Liebe und Eigenliebe

Von der Liebe wird man leicht glauben, daß das, was ein Mensch für den anderen fühlt, etwas Unpersönliches sei. Aber das braucht noch lange nicht das zu sein, was mit einem Überpersönlichen zu tun hat. Dem Menschen läuft hier eine merkwürdige Illusion unter: Er verwechselt Eigenliebe mit Liebe zum anderen. Die meisten Menschen glauben einen anderen zu lieben, weil sie sich selber in dem anderen lieben. Das Aufgehen in dem anderen ist doch nur etwas, was den eigenen Egoismus befriedigt. Der Betreffende weiß es nicht, braucht es gar nicht zu wissen, aber es ist im Grunde eben doch ein Umweg zur Befriedigung des Egoismus.

Manche Liebe entspringt häufig nur aus Seelenarmut, und Seelenarmut entspringt immer einem verstärkten Egoismus. Und wenn jemand behauptet, daß er ohne einen anderen nicht leben könne, so ist seine eigene Persönlichkeit verarmt, und er sucht nach etwas, das ihn ausfüllt. Er verhüllt das Ganze darin, daß er sagt: Ich werde unpersönlich, ich liebe den anderen. Die schönste, selbstloseste Liebe äußert sich darin, daß man den anderen nicht braucht, daß man ihn auch entbehren kann. Der Mensch liebt dann nicht um seiner selbst, sondern um des anderen willen. Er verliert dann auch nichts, wenn er von dem anderen verlassen wird. [1] Der Mensch hat nämlich nicht bloß die Möglichkeit, in Liebe zu etwas hinzuneigen, sondern die Liebe ist zu gleicher Zeit etwas, was dem Menschen auch subjektiv wohltut. Es ist durchaus im Liebeserlebnis auch geistigster Art immer eine Erhöhung der Egoität gegeben, und dieses Sichhingeben in Liebe in einer bloß abstrakten, wenn auch seelisch-abstrakten Form, das ist etwas, was sehr stark zum Egoismus hinbringt, und das lebt sich ja in unserer Zeit darin aus, daß eigentlich gar nicht mehr in den Menschen stark das objektive Verantwortlichkeitsgefühl vorhanden ist, sondern sehr stark die Menschen neigen zum bloßen subjektiven Verantwortlichkeitsgefühl. Man will verzichten, sich von der Tatsächlichkeit dessen zu überzeugen, was man behauptet. Denken Sie einmal, wie anders der Weg der Menschheit wäre, wenn nicht dieses starke Hinneigen zur Subjektivität eingetreten wäre, die sich immer auf bestes Wissen und Gewissen beruft und sich die Prüfung erspart. [2]

Zitate:

[1]  GA 96, Seite 335f   (Ausgabe 1974, 350 Seiten)
[2]  GA 343, Seite 445f   (Ausgabe 1993, 674 Seiten)

Quellen:

GA 96:  Ursprungsimpulse der Geisteswissenschaft. Christliche Esoterik im Lichte neuer Geist-Erkenntnis (1906/1907)
GA 343:  Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, II. Spirituelles Erkennen – Religiöses Empfinden – Kultisches Handeln (1921)