Karma – Gesetze

Man kann in einem Vortrage nur in erzählender Weise die Tatsachen des Karmagesetzes angeben, und darin zeigt sich dann die Reife des geisteswissenschaftlich Strebenden, daß er diese Dinge nun hinnehmen kann als Tatsachen, als Ergebnisse und dann weiter darüber nachdenkt und sie im Leben aufsucht. Das einzelne Leben zeigt in den verschiedensten Arten die Wirkungen des Karma; nur geht die menschliche Lebensbetrachtung gewöhnlich nicht sehr weit. Die Menschen überschauen gewöhnlich sich selber oder ihre Mitmenschen mit Aufmerksamkeit nur eine kurze Zeit des Lebens, weil ihr Blick nicht durch das geistige Auge geschärft ist. [1] Zunächst muß (allerdings auch) betont werden, daß das Leben nicht allein durch die früheren Verkörperungen, sondern, wenn auch nur zum kleinen Teil, auch durch das gegenwärtige Leben bestimmt wird. Dieses Gesetz, dem wir da begegnen, wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Menschen zusammenhängen, wird in der geisteswissenschaftlichen Literatur das Karmagesetz genannt. Es ist das wahre Schicksalsgesetz des Menschen. In der Wirkung des Karmagesetzes in jedem einzelnen Leben haben wir nur einen Spezialfall des großen Gesetzes des Kosmos, denn was wir Karmagesetz nennen, ist ein ganz allgemein kosmisches Gesetz, und seine Geltung im menschlichen Leben ist nur ein Spezialfall. Wenn wir uns überhaupt einen Zusammenhang irgendwelcher vorhergehender Verhältnisse und nachfolgender Wirkungen klarmachen, denken wir schon im Sinne dieses Gesetzes. [2]

Seelisches aus einem Erdenleben verwandelt sich in Körperliches im anderen Erdenleben; Körperliches aus einem Erdenleben verwandelt sich in Seelisches in einem anderen Erdenleben. In dieser Beziehung ist es wirklich so, daß derjenige, der auf karmische Zusammenhänge sehen will, manchmal den Blick auf Kleinigkeiten richten muß. Es ist ungeheuer wichtig, den Blick nicht auf die Dinge zu lenken, welche wir sonst im Leben für besonders wichtig halten. [3]

Die Änderung, die der Astralleib in diesem Leben erfährt, tritt in der nächsten Inkarnation am Ätherleibe auf, indem sie gestaltend auf ihn einwirkt. Will jemand etwa im nächsten Leben mit einem guten Gedächtnis geboren werden, so soll er bemüht sein, sich möglichst an alles zu erinnern, und alles, was er erlebt, sich ins Gedächtnis zurückzurufen. [4] Der physische Leib ist der Faktor, durch den unsere Taten in der Welt ausgeführt werden, denn was wir tun, geschieht durch Bewegungen, die unser physischer Leib macht. Von diesem unserem Tun hängt unser äußeres Schicksal in der nächsten Inkarnation ab. Ob wir arm oder reich, an diesem Ort oder jenem, in dieser Umgebung oder jener geboren werden, ist das Resultat der Taten unseres physischen Leibes in früheren Leben. Begehen wir schlechte Taten, so werden wir in eine schlechte Umgebung geboren, gute Taten erwirken uns eine gute Umgebung. [5] Die Handlungen des vorigen Lebens drücken sich in diesem aus als äußere Lebensschicksale. Die Neigungen, die Temperamentsanlage und so weiter des vergangenen Lebens bilden sich um zu der physischen, gesundheitlichen Konstitution in diesem Leben. [6] Da also die Eigenschaften des Ätherleibes so auf den physischen Leib des nächsten Lebens einwirken, hängt die gesunde oder schwache Organisation des Menschen in dem einen Leben von seinen Neigungen und Gewohnheiten im vorigen Leben ab. Die Ursachen der Krankheit sind in der Tat moralische. [7]

Das Vorstellungsleben ist Tätigkeit unseres Astralleibes. Die Art dieses Vorstellungslebens wirkt ein auf den Ätherleib im nächsten Leben, das heißt auf die bleibende moralische Gesinnung des Menschen. Betrachten wir die Stimmung eines Schopenhauers, der Pessimist gewesen ist. Das Leben pessimistisch oder auch optimistisch ansehen, bewirkt eine Eigenschaft des Ätherleibes, und beim Pessimisten ist diese Haltung dadurch verursacht, daß ein solcher Mensch in seinem vorigen Leben unbefriedigende oder unglückliche Erfahrungen gemacht hat. Wenn jemand viele abfällige Urteile über seine Mitmenschen fällt, so recht ein Kritikaster ist, so drückt sich diese Neigung des einen Lebens im nächsten Leben so aus, daß der Betreffende früh altert und überhaupt wenig Jugendlichkeit zeigen wird. [8] Die Vorstellungen, Empfindungen und so weiter eines langen Lebens, die den Astralleib umändern, werden erst im nächsten Leben eine eingreifende Veränderung im Ätherleib hervorrufen. [9] Dinge, welche in einem Leben den Astralleib betreffen, zeigen sich in dem nächsten als eine Anlage des Ätherleibes. Lügt der Mensch häufig in seinem Leben, so ist das in eben diesem Leben nur einer Eigenschaft des Astralleibes zuzuschreiben. Die Wiederholung des Lügens aber teilt sich nach und nach dem Ätherleib mit, und als Folge zeigt sich in einem nächsten Leben eine leichtfertige, phlegmatische Art der Persönlichkeit, welche auf gewissen Eigenschaften des Ätherleibes beruht. Fügt ein Mensch seinen Mitmenschen viel Schmerzen zu, so beruht auch dies zunächst auf Merkmalen des Astralleibes; aber auch da wirkt die Wiederholung so, daß dem Ätherleib etwas mitgeteilt wird, was sich im nächsten Leben als melancholische Anlage zeigt, die ja auch auf Eigenschaften des Ätherleibes beruht.

Wenn sich bei einer Person eine gewisse sinnwidrige Gewohnheit ausbildet, so beruht dies in dem entsprechenden Leben auf Merkmalen des Ätherleibes. Im nächsten Leben aber zeigt es sich, daß diese Gewohnheiten auf die Zusammensetzung des physischen Leibes gewirkt hat. Man kann geradezu die Ursache einer krankhaften Veranlagung in einer Ausbildung schlechter Gewohnheiten in einem früheren Leben erkennen. Man kann zum Beispiel folgendes sagen: ein gedankenloses Leben (Mangel des Astralleibes) führt in einem nächsten Dasein zu einer leichtlebigen Anlage, die sich insbesondere in Vergesslichkeit, Gedächtnislosigkeit ausprägt, in einem weiteren Leben erscheint die Vergeßlichkeit als eine krankhafte Anlage, die gegenwärtig vielfach als «Nervosität» bezeichnet wird. Man wird (also) das Karmagesetz erst dann richtig verstehen, wenn es nicht im Sinne der gewöhnlichen Justizpflege, sondern in einem viel höheren (und umfänglicheren Sinne) aufgefaßt wird. [10] Infektions­krankheiten (beispielsweise) führen zurück auf einen besonders ausgebildeten egoistischen Erwerbssinn im vorigen Leben. [11] Personen, die in einem Leben gewohnheitsmäßig egoistisch handeln, altern früh im nächsten Leben, schrumpfen früh zusammen. Das lange Jung- und Frischbleiben dagegen rührt von einem liebevollen, hingebungsvollen Vorleben her. [12]

Das Karma wird gewoben von dem Ich zwischen Einschlafen und Aufwachen. Das Karma wird gewoben abseits von dem im Menschen, worin die Freiheit liegt. Das Karma webt auch nicht an den freien oder unfreien Gedanken, das Karma webt an Gemüt und Willen. Das Karma kommt aus den Tiefen der Menschennatur herauf, aus dem träumenden Gemüt und dem schlafenden Willen. [13] Der Mensch webt sein Karma während des Schlafes, aber er erntet dasjenige, was er zum Gewebe braucht, während des Wachens ein. Denn das, was er webt, sind die Fäden, die er wirken muß aus allgemeiner Menschenliebe, oder die Fäden, die fortwährend abreißen und ein schlechtes Karma für das nächste Leben bilden, das sind diejenigen, die aus Menschenhaß gewoben sind, denn für das Karma kommen als schöpferische Kräfte vor allen Dingen Menschenliebe und Menschenhaß in Betracht. [14]

Von der Nacht aus greift allmählich das Karma in das Tagesleben des Menschen ein, und wir nehmen aus der Nacht herauf etwas ganz Bestimmtes mit in den Tag hinein. Wer sich richtig besinnen kann darauf, wie er ein besonders bedeutungsvolles Ereignis in seinem Leben durchmacht an irgendeinem Tage, und wer eine intimere, feinere Selbstbeobachtung hat, wird dann schon leicht empfinden, wenn er, sagen wir, dieses bedeutsame Ereignis seines Lebens am Nachmittage erlebt, wie er fühlen kann, daß schon vom Morgen an die Unruhe in ihm war, zu diesem Ereignis hingestoßen zu werden. Die meisten Menschen, die so etwas empfinden können, werden eigentlich das Gefühl haben, daß sie schon vom Morgen an losgelaufen sind auf ein solches Ereignis, das eine Bedeutung hat im Leben. Die ganzen vorhergehenden Tagesstunden färbte gewissermaßen ein solches Ereignis, auch wenn es ein ganz unerwartetes, wenn es ein wirklich schicksalhaftes, unerwartetes Ereignis ist. An Tagen, an denen wir Bedeutungsvolles im Leben durchmachen, wachen wir anders auf als an Tagen, die im gewöhnlichen Trott fortlaufen. Je mehr der Mensch jenes Unbestimmte, man möchte sagen halb Mystische, das vom Schlaf aus in sein Leben hineinstrahlen kann, beobachtet, desto mehr kommt er zum Aufmerken auf sein Karma. [15]

Die ganze karmische Vergangenheit, sie zieht mit jedem Schlafe an dem Menschen vorüber. Während der Mensch vorzugsweise in dem, was er erleben kann beim Einschlafen, einen kleinen Vorgeschmack hat von dem werdenden Karma, das sich da ausbildet für die Zukunft, hat er, wenn er aufwacht eine leise, allerdings eine sehr leise Empfindung von dem Karma, das er trägt. Der Moment des Aufwachens ist ein solcher, von dem man sagen muß: er bedeutet eine leise Andeutung alles dessen, was der Mensch in sich trägt von seinen vergangenen Erdenleben. Das wird allerdings aufgefangen durch alles das, durch das der astralische Leib und das Ich hindurchstrahlen, wenn sie sich von den Fingerspitzen und den Zehenspitzen aus in den Menschen hinein verbreiten (siehe die Artikel: Aufwachen; Aufwacherlebnis). Aber es ist doch so, daß ein sehr beschwerliches Karma, ein Karma, an dem man stark trägt, die Eigentümlichkeit hat, daß es einem gewissermaßen in den Kopf hinaufstrahlt alles dasjenige, was ungesunde abgelagerte Stoffe sind, während ein gutes Karma eigentlich die guten abgelagerten Stoffe hinaufstrahlt. Und da ist es, wo Geistiges und Natürliches sich berühren. Vom bösen Karma, von dem Nachgebliebenen alles dessen, was wir im bösen Sinne vollbracht haben, werden alle möglichen ungesunden Ablagerungen im menschlichen Organismus zu einer Art Hinaufdünsten in den Kopf gebracht. Man spürt dann den Kopf brummig und dumpf von dem, was das böse Karma ist. [16]

Zwischen dem Einschlafen und Aufwachen webt und west der Astralleib in der Wesenheit der astralischen Welt (Astralplan) drinnen; aber innerhalb dieses astralischen Leibes tragen wir noch an uns, zwischen dem Einschlafen und Aufwachen, das Ich. Das ist aber noch nicht fähig, insofern es das Ich der Gegenwart ist, hineinzukraften in den physischen Leib. Denn hier teilt der Mensch das Schicksal der übrigen Natur, die Dualität des Geistes mit der Materie. Was da im Menschen in diesem Kampf zwischen Geist und Materie, der in ihn hereinleuchtet, der da besteht in dem Überwindenwollen des Dualismus von Geist und Materie in der äußeren physischen Erdenwelt, als ein innerer Konflikt hinter den Kulissen seines Daseins sich auch wachend im bloßen Willen abspielt, das spielt sich hinter den Kulissen des Daseins im Schlafe ab. Das ist für den Menschen zunächst, wie er sich im gewöhnlichen Bewußtsein entfaltet, verdeckt durch den Schlaf. Eine wirkliche Geistesschau aber enthüllt uns, was da eigentlich wirkt als schöpferisches, der Verbrennung entgegengesetztes Prinzip aus lang vergangenen Erdenleben. Und wir werden gewahr, wie durch unseren Willen pulsen, aus moralischen Impulsen unser Schicksal bereitend, die früheren Erdenleben, wie, wenn wir in den Schlaf hineingehen, das, was sonst aus seinen Trieben, Emotionen, aus den bewußten Absichten der menschliche Wille auch im Wachen schlafend vollbringt, wie das zwischen dem Einschlafen und Aufwachen sich webt zu dem Wesen, das dem Menschen in der Gegenwart verhüllt ist durch das Schlafen, das aber in unserem nächsten Erdenleben als wirksamer Wille unser Blut durchpulsend in dem Verbrennungsprozeß des künftigen Leibes sich als das schöpferische Ich entfalten wird – dieses schöpferische Ich, das dann wiederum um dasjenige Glied vermehrt worden sein wird, das wir in diesem Erdenleben zwischen Geburt und Tod entfaltet haben und hinzugefügt haben zu demjenigen, was in der geschilderten Weise aus den früheren Erdenleben zu uns herübergekommen ist. [17]

Zitate:

[1]  GA 108, Seite 96   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[2]  GA 99, Seite 60   (Ausgabe 1962, 172 Seiten)
[3]  GA 239, Seite 39   (Ausgabe 1963, 276 Seiten)
[4]  GA 97, Seite 251   (Ausgabe 1981, 340 Seiten)
[5]  GA 97, Seite 249   (Ausgabe 1981, 340 Seiten)
[6]  GA 94, Seite 156   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)
[7]  GA 94, Seite 155   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)
[8]  GA 94, Seite 156f   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)
[9]  GA 95, Seite 62   (Ausgabe 1978, 164 Seiten)
[10]  GA 34, Seite 405f   (Ausgabe 1960, 627 Seiten)
[11]  GA 95, Seite 65   (Ausgabe 1978, 164 Seiten)
[12]  GA 95, Seite 72   (Ausgabe 1978, 164 Seiten)
[13]  GA 224, Seite 30   (Ausgabe 1966, 232 Seiten)
[14]  GA 224, Seite 21   (Ausgabe 1966, 232 Seiten)
[15]  GA 239, Seite 244f   (Ausgabe 1963, 276 Seiten)
[16]  GA 239, Seite 242f   (Ausgabe 1963, 276 Seiten)
[17]  GA 84, Seite 129ff   (Ausgabe 1961, 291 Seiten)

Quellen:

GA 34:  Lucifer – Gnosis. Grundlegende Aufsätze zur Anthroposophie und Berichte aus den Zeitschriften «Luzifer» und «Lucifer – Gnosis» 1903 – 1908 (1903-1908)
GA 84:  Was wollte das Goetheanum und was soll die Anthroposophie? (1923/1924)
GA 94:  Kosmogonie. Populärer Okkultismus. Das Johannes-Evangelium. Die Theosophie an Hand des Johannes-Evangeliums (1906)
GA 95:  Vor dem Tore der Theosophie (1906)
GA 97:  Das christliche Mysterium (1906/1907)
GA 99:  Die Theosophie des Rosenkreuzers (1907)
GA 108:  Die Beantwortung von Welt- und Lebensfragen durch Anthroposophie (1908/1909)
GA 224:  Die menschliche Seele in ihrem Zusammenhang mit göttlich-geistigen Individualitäten.. Die Verinnerlichung der Jahresfeste (1923)
GA 239:  Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Fünfter Band (1924)