Schulung esoterische
► Geistige Wahrnehmungen und deren Eigentümlichkeiten

Der okkulte Aspirant kommt zunächst dazu, denken zu können, ohne sich seines Gehirns zu bedienen. Dasjenige, was dann in der Seele auftritt, das hat eine viel stärkere innere Kraft, eine viel stärkere innere Lebendigkeit als die gewöhnlichen, an den äußeren Gegenständen errungenen Gedanken, und außerdem nimmt es sich wirklich so aus wie etwas, was uns als feine Substantialität überall umgibt. Man kann nicht anders sagen, als daß es sich ausnimmt wie flutendes Licht; nur muß man nicht eben an das Licht denken, welches durch das menschliche Auge, also durch ein äußeres Leibeswerkzeug vermittelt wird, sondern man muß denken, daß dieses sich ausbreitende Substantielle, in welchem man sich zunächst befindet wie in einem wogenden Meere, mehr innerlich empfunden wird, als daß es in irgendeiner Art von Lichtschein oder dergleichen auftreten würde. Es wird innerlich empfunden (es hat den Charakter des Strahlenden, deshalb die Bezeichnung: Licht), daß dem Menschen, wenn er es wirklich empfindet, schon die Vorstellung vergeht, als ob er da etwa in einem Nichts wäre. Dieses Element hat vor allen Dingen eine für alles bisherige Erfahren zunächst recht überraschende Wirkung. Es hat die Wirkung, wie wenn es uns zerreißen und in den ganzen Raum hinausstreuen würde, wie wenn wir zerfließen würden in ihm selber, wie wenn wir uns auflösen würden, den Boden unter den Füßen verlören, die Haltepunkte überall verlören, wo wir sie haben an dem äußeren Materiellen. Das ist es, was da zunächst auftritt. Und in diesem Sich-Fühlen in einem gleichsam in den ganzen Raum hinaussprühenden Elemente hat man das gegeben, was man nennen kann flutendes, fließendes, sich nicht nach außen in irgendeinem Sinne offenbarendes geistiges Licht. Das ist es, was zunächst, was gleichsam als ein inneres Erlebnis ein jeder Aspirant des Okkultismus kennenlernt.

Nun, wenn der Aspirant des Okkultismus dieses Erlebnis zuerst hat und er ist eine schwache Natur, er ist nicht gewöhnt worden im Leben, viel zu denken, dann ist er schon hier gewissermaßen an einer Klippe, denn er kann nicht leicht weiterkommen, wenn er nicht im Leben gelernt hat, viel zu denken. Daher ist jene Vorbereitung da, die lange Übung eines sublimen Verstandes, einer sublimen Urteilskraft. Nicht was wir äußerlich durch diese sublime Urteilskraft, durch diesen sublimen Verstand uns aneignen, sondern die Zucht, die wir uns aneignen, indem wir in schärferer Weise denken lernen, ist es, die uns zugute kommt, wenn wir als Aspiranten des Okkultismus in dieses fließende Element des Lichtes eintreten. Denn es wirken dann gewissermaßen nicht die Gedanken, sondern die Erziehungskräfte unseres eigenen Selbst, welche uns durch die Gedanken(arbeit) gegeben worden sind. Diese wirken fort, und wir haben dann nicht nur um uns ein verfließendes, verborgenes Licht, sondern wir haben die Möglichkeit, daß in diesem fließenden Elemente auftauchen die Gestaltungen, von denen wir wissen, daß uns keine Wahrnehmungen der äußeren Gegenstände diese inneren Gebilde gegeben haben, sondern daß sie auftauchen in dem Elemente, in das wir selber nun eingetaucht sind. Wenn wir eine solche Lage des Lebens erreicht haben, dann verlieren wir uns nicht in diesem fließenden Lichte, sondern erleben darin Gestaltungen von einer viel größeren Lebendigkeit, als sie alle Traumbilder und Visionen haben. Aber zugleich erleben wir diese Bilder so, daß ihnen alles fehlt, was die äußeren Wahrnehmungen auszeichnet. Die Eigenschaften, welche wir nur durch die Sinne wahrnehmen, können wir da nicht finden; aber in verstärktem Maße können wir das finden, was wir sonst nur erleben, wenn wir uns Gedanken machen. Aber diese «Gedanken», die uns überkommen, sind eben nicht bloße Gedanken, die uns überkommen, sondern sind in gewisser Weise in sich befestigte, in sich selbst wesenhaft erscheinende Gebilde. [1] Das ist das erste, was der okkultistische Aspirant erlebt und was immer stärker und stärker auftritt im Verlaufe des okkulten Lebens. Zuerst ist es schwach, zuerst müssen wir uns begnügen mit einigem wenigen, was uns da erlebbar ist. Dann aber wird uns immer mehr und mehr gegeben, dann erfahren wir mehr und mehr, und wir lernen eine Welt kennen, die sich uns darbietet als eine hinter der Sinneswelt gelegene Welt. Alles, was uns fähig macht, die höheren Glieder aus uns herauszutreiben, so daß aus dem Gehirn herausgequetscht wird der Ätherleib, der Astralleib und das Ich, so daß diese fähig werden, im flutenden Lichte zu leben, das haben wir als Erbstück von der Saturn-, Sonnen- und Mondenentwickelung. Das stammt also aus vorirdischer Entwickelungszeit und kann im weiteren Umkreise des Erdendaseins nicht gefunden werden. [2]

Diese vorhergehenden Zustände unserer Erdenbildung, diese Kräfte also, die wirksam sind, solange sich der Mensch nicht seines Gehirnes bedient und seiner äußeren Sinne, diese Kräfte, die wir geerbt haben von Saturn, Sonne und Mond, werden lahmgelegt, werden unterbunden durch das, was die Erde mit ihren Kräften aus dem Gehirn und den Sinnen gemacht hat. Alles das, was wir darin finden können, wenn wir in das flutende Licht eintreten, empfinden wir deshalb nicht so, als ob wir es denken würden. Denn was wir denken, von dem haben wir das Gefühl, daß wir es jetzt denken, aber das, was wir da zunächst erleben, das kommt uns nicht so vor, als wenn wir es jetzt dächten. Die Gebilde erscheinen wie Gedanken, die nur vom Gedächtnisse, von der Erinnerung aufbewahrt sind, wie Gedanken, an die wir uns erinnern können. Jetzt wird es Ihnen auch erklärlich sein, warum wir unseren Verstand ignorieren müssen und genötigt sind, in eine Schärfung des Gedächtnisses einzutreten. Das ist deshalb so, weil wir das Gefühl uns aneignen müssen, daß das, was in dem sich ausbreitenden geistigen Lichtmeere ist, sozusagen Gebilde aufwirft, die man nur wahrnehmen kann wie erinnerte Gebilde. Würde man nicht eine Schärfung des Erinnerungsvermögens durchgemacht haben, so würden sie einem entgehen, und nichts würde wahrnehmbar für den Hellseher werden. Es würde dann so sein, daß er nur ausgebreitet sähe ein inneres flutendes Lichtmeer. Aber die Gebilde, die da wahrgenommen werden, die da wie Erinnerungsvorstellungen auftreten, sind nicht die einzigen; und sie sind sogar die schwächeren. Es wird nämlich etwas wahrgenommen, was mit starker Kraft und Gewalt auf uns wirkt, wovon man sagen könnte – trotzdem man weiß, es ist nur schwimmendes Gedankenlicht, das auf uns wirkt –, daß es uns Schmerz und Lust bereitet, daß es beginnt, man möchte sagen, zu stechen und zu brennen und auch selige Zustände in uns hervorzurufen. Der Okkultist bemerkt von diesen Dingen allerdings nur dann etwas, wenn er vorher etwas gelernt hat, und zwar, wenn er vorher sich bekanntgemacht hat mit den verschiedenen Gedanken der Philosophen. Dann tritt vor sein geistiges Auge die Erkenntnis, daß die wirklichen Gedanken der Philosophen Schattenbilder sind, daß es Abbilder dessen sind, was da als Lebendiges wahrgenommen wird im flutenden Lichte. [3] Von all den wichtigen, großen Gedanken der Philosophen, die jemals in der Welt eine Rolle gespielt haben, kann der Okkultist immer den Ursprung angeben. Diejenigen Kräfte, die da im philosophischen Gehirn wirken, sind also nicht irdische Kräfte; sie sind ein schwacher, matter Abglanz vorirdischer Kräfte. Was nun den Menschen befähigt, über die bloße Erinnerungsvorstellung beim Hellsehen hinauszugehen, und was ihn befähigt, noch etwas hineinzuwerfen in das physische Bewußtsein als Philosophie, das rührt davon her, daß in das menschliche Gehirn hineinwirkt, bildend eine neue Kraft, die genau dieselbe Geisteskraft ist, welche in der mosaischen Urkunde Jahve benannt wird, und welche ebenso ein zurückgeworfenes Geisteslicht ist, wie das Mondenlicht in physischer Beziehung ein zurückgeworfenes Sonnenlicht ist. Jene Inspiration, und es ist eine Inspiration, welche dem Menschen geboten wird nicht durch seine eigenen Kräfte, sondern von außen herein, befähigt ihn, aufzusteigen zu einer Welterkenntnis, die als die philosophische bezeichnet werden kann. Als Philosoph ist man unbewußt hellseherisch, das heißt man lebt in Schattenbildern von hellseherischen Zuständen, ohne daß man etwas von dem Hellsehertum weiß. [4] Wenn der Philosoph bei seiner Philosophie bleibt, ist es ganz unmöglich, etwas anderes zu finden als den neutralen Weltengott, niemals aber einen Christus. Es gibt keine sich selbst verstehende Philosophie, welche die Christus-Idee haben kann. [5]

Ganz leise, zunächst kaum wahrnehmbar, tritt das zweite Erlebnis auf. Es tritt so auf, daß es in der Tat viele Hellseher gibt, die das erste Erlebnis, das eben charakterisiert worden ist, lange schon haben und bezüglich des zweiten kaum verstehen, was es ist. Während das flutende Licht etwas ist, was uns so vorkommt, als ob wir in demselben auseinanderfließen würden, als ob wir uns verbreiten würden in dem Weltenraume, erscheint uns das, was das unaussprechliche Wort genannt werden kann, im Beginne so, wie wenn gleichsam von allen Seiten uns etwas entgegenkäme. In demselben Maße, in dem wir uns verbreiten über die ganze Welt, ist es so, als ob uns etwas entgegenkäme, als ob etwas von allen Seiten sich uns näherte, während wir auf der anderen Seite zerfließen. Und in der Tat, dieses Zerfließen ist für den Menschen, der es erlebt und sich noch nicht so recht hineinfinden kann, mit argen Furchtzuständen begleitet. Es kommt uns gleichsam von außen etwas wie eine Weltenhaut entgegen, die sich uns nähert, und wir können nicht anders sagen als: Dieses Annähern einer Weltenhaut ist so, wie wenn zunächst in einer uns schwer verständlichen Sprache, wie nirgends auf der Erde, gesprochen wird. Wenn wir vom Worte alles dasjenige wegnehmen, was als äußerer Laut damit verknüpft ist, dann bekommen wir allmählich eine Vorstellung davon, was uns da als sinnvolles Weltentönen entgegenrückt von allen Seiten. Schwach ist es anfangs, und nur mit zunehmender Kraft des okkulten Lernens und der okkulten Selbstzucht wird dieses Wahrnehmen einer geistigen Welt immer stärker und stärker. Wir haben dann als Hellseher ein sehr merkwürdiges Gefühl, wenn wir so herankommen sehen von allen Seiten etwas wie eine Weltenhaut; nicht wie eine äußere Weltenhaut, sondern etwas, was wie Töne herandringt. Dann haben wir eine sehr eigentümliche Empfindung; und daß wir diese haben, ist ein Zeichen, daß wir auf dem richtigen Wege sind. Wir haben die Empfindung: Ja, eigentlich ist das erst unser eigenes Selbst, eigentlich ist das erst der richtige Mensch, der uns da entgegenkommt. Wir sind nur scheinbar in die Haut eingeschlossen, wenn wir im physischen Leibe leben. In Wahrheit füllt unser ganzes Wesen die Welt aus und es kommt uns von allen Seiten etwas entgegen. [6] Damit der Mensch das wahrnehmen kann, was jetzt mit dem Worte «unaussprechliches Wort» belegt worden ist, muß nicht nur aus seinem Gehirn das herausgequetscht werden, was seine höheren Seelenglieder sind, sondern auch aus seinem Herzen. Das was das Herz befähigt, herauszuquetschen diese höheren übersinnlichen Glieder, so daß der Mensch lernt, ein Seelenleben zu entfalten, das nicht an das Instrument seines Herzens gebunden ist, das hängt mit einem höheren Herzorganismus zusammen. [7]

In der geistigen Welt müssen wir durch unser Denken, durch unser Vorstellen tatsächlich die Dinge erst an uns, an den ruhenden Punkt in uns herantragen. Wir müssen gleichsam aus uns herausgehen, in die Dinge hinein uns begeben, und dann von außen die Dinge zu uns heranbringen. Dabei machen wir dann Erfahrungen, welche beängstigend sein können für die menschliche Seele. Wir entdecken, daß wir im gewöhnlichen Leben auf dem physischen Plan die Dinge ändern können, daß wir uns selber verbessern können, wenn wir die Dinge falsch sehen oder falsch machen. Alles dieses ist auf dem geistigen Plan nicht mehr der Fall. Vielmehr müssen wir auf dem geistigen Plan erfahren, daß uns die Dinge wahr oder falsch erscheinen je nachdem, was schon in uns war in dem Augenblicke, in welchem wir uns an den Geistesplan heranbegeben. Alle Vorbereitung zum richtigen Erkennen der geistigen Welten muß daher in die Zeit vor dem Eintreten in die geistige Welt fallen; denn ist man einmal durch das Tor in die geistige Welt eingetreten, so kann man nicht mehr das darin Geschaute korrigieren, sondern macht die Fehler, die man nach seinen Charaktereigenschaften machen muß. Und um gewisse Fehler, die man dann gemacht hat, ferner zu vermeiden, muß man wieder zurückkommen auf den physischen Plan und auf dem physischen Plan seine Eigenschaften verbessern, und dann zurückkehren in die geistige Welt, um es nun besser zu machen. Gegenwärtig muß der Mensch sich vor einem zu starken Auftreten einer visionären Schau beim Eintreten in die geistige Welt mehr fürchten, als sie willkommen heißen. Es können, wenn wir unsere Übungen beginnen zum Aufsteigen in die höheren Welten, visionäre Erscheinungen, visionäre Tatsachen auf den Menschen eindringen. Und es gibt nur eine einzige Möglichkeit in der gegenwärtigen Zeit, gegenüber der visionären Welt den Irrtum zu vermeiden. Diese einzige Möglichkeit ist die Notwendigkeit, von seinen Visionen zuerst sich zu sagen, man erkennt durch diese Visionen zunächst nichts anderes als sich selber. Wenn eine ganze visionäre Welt um uns herum auftritt, so braucht diese nichts anderes zu sein als eine Spiegelung unseres eigenen Wesens. Unsere Eigenschaften, unsere eigene Reife, alles dasjenige, was wir denken und fühlen, verwandelt sich in der visionären Welt in Tatsachen, die für uns wie eine objektive Welt aussehen. Wenn wir zum Beispiel glauben, in der astralischen Welt Wesenheiten oder Vorgänge zu sehen, die uns völlig objektiv erscheinen, so braucht das nichts anderes zu sein als eine Spiegelung, sagen wir zum Beispiel, irgendeiner unserer Tugenden oder Untugenden oder auch nur unseres Kopfschmerzes. Derjenige, der zur wirklichen Initiation aufsteigen will, muß insbesondere heute dazu gelangen, das, was ihm in der visionären Welt entgegentritt, denkend zu begreifen, denkend zu durchdringen. Der zu Initiierende wird daher nicht eher ruhen, als bis er dasjenige, was ihm in der visionären Welt entgegentritt, so begriffen hat wie das, was ihm in der physischen Welt entgegentritt. [8]

Zitate:

[1]  GA 137, Seite 49ff   (Ausgabe 1973, 216 Seiten)
[2]  GA 137, Seite 51f   (Ausgabe 1973, 216 Seiten)
[3]  GA 137, Seite 53f   (Ausgabe 1973, 216 Seiten)
[4]  GA 137, Seite 55ff   (Ausgabe 1973, 216 Seiten)
[5]  GA 137, Seite 58   (Ausgabe 1973, 216 Seiten)
[6]  GA 137, Seite 58f   (Ausgabe 1973, 216 Seiten)
[7]  GA 137, Seite 60   (Ausgabe 1973, 216 Seiten)
[8]  GA 140, Seite 10f   (Ausgabe 1980, 374 Seiten)

Quellen:

GA 137:  Der Mensch im Lichte von Okkultismus, Theosophie und Philosophie (1912)
GA 140:  Okkulte Untersuchungen über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt. Die lebendige Wechselwirkung zwischen Lebenden und Toten (1912/1913)