Ekstase

Die Ekstase, die einen Augenblick den Menschen, wenn wir so sagen dürfen, vergessen läßt, was um uns herum ist an Eindrücken der Sinnenwelt, kann unter gewissen Umständen allerdings den Menschen so weit bringen, daß er neue Erlebnisse hat. Wohlgemerkt es soll durchaus nicht diese Ekstase hier als etwas Erstrebenswertes hingestellt werden. Man darf auch nicht jedes Außer-sich-Sein als eine Ekstase bezeichnen. Denn es ist zweierlei möglich. Das eine ist, daß der Mensch, wenn er die Empfänglichkeit verliert für die äußeren sinnlichen Eindrücke, einfach in einer Art Ohnmachtszustand ist, in dem sich um ihn herum an Stelle der Sinneseindrücke schwarze Dunkelheit ausbreitet. Das ist sogar für den normalen Menschen im Grunde genommen zunächst das beste. Aber es gibt eine Ekstase, durch welche sich dieses Feld schwarzer Dunkelheit sozusagen bevölkert mit einer Welt, die der Mensch früher gar nicht gekannt hat. Nun ist aber dieser ekstatische Zustand mit einem ganz besonderen Nachteil für den normalen Menschen verbunden. Er kann nämlich auf natürliche Weise in diesen ekstatischen Zustand nicht anders kommen als dadurch, daß dasjenige, was er sonst sein Ich nennt, wie ausgelöscht ist. Der Mensch, der in Ekstase ist, ist wirklich wie außer sich, sein Ich ist wie unterdrückt.

Dieses Ich erlebt er niemals im Zustand der Ekstase; er unterscheidet sich in der Ekstase nicht von den Gegenständen. Dadurch bleibt es auch zunächst noch unbestimmt, ob man es mit einer äußeren Wirklichkeit oder mit Blendwerk zu tun hat. Denn im Grunde ist es nur das Ich, das die Entscheidung treffen kann. Die Ekstase zeigt wie sich in sich auflöst der Teppich der Sinneswelt, und daß unser Ich, das wir sonst fühlen, wie wenn es sich stößt an der Haut, an dem Teppich der äußeren Sinneswelt, durchfließt durch die sinnlichen Wahrnehmungen und nun in einer Welt von Bildern lebt, die ihm etwas Neues darstellen. Denn das ist das Charakteristische, daß in der Ekstase der Mensch Wesenheiten und Begebenheiten kennenlernt, die ihm früher unbekannt waren, die er nirgends finden würde, wie weit er auch mit seinem sinnlichen Anschauen und mit dem Kombinieren über die sinnlichen Tatsachen gehen würde. [1]

Wir sind dann, wenn wir in Ekstase sind, wie hineingewachsen in die große Welt, in den Makrokosmos, wo auf Schritt und Tritt irgendwelche phantastische Gestalten vor uns aufsteigen – phantastische Gestalten, weil sie nicht ähnlich sind mit den Dingen in der physischen Welt. Indem sich das Ich hineinergießt in der Ekstase in den Makrokosmos, so können sie sich vorstellen, daß es sich immer schwächer und schwächer fühlt, indem es immer größer und größer wird. Indem es sich hinergießt über den Makrokosmos, verliert es die Fähigkeit, sich selbst wahrzunehmen, wie ein Tropfen sich verliert in einem Bassin. Der Ekstatiker handelt also außer seinem Ich. Er kontrolliert nicht seine Handlungen, er ist wie hingegeben an dasjenige, was die Eindrücke seines Bewußtseins sind. Das ist das Wesentliche der Ekstase, daß der Mensch zu irgendeinem Tun kommt und daß, wenn man einen solchen Menschen, der in der Ekstase handelt, von außen kontrolliert, man ihn wie ausgewechselt findet. Weil dasjenige, was er da sieht, in der Regel eine Vielheit ist, so ist er bald an diese, bald an jene Wesenheit hingegeben und macht den Eindruck einer zerrissenen Wesenheit. Das ist das Charakteristische des Ekstatikers und das ist die Gefahr der Ekstase. [2]

Das andere Extrem der Irrtumsmöglichkeit ist die Ekstase. Die andere Kraft der Seele, die sich durch die oft hier geschilderten Übungen verstärkt, ist die Selbstliebe, der Selbstsinn. Die Selbstliebe hat zu ihrem anderen Pol das «Außersichkommen» – das «In-sich-seinen-Gefallen-Finden» ist nur die eine Seite. Die andere besteht in dem «Sich-an-die-Welt-Verlieren», in dem Sichhingeben und Aufgehen und Sichwohlfühlen in dem anderen, und die entsprechende Verstärkung dieses selbstsüchtigen Außersichkommens ist die Ekstase in ihrem Extrem. Das ist die Herbeiführung eines Zustandes, wobei der Mensch in einer gewissen Beziehung sich sagen kann, er sei von sich losgekommen. Aber er ist nur so von sich losgekommen, daß er in dem Außersichsein eigentlich so recht das Wohlsein seines Selbstes fühlt. Ein großer Teil der Mystik beruht auf der eben charakterisierten Erscheinung. Der wirkliche Geistesforscher, der sich auf der einen Seite hüten muß vor dem Hereintragen der äußeren Sinneswelt in die höheren Welten, er muß sich auf der anderen Seite auch vor dem anderen Extrem hüten, vor der falschen Mystik, dem Außersichkommen. Er darf nie verwechseln die Liebe zum geistigen Wesen der Welt mit Selbstliebe. In dem Augenblick, wo er dies verwechselt, tritt dann – wie der wirkliche Geistesforscher, der sich richtig entwickelt, konstatieren kann – das Folgende ein. Wie der nach dem Phänomenalismus Drängende nur gleichsam die Abfälle, das Sich-Ertötende der geistigen Welt schaut, so sieht der, welcher sich nur dem anderen Extrem hingibt, nicht geistige Tatsachen und Wesenheiten, sondern nur ihre einzelnen Teile. Er macht in der geistigen Welt das, was etwa nicht der macht, welcher die Blumen einer Wiese betrachtet, sondern was derjenige macht, der das, was auf dem Felde wächst, abtrennt, zerteilt, zerkocht und ißt. Der Vergleich ist ja sonderbar, aber durchaus zutreffend. Durch die Ekstase werden die geistigen Tatsachen nicht in ihrer Ganzheit, nicht in ihrer Totalität erfaßt, sondern nur in dem, was der eigenen Seele wohltut und frommt, was sie geistig verzehren kann. Im Grunde genommen ist es ein Verzehren geistiger Substantialität, was sich durch die Ekstase im Menschen ausbildet. Und ebensowenig, wie man die Dinge dieser Sinneswelt in ihrem inneren Wesen dadurch erkennt, daß man sie ißt, ebensowenig erkennt man die Kräfte und Wesenheiten der geistigen Welt dadurch, daß man sich in Ekstase begibt, um nur das eigene Selbst zu durchglühen mit dem, was einem wohltut. Man lebt nur in einem gesteigerten Selbstsinn, in einer gesteigerten Selbstliebe, und weil man aus der geistigen Welt nur das hereinnimmt, was man geistig verzehren kann, macht man sich dessen verlustig, was man nicht so behandeln kann, was außer dem durch die Ekstase zu Genießenden steht. Das ist aber der größte Teil der geistigen Welt. Dadurch verarmt nun der in der Ekstase stehende Mystiker immer mehr und mehr. [3]

Viele Mystiker sind eigentlich nichts anderes als geistige Feinschmecker, und die übrige geistige Welt, die ihnen nicht schmeckt, ist nicht für sie da. So sehen wir, wie der Geistesforscher die beiden Extreme vermeiden muß, die ihm alle möglichen Quellen des Irrtums in den Weg bringen, Phänomenalismus auf der einen Seite, die Ekstase auf der anderen Seite. In einem noch viel höheren Maße als gewöhnlich ist für den Geistesforscher notwendig ein gesunder Tatsachensinn, ein echtes Gefühl für Wahrhaftigkeit. Alle Schwärmerei, alle Ungenauigkeit, die so leicht über das hinweghuscht, was wirklich ist, ist beim Geistesforscher von Übel. Sieht man es schon im gewöhnlichen Leben, so wird es auf dem Gebiete der Geistesschulung sofort klar, daß der, welcher sich nur ein wenig gehenläßt in bezug auf Ungenauigkeit, merken lassen wird, daß von der Ungenauigkeit bis zur Lüge, zur Unwahrhaftigkeit, nur ein ganz kleiner Schritt ist. Daher muß beim Geistesforscher das Bestreben vorliegen, sich verpflichtet zu fühlen, der schon im gewöhnlichen Leben vorhandenen unbedingten Wahrheit in nichts nachzugeben und nichts zu vermischen, denn jedes Vermischen führt in der geistigen Welt von Irrtum zu Irrtum.

Es sollte in denjenigen Kreisen, die irgend etwas mit Geistesforschung zu tun haben wollen, vor allem die berechtigte Meinung sich verbreiten, daß ein äußeres Kennzeichen des wahren Geistesforschers seine Wahrhaftigkeit sein muß, und daß der Geistesforscher in dem Augenblick, wo er zeigt, daß er keine Verpflichtung fühlt, das zu prüfen, was er sagt, sondern Dinge hinspricht, die er über die physische Welt nicht wissen kann, auch brüchig wird als Geistesforscher und nicht mehr ein volles Vertrauen genießen kann. [4]

Zitate:

[1]  GA 119, Seite 36ff   (Ausgabe 1962, 279 Seiten)
[2]  GA 119, Seite 45f   (Ausgabe 1962, 279 Seiten)
[3]  GA 62, Seite 403ff   (Ausgabe 1960, 499 Seiten)
[4]  GA 62, Seite 406f   (Ausgabe 1960, 499 Seiten)

Quellen:

GA 62:  Ergebnisse der Geistesforschung (1912/1913)
GA 119:  Makrokosmos und Mikrokosmos.. Die große und die kleine Welt. Seelenfragen, Lebensfragen, Geistesfragen (1910)