Bescheidenheit – ein Grunderfordernis für imaginative Erkenntnis

Wird diese Bescheidenheit nicht als eine innere Kraft des seelischen Erlebens durchgreifend ausgebildet, dann liegt allerdings auf dem Wege zur Imagination die Gefahr des menschlichen Größenwahnsinnes, nicht des pathologischen Größenwahn­sinnes, aber des psychologischen, moralischen Größenwahnsinnes. Einen gewissen inneren Halt, der in Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit wurzelt, den muß der Mensch haben, wenn er anstreben will jene Erhöhung und Steigerung der Egoität, welche notwendig ist zur Erreichung der imaginativen Erkenntnis. Im gewöhnlichen Leben und im gewöhnlichen Erkennen sind unsere Begriffe zu blaß, unsere höchsten Ideen gerade zu abstrakt, um aus einer ihnen eigenen vollen Sättigung heraus zum innerlichen Erleben desjenigen zu kommen, was den Menschen eigentlich zur Egoität hindrängt. Dasjenige, was sonst in der Begriffe bildenden, in der Ideen gestaltenden Kraft lebt, das muß erhöht, das muß gesteigert werden. Dann allerdings tritt eine Erfahrung ein, und an dem Eintreten dieser Erfahrung kann eigentlich der zur Imagination Strebende die Richtigkeit seines Strebens ermessen –, dann tritt eine Erfahrung ein: Man hat Übungen gemacht, um die Egoität zu steigern, man hat solche Übungen gemacht, daß die blassen Begriffe und Ideen bis zur Intensität sich erheben, die man erlebt, wenn man ein Sinnesbild durch Augen oder Ohren vor sich hat. Man hat dadurch jene Kraft, die durch ihr Zusammendrängen unsere Besonnenheit, unser Persönlichkeitsgefühl, eben unsere Egoität hervorbringt, man hat diese Kraft gesteigert. Die Erfahrung, die man macht, ist die, daß nun von einem gewissen Punkte aus nicht mehr eine Steigerung der Egoität eintritt, daß von einem gewissen Punkte aus gerade durch die Steigerung der Egoität, gewissermaßen durch das Ankommen der Egoität an einem Kulminationspunkte, diese Egoität eigentlich zerfließt. [1]

Zitate:

[1]  GA 77b, Seite 54f   (Ausgabe 1996, 232 Seiten)

Quellen:

GA 77b:  Kunst und Anthroposophie. Der Goetheanum-Impuls (1921)