwas anderes übergeht. Daran lernt man erkennen, wie das Geistige sich dem Materiellen entringt, wie das Geistige als Willensmäßiges dem Materiellen sich entringt. Und das ist wiederum vergleichbar demjenigen Vorgang, der uns entgegentritt, wenn der Mensch stirbt, wenn das willensartige Geistige sich losringt aus dem physischen Leibe. Man lernt diesen vollständigen Vorgang des Durchgehens durch den Tod, des Hinübergehens des Unsterblichen des Menschen in eine geistige Welt, erkennen. [8]

Es ist nicht so, daß die Menschen unbedingt durch ihre Natur getrennt wären von der geistigen Welt, sondern es ist deshalb so, weil die Menschen durch Gewöhnung, durch Vererbungsverhältnisse, seit dem 14. und 15. Jahrhundert sich ganz abgewöhnt haben, andere Vorstellungen zu bilden als diejenigen, die hier der physischen Welt entlehnt sind. [9]

Der Geistesforscher kann bemerken, daß die Seele eine eigentümliche Scheu, man möchte sagen, eine Art innerer Furcht hat, wie sie heute im Grunde genommen die wenigsten Menschen kennen, weil sie tief im Unterbewußtsein sitzt, eine Scheu und Furcht davor, in die Tiefen der Seele hinunterzudringen, wo das Ewige der Seele lebt. Auf der anderen Seite strebt der Mensch mit allen Fasern seines Wesens danach, etwas von dem Leben der Seele zu erkennen; aber er findet doch die Wege, die dazu führen, so schwierig, daß ihn etwas wie diese innere Scheu und Furcht befällt. Gerade wenn der Mensch anfängt, solche Übungen zu machen, um, ich möchte sagen, Auge in Auge seinem Ewigen gegenüberzustehen, dann flieht nicht nur dieses Ewige, sondern die Furcht und Scheu werden sogar noch größer, steigern sich. Noch ein anderes kommt hinzu. Haben wir als Geistesforscher etwas von diesen Dingen erfaßt, und versuchen wir mit geisteswissenschaftlich ungeschultem, aber naturwissenschaftlich gut geschultem Denken an dieses nun schon Gewonnene heranzutreten, so kommt dieses Gewonnene in Verwirrung. Es ist tatsächlich so, wie wenn dies, was so großartig anwendbar ist auf die äußere Natur, dasjenige vertreiben würde, was der Mensch hervorholen kann aus seinem Innern über seine eigene Wesenheit. Dazu kommt weiter, daß der Mensch sehr leicht geneigt ist, aus seinen Wünschen, seinen Begierden und Vorurteilen heraus in die Ergebnisse der Seelenforschung das hineinzutragen, was er darin haben möchte, daß er aus seiner Phantasie heraus dasjenige färbt, was sich in objektiver Weise ergeben soll, gerade so objektiv, wie auf dem Gebiete der Naturwissenschaft die Ergebnisse objektiv sein sollen. Das alles bringt Hindernis über Hindernis. Und wer erkennen will, wie man es eigentlich macht, um an den Geist heranzukommen, der hat gar nicht so sehr nötig, bestimmte Übungen daraufhin anzuwenden, um gewisse in der Seele verborgene Fähigkeiten heraufzuholen; denn läßt man ihnen Freiheit, läßt man sie walten, wie sie walten wollen, sie kommen schon von selber, sie kommen nur aus den angeführten Gründen nicht. Ein großer Teil der Anstrengungen, die innerhalb der Übungen sich geltend machen, kommt davon, daß man die eben aufgezählten Hindernisse hinwegschaffen muß. [10]

Es verhält sich mit dem geistigen Erleben gerade umgekehrt als in dem gewöhnlichen Üben der äußeren Welt. In der äußeren Welt bringt man eine Fertigkeit zu größerer Vollkommenheit, wenn man sie häufig übt. Im geistigen Schauen flieht uns durch Wiederholung, was wir schon erreicht haben; es wird immer geringer und geringer, es geht fort. Die Anstrengungen des Menschen müssen daher immer größere und größere werden. Darin besteht wieder ein Eigentümliches der geistigen Übungen, daß man die Möglichkeit findet, um immer größere und größere Anstrengungen zu machen, um das immer größere Fliehen der geistigen Welt zu überwinden. Und ein Drittes, wenn wir etwas in der äußeren Welt betrachten wollen, so sind wir gewohnt, möglichst lange die Aufmerksamkeit darauf zu richten. Für die Betrachtung des Geistigen ist etwas nötig, was man gerade bezeichnen kann als Geistesgegenwart. Denn das Allerwichtigste und Wesentlichste im Erleben tritt an die Seele aus der geistigen Welt so heran, daß es ganz schnell auftritt – und vorüberhuscht, ohne daß man es beobachten kann. Deshalb entgehen dem Menschen die Geheimnisse der geistigen Welt, weil er nicht Geistesgegenwart genug hat. [11]

Die gewöhnliche Wissenschaft erkennt, sie erkennt in wirklichkeitsfremden Bildern; die Geisteswissenschaft erlebt ihren Geistinhalt. Der Unterschied, der besteht zwischen Erkennen und Erleben der Seele, das ist der Unterschied zwischen äußerlicher, naturwissenschaftlicher Methode und geisteswissenschaftlicher Methode. Derjenige, der zur Geisteswissenschaft forschend kommen will, der muß darauf kommen, daß in den Tiefen der menschlichen Seele Kräfte liegen, die für das ganze menschliche Leben so verborgen bleiben können, wie gewisse Kräfte in der kindlichen Seele verborgen bleiben, wenn man das Kind nicht erzieht. Wir haben unter unserer gewöhnlichen Erkenntnisweise etwas, was zwar sehr abstrakt ist, was aber in einer gewissen Weise hinzielt auf das, was auch in der geisteswissenschaftlichen Methode das Maßgebende ist: es ist die Mathematik. Das, was wir als mathematische Wahrheiten kennenlernen, das wissen wir dadurch, daß uns die unmittelbare Anschauung, die unmittelbare Wahrheit des mathematischen Inhaltes aus der Seele aufsteigt. Da brauchen wir nichts äußerlich zu konstatieren. Da brauchen wir auch nichts äußerlich bestätigt zu finden. Da wissen wir, was wir wissen, durch dasjenige, was aus unserer Seele aufsteigt. Dasjenige, was von dem heutigen Wissenschaftsgeiste nur für die Mathematik gelten gelassen wird, das kann umfassend entwickelt werden in der menschlichen Seele, so daß aus dieser menschlichen Seele nicht bloß heraufsteigen Linien und Linienzusammenhänge, Zahlen und Zahlenzusammenhänge, sondern daß heraufsteigen Lösungen gewaltiger Weltenrätsel, daß heraufsteigen Wahrheiten über des Menschen Wesenheit und über der Welt Wesenheit. Derjenige aber, der hinschaut auf das, was den Menschen intim mit der Welt verbindet, der gewahr wird, wie alles dasjenige, was draußen im Raum und in der Zeit ist, im Grunde genommen im Menschen lebt, weil ja der Mensch herausgeboren ist aus der ganzen Welt und täglich sich aus dieser ganzen Welt heraus weiterentwickelt, er wird nicht verwundert sein darüber, daß aus dem Menschenwesen, das ja heraus gestaltet wurde aus der ganzen Welt, auch die Anschauung dieses ganzen Welteninhaltes aufsteigen kann. Die geisteswissenschaftliche Erfahrung zeigt einfach, daß dies deshalb aufsteigen kann, weil der Mensch verbunden ist in seinem Innern erstens durch seinen physischen Leib mit allem, was mineralisch, pflanzlich, tierisch in seiner Umgebung ist; er trägt diese Reiche der Natur in einer höheren Gestaltung in seinem physischen Leibe in sich. Er trägt zweitens aber auch alles dasjenige, was geistig-seelisch ist in der Welt, in seinem Geistig-Seelischen in sich. Daher kann er, wenn er nur die entsprechenden Methoden für die Seelenentwicklung anwendet, aus sich aufsteigen lassen Wahrheiten über die Menschheits- und Welten-geheimnisse, so wie die mathematischen Wahrheiten in ihm aufsteigen. [12]

Geisteswissenschaftliche Wahrheiten haben Bestätigung so wenig nötig wie mathematische Wahrheiten. Sie entspringen aus dem freien geistigen Erleben des Menschen heraus, nicht auf die Weise, wie manche der Gegner der Geisteswissenschaft heute meinen. Und dann wurde von mir oftmals gesagt: Zum Erforschen der geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse gehört die geisteswissen-schaftliche Schulung – zu ihrem Verarbeiten nicht; das kann man mit den Ideen, mit dem gewöhnlichen gesunden Menschenverstand. Auch dafür ist die Mathematik ein Vorbild. Um mathematische Entdeckungen zu machen, sind besondere mathematische Fähigkeiten nötig. Sind die Entdeckungen gemacht, dann kann sie jeder, der mathematische Ideen hat und sie bis zu einer entsprechenden Entwicklung gebracht hat, belegen, beweisen, weitertragen. Und so ist es in der Geisteswissenschaft. [13]

Will man in die geistige Welt eindringen, dann muß man vor allen Dingen, während man in die geistige Welt eindringt, sich abgewöhnen können das Denken. Nicht für immer, das wäre ja schlimm, aber für die Momente, wo man in die geistige Welt eindringen will. Denn das menschliche Denken, das ist nur für diese irdische Welt. Daher ist das Denken auch so verwandt mit dem Sprechen. Wir denken ja eigentlich in Worten der physischen Welt, und nur dadurch, daß man sich allmählich gewöhnt nicht in Worten zu denken (sondern in Bildern), kommt man der geistigen Welt nahe. [14] Die Menschen denken heute (1923) nicht selbst, sondern die lateinische Sprache denkt in ihnen. Solange man nicht selber denken kann, solange kann man überhaupt nicht in die geistige Welt hineinkommen. Jetzt haben Sie den Grund, warum sich die heutige Erkenntnis auflehnt gegen alles geistige Erkennen: weil die Leute durch die lateinische Erziehung dazu gekommen sind, nicht selber zu denken. Selbstdenken kann man nur mit dem Ätherkörper. [15]

Wir fragen uns: durch was kann denn der Mensch eine solche Unab-hängigkeit erlangen von dem physischen Leibe, durch was kann er sich in einen Zustand versetzen, der dem Momente des physischen Sterbens in bezug auf die Erkenntnis ähnlich wird? Einzig und allein dadurch, daß er gewisse Empfindungen und Empfindungsnuancen ausbildet, welche die Seele so ergreifen, daß in einer gewissen Beziehung diese Empfindungen und Empfindungsnuancen durch ihre Kraft den ätherischen Leib packen und ihn herausheben aus dem physischen Leibe. Es müssen also so starke Empfindungsimpulse, Gedankenimpulse und Willens-impulse in der Seele wirken, daß eine innerliche Kraft da ist, welche den Ätherleib frei macht vom physischen Leibe für gewisse Augenblicke. Nicht aber durch äußere physische Maßnahmen kann so etwas in unserem Zeitraume der Menschheitsentwickelung herbeigeführt werden. Das Wesentlichste zur Herbeiführung eines solchen Zustandes besteht darin, daß der Mensch eine Umwandlung, gleichsam eine Umstülpung seiner Interessensphäre erlebt. [16]

In gewissem Sinne kommt auch jeder (in die geistige Welt) hinein, der diese Regeln (der Schulung) nur anwendet; aber das zu bemerken, daß man darinnensteht, das Aufmerksamsein darauf ist schwieriger als das Hineinkommen selbst. Und da hindert gar manchen, wenn er auch schon wirklich drinnensteht in der geistigen Welt, die Unmöglichkeit, jene feine, intime Aufmerksamkeit anzuwenden auf das, was er nun erlebt, um sich wirklich bewußt zu sein, wie er darinsteht. Man möchte sagen, für jeden, der die Regeln anwendet, die in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» gegeben sind, tritt nach verhältnismäßig kurzer Zeit das ein, daß er in der geistigen Welt mit seinem Selbst darinsteht, aber er bemerkt es nicht. [17]

Geistesgegenwart im gewöhnlichen Leben besteht darin, daß man schnelle Entschlüsse fassen kann gegenüber einer Situation. Das muß aber eine habituelle Eigenschaft werden für den, der in die geistigen Welten hinaufsteigen will. Denn dasjenige, was da wahrzunehmen ist, es ist nicht so bequem wahrzunehmen. Sie können es nicht, weil sie nicht genügend vorbereitet sind für Geistesgegenwart, denn die Dinge huschen schon schnell vorbei, daß man sie schnell ergreifen muß. Die meisten Menschen haben nur solche Seelenfähigkeiten, daß, wenn sie die Aufmerksamkeit wenden sollen auf das, was sie geistig erleben sollen, es schon nicht mehr da ist. Es handelt sich also um Geistesgegenwart. [18]

Zitate:

[1]  GA 210, Seite 52   (Ausgabe 1967, 245 Seiten)
[2]  GA 266/3, Seite 60   (Ausgabe 1998, 545 Seiten)
[3]  GA 77b, Seite 35ff   (Ausgabe 1996, 232 Seiten)
[4]  GA 77b, Seite 37f   (Ausgabe 1996, 232 Seiten)
[5]  GA 77a, Seite 134ff   (Ausgabe 1997, 262 Seiten)
[6]  GA 77a, Seite 138ff   (Ausgabe 1997, 262 Seiten)
[7]  GA 77a, Seite 141ff   (Ausgabe 1997, 262 Seiten)
[8]  GA 77a, Seite 145ff   (Ausgabe 1997, 262 Seiten)
[9]  GA 179, Seite 59   (Ausgabe 1977, 164 Seiten)
[10]  GA 67, Seite 18f   (Ausgabe 1962, 367 Seiten)
[11]  GA 67, Seite 23   (Ausgabe 1962, 367 Seiten)
[12]  GA 255b, Seite 239ff   (Ausgabe 2003, 622 Seiten)
[13]  GA 255b, Seite 258   (Ausgabe 2003, 622 Seiten)
[14]  GA 350, Seite 90   (Ausgabe 1962, 314 Seiten)
[15]  GA 350, Seite 142f   (Ausgabe 1962, 314 Seiten)
[16]  GA 113, Seite 35   (Ausgabe 1982, 228 Seiten)
[17]  GA 159, Seite 347   (Ausgabe 1980, 388 Seiten)
[18]  GA 82, Seite 89f   (Ausgabe 1994, 264 Seiten)

Quellen:

GA 67:  Das Ewige in der Menschenseele. Unsterblichkeit und Freiheit (1918)
GA 77a:  Die Aufgabe der Anthroposophie gegenüber Wissenschaft und Leben. Darmstädter Hochschulkurs (1921)
GA 77b:  Kunst und Anthroposophie. Der Goetheanum-Impuls (1921)
GA 82:  Damit der Mensch ganz Mensch werde. Die Bedeutung der Anthroposophie im Geistesleben der Gegenwart (1922)
GA 113:  Der Orient im Lichte des Okzidents. Die Kinder des Luzifer und die Brüder Christi (1909)
GA 159:  Das Geheimnis des Todes. Wesen und Bedeutung Mitteleuropas und die europäischen Volksgeister (1915)
GA 179:  Geschichtliche Notwendigkeit und Freiheit. Schicksalseinwirkungen aus der Welt der Toten (1917)
GA 210:  Alte und neue Einweihungsmethoden. Drama und Dichtung im Bewußtseins-Umschwung der Neuzeit (1922)
GA 255b:  Die Anthroposophie und ihre Gegner (1919-1921)
GA 266/3:  Aus den Inhalten der esoterischen Stunden. Band III (1913-1923)
GA 350:  Rhythmen im Kosmos und im Menschenwesen. Wie kommt man zum Schauen der geistigen Welt? (1923)