Christus Leben
► Christi Versuchung nach den Evangelien

Soll der Christus die volle Initiation vorleben, so muß er die zwei Seiten vorleben: das Hinuntersteigen in den physischen Leib und den Ätherleib und das Hinaufsteigen in den Makrokosmos. Beide Ereignisse lebt der Christus den Menschen vor. Nur müssen uns, wie das in der ganzen Natur der Christus-Tatsachen liegen muß, diese Ereignisse so entgegentreten, daß beim Heruntersteigen in den physischen Leib und Ätherleib der Christus gefeit ist gegen alle die Anfechtungen, die ihm zwar entgegentreten, die aber abprallen an ihm.

Nun wird im Matthäus-Evangelium geschildert, wie die Christus-Wesenheit wirklich nach der Johannes-Taufe hinuntersteigt in den physischen Leib und Ätherleib. Und die Darstellung dieses Ereignisses ist die Geschichte von den Versuchungen. Wir werden sehen, wie diese Versuchungsszene in allen Einzelheiten die Erlebnisse wiedergibt, die der Mensch überhaupt hat, wenn er in den physischen Leib und den Ätherleib hinuntersteigt. Nicht für sich brauchte er es (zu tun), für die Menschen mußte er es tun. [1]

Was dem Menschen, der eine esoterische Entwickelung anstrebt, als ein schweres Hindernis entgegentritt, das ist, daß – wie es ganz natürlich ist beim Hinuntertauchen in das eigene Innere – in seiner Wesenheit die Unart auftaucht, sich nur immer so recht mit seiner eigenen lieben Persönlichkeit zu beschäftigen. [2] Wenn diese Egoität aufs höchste gespannt wird, kann sie sich umwandeln in den Wunsch: Wenn ich doch nur unabhängig werden könnte von der Umwelt und fähig würde, dasjenige, was mich so sehr meine Abhängigkeit von der Umwelt fühlen läßt, was ich als gewöhnlicher Mensch im physischen Leben nötig habe, mir selber hervorzuzaubern! Diese Versuchung tritt auf. Und bei demjenigen, der sie am höchsten durchzumachen hatte, wird sie so charakterisiert, daß der Versucher, der dem Christus Jesus entgegentritt, ihm sagt, er solle die Steine zu Brot machen. Der zweite Grad tritt auf, nachdem man in seinen astralischen Leib schon eingetaucht ist und sich wirklich gegenübergestellt sieht all diesen Emotionen und Leidenschaften, die einen so recht zu einem paradoxen Egoisten machen könnten. Wenn man sich dem gegenübergestellt fühlt, so möchte man doch sich hinunterstürzen in den Ätherleib und physischen Leib. Das ist in der Tat eine Situation, die als ein Hinunterstürzen in den Abgrund geschildert werden kann. So ist sie auch im Matthäus-Evangelium geschildert: wie ein Hinunterstürzen in das, woran man bis jetzt nicht viel hat verderben können, in den Ätherleib und physischen Leib. Aber man sollte es nicht vor dem Überwinden der Leidenschaften und Emotionen haben. Die Christus-Wesenheit weiß das, und sie entgegnet dem Versucher, indem sie das sich Entgegenstellende durch die eigene Kraft überwindet: «Du sollst die Wesenheit, der du dich übergeben sollst, nicht selbst versuchen!» [3] Und dann die dritte Stufe beim Hinuntersteigen in den physischen Leib ist, daß er sich sozusagen von innen sieht. Da sieht er alles, was in den drei höchsten Eigenschaften ist. Das ist ihm wie eine Welt. Aber zunächst ist es eine Welt, die nur in seiner eigenen Illusion ist, eine Welt, die er nicht als innere Wahrheit sehen kann, wenn er nicht die Hülle des physischen Leibes durchdringt und zu den geistigen Wesenheiten selber aufsteigt, die nicht mehr selbst im physischen Leibe sind, sondern die nur in ihm arbeiten. Wenn wir nicht loskommen von der Egoität, dann ist es noch immer der Versucher der physischen Welt, Luzifer oder Diabolus (da wo von Ahriman die Rede ist, wird das Wort Satan gebraucht. 121.154), der uns über uns selbst täuschen will. Dann verspricht er uns alles, was uns entgegentritt, was aber nichts anderes ist als das Geschöpf unserer eigenen Maya, unserer eigenen Illusion. Wenn uns dieser Geist der Egoität nicht entläßt, dann sehen wir eine ganze Welt, aber eine Welt der Täuschung und Lüge; und er verspricht uns diese Welt. Aber wir dürfen nicht glauben, daß es eine Welt der Wahrheit ist. Wir kommen zunächst in diese Welt; aber wir bleiben in Maya, wenn wir nicht wieder von dieser Welt loskommen. Diese drei Stufen der Versuchung lebt wie in einem Modell, wie in einem Muster, die Christus-Wesenheit der Menschheit vor. Dadurch wird der Impuls gegeben, damit die Menschheit in der Zukunft selber im Fortlauf der Entwickelung so etwas erreichen kann. Das war erreicht, daß nun das Musterbild da war von dem Hinauftragen des Ich für das Reich (der Erde) in die höheren Reiche und höheren Welten. [4]

Zitate:

[1]  GA 123, Seite 143f   (Ausgabe 1959, 264 Seiten)
[2]  GA 123, Seite 161   (Ausgabe 1959, 264 Seiten)
[3]  GA 123, Seite 162ff   (Ausgabe 1959, 264 Seiten)
[4]  GA 123, Seite 164f   (Ausgabe 1959, 264 Seiten)

Quellen:

GA 123:  Das Matthäus-Evangelium (1910)