Arabismus

Der Arabismus ist nach der einen Seite seines Wesens eine verfrühte Entfaltung der Bewußtseinsseele. Süd- und Westeuropa bekamen im 7., 8. Jahrhundert geistige Impulse, die erst im Zeitalter der Bewußtseinsseele hätten kommen dürfen. Diese geistige Welle konnte das Intellektuelle im Menschen wecken, nicht aber das tiefere Erleben, durch das die Seele in die Geist-Welt taucht. Er brachte – verfrüht – den Intellekt zur Wirksamkeit, der nur die äußere Natur fassen konnte. Und dieser Arabismus erwies sich als sehr mächtig. Wer von ihm erfaßt wurde, in dem begann ein innerer – zum großen Teile ganz unbewußter – Hochmut die Seele zu ergreifen. Er empfand die Macht des Intellektualismus; aber er empfand nicht das Unvermögen des bloßen Intellektes, in die Wirklichkeit einzudringen. [1]

In Asien, wo des Aristoteles Anschauungen Verbreitung fanden (siehe: Akademie von Gondishapur), entsteht das Bestreben, die semitischen Religionsimpulse in den Ideen des griechischen Denkers zum Ausdrucke zu bringen. Das verpflanzt sich dann auf europäischen Boden und tritt ein in das europäische Geistesleben durch Denker wie Averroes, Maimonides und andere. [2] Und es ist eine merkwürdige Erscheinung, wenn wir sehen, daß die Araber, die anfangs ganz Spanien in Besitz nahmen, bald äußerlich besiegt wurden in der Schlacht bei Poitiers 732 durch die Franken unter Karl Martell. Damit siegte äußerlich die physische Kraft der Franken über die physische Kraft der Mauren. Aber unbesiegbar bleibt die geistige Kraft der Araber, und so wie einst die griechische Bildung erobernd in Rom auftritt so erobert sich die arabische Bildung (die Wissenschaft des Westens), den siegreichen Germanen(völker) gegenüber. Wenn nun die Wissenschaft, die man braucht, um den Gesichtskreis für Handel und Weltverkehr auszubreiten, wenn die Städtekultur entsteht, so sehen wir, daß es arabische Einflüsse sind, die hier sich geltend machen. [3]

Ohne die materielle Kulturblüte, die sich an der Peripherie des Römischen Reiches (während dessen allmählichen Niederstieges) bildete, wäre es unmöglich gewesen, daß später, als der Mohammedanismus aufblühte, als das Arabertum sich geltend machte in der geschichtlichen Entwickelung, dieses einen großen Teil der Welt für sich in Anspruch nehmen konnte. Das, was die Araber erreicht haben, die dann die Feinde Europas wurden, in Spanien, in Sizilien, vom Oriente her, das mußte wurzeln in einem Reichtum, in glänzenden materiellen Verhältnissen. Man glaubt gar nicht, wieviel von dem, was die Araber zum Teil durch die griechische Bildung, die sie selbst erst übernommen hatten, die sie mit ihrem eigenen Wesen verwoben hatten, auf das europäische Abendland eingewirkt hat. Man geht ganz fehl, wenn man glaubt, daß nur die eine, christliche Strömung sich im Abendland ausgebreitet hat; geistig hat sich ganz wesentlich das, was von den Arabern gekommen ist im Abendlande ausgebreitet. Die Denkweise, die Art des Vorstellens ist vom Arabertum tief eingedrungen in die europäischen Verhältnisse. In dem, was der heutige Mensch – ich meine jetzt nicht den geisteswissenschaftlich angekränkelten Menschen, sondern den Menschen der allgemeinen Bildung – über Schicksal, über Naturordnung, über das Leben überhaupt denkt, darin stecken bis in den Bauernkopf hinein die mannigfaltigsten arabischen Gedanken. Und wenn Sie vieles von dem, was heute die Köpfe beherrscht, nehmen, so finden Sie schon, daß arabische Gedanken darinnen sind. Als besonders charakteristisch kann man aufstellen, daß diese arabische Denkungsweise zuerst einmal spitzfindig ist, abstrakt ist, das Konkrete nicht gern hat, daher am liebsten alle Welt- und Naturverhältnisse in Abstraktionen betrachtet. Daneben ist eine, man kann nicht bloß sagen blühende, sondern wollüstige Phantasieentwickelung. Denken Sie nur einmal, was neben der nüchternen, abstrakten Denkweise, die sich sogar im Künstlerischen zeigt im Arabertum, was sich da an Phantasie entwickelt über eine Art Paradies, über eine Art Jenseits mit all den aus dem Sinnlichen in dieses Jenseits hineinversetzten Freuden. Man glaubt gar nicht, wieviel eigentlich in Europa dem Türkentum nahesteht, der mohammedanischen Kultur nahesteht in den Gedanken, die der Europäer über Leben, Schicksal und so weiter hat. [4]

Vor dem letzten Impulse zum rein mechanischen, zum rein äußerlichen Denken, mußte der Christus erscheinen, da noch konnte die religiös spirituelle Strömung als eine Glaubensströmung gerettet werden. Und dann konnte der letzte Impuls gegeben werden, der das Denken des Menschen herunterstieß in den tiefsten Punkt, so daß die Gedanken ganz gefesselt, gebannt wurden an das physische Leben. Das wurde durch die Araber und Mohammedaner gegeben. Der Mohammedanismus ist nichts anderes als eine besondere Episode in diesem Arabertum, denn in seinem Herüberziehen nach Europa gibt er den letzten Einfluß in das rein logische Denken, das sich nicht erheben kann zu Höherem, Geistigem. Durch den Zusammenstoß des Arabismus mit dem Europäertum, das aber schon in sich das Christentum aufgenommen hat, sehen wir, wie die moderne Wissenschaft erst veranlagt wird. [5] Erst in der Zeit der Renaissance wacht die Wissenschaft wieder auf. Was von Griechenland und Rom angeregt war, das wird zur arabischen Weisheit, zum Geist des Mohammedanismus. Der Arabismus hat sich dann von Spanien aus über Europa ausgebreitet. Groß ist diese Wissenschaft in allem, was sich auf das unmittelbar Sinnliche bezieht. Die Wissenschaft, die im eminentesten Sinne Anregung geworden ist zur europäischen Wissenschaft, die Bacon und Spinoza beeinflußt hat, sie entspringt dem spanischen Arabertum, sie kommt aus Spanien, Sie kann aber nicht hinaufsteigen über einen Pantheismus hinaus, der gar nicht zu konkreten Geistwesen kommen kann. Zum Konkreten kam der Arabismus nicht; er stieg bis zum sinnlichen Menschen hinauf, aber das, was man darüber sah, war nur eine abstrakte göttliche Einheit, von der man nicht weiß, was sie ist. Eine arme und bequeme Weltanschauung! Man hat eben keine Kenntnis vom Geist, wenn man ihn zusammenfaßt in einer Einheit. Darin liegt die Armut des Pantheismus. [6]

Da wir sehen, wie dasjenige, was, nachdem das erste Drittel des 19. Jahrhunderts abgelaufen war, eingetreten ist besonders innerhalb des deutschen Geisteslebens, sich radikal unterscheidet von demjenigen, was früher Grundton, Grundcharakter dieses Geisteslebens war, so fragen wir nach dem Ursprung. Wir sehen in diesen letzten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts Persönlichkeiten auftauchen, deren Individualitäten wir gedrängt sind zurückzuverfolgen in ihre früheren Erdenleben. Der Blick desjenigen, der solche Forschungen anstellen kann, wird zunächst zurückgelenkt aus dem allgemeinen Charakter unseres Zeitalters nicht eigentlich auf christliche Vorleben der in ihr auftretenden Persönlichkeiten, sondern auf den Mohammedanismus, auf den Arabismus. [7] Nun wissen wir ja, daß in äußerlicher Weise unter dem Stoße des Mohammedanismus sich verbreitete der Arabismus über Afrika, Südeuropa, über Spanien nach Europa hinein. Man redet ja gewöhnlich von der Schlacht des Karl Martell bei (zwischen) Tours und Poitiers so, als ob damit der Arabismus aus Europa verdrängt worden wäre. Aber im Arabismus war eine ungeheure geistige Stoßkraft. Und das Merkwürdige ist, daß, als der Arabismus äußerlich als politische, als kriegerische Macht sozusagen zurückgeschlagen worden war aus Europa, daß da die Seelen derer, die innerhalb des Arabismus tonangebend gewirkt haben, nachdem sie durch die Pforte des Todes gegangen waren, in der geistigen Welt sich intensiv damit beschäftigt haben, wie sie weitergestalten können für Europa den Einfluß des Arabismus. [8] Die Seelen die im Arabismus groß gewesen waren, erschienen wieder, und sie trugen eben, ohne daß sie seine äußeren Formen herübergetragen hätten, den Arabismus in seinen inneren Impulsen in eine viel spätere Zeit hinein. Und so sehen wir denn, daß gerade diejenige Geistesströmung, die heraufgekommen ist als die tonangebende in den zwei letzten Dritteln des 19. Jahrhunderts, tief beeinflußt war von solchen Geistern, welche aus dem Arabismus hervorgegangen sind. [9] Denn tatsächlich, das ist das Geheimnis für die sonderbare Entwickelung des naturwissenschaflichen Denkens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, daß fast sämtliche Träger dieser mehr ursprünglich denkenden und fühlenden naturwissenschaftlichen Strömung in ihrem vorigen Erdenleben Araber waren. [10]

In unserer Zeit kehren zurück in Europa gewisse Stimmungen, die karmisch zusammenhängen mit dem 9. Jahrhundert der europäischen Entwickelung. Wie damals zurückgestaut worden ist die spirituelle Welt nach Osten, so muß sie jetzt wiederum dem physischen Plan einverleibt werden. [11]

Zitate:

[1]  GA 26, Seite 245f   (Ausgabe 1976, 270 Seiten)
[2]  GA 18, Seite 89   (Ausgabe 1955, 688 Seiten)
[3]  GA 51, Seite 133   (Ausgabe 1983, 360 Seiten)
[4]  GA 180, Seite 285ff   (Ausgabe 1980, 351 Seiten)
[5]  GA 105, Seite 193f   (Ausgabe 1983, 208 Seiten)
[6]  GA 104a, Seite 91   (Ausgabe 1991, 144 Seiten)
[7]  GA 240, Seite 104   (Ausgabe 1986, 320 Seiten)
[8]  GA 240, Seite 106   (Ausgabe 1986, 320 Seiten)
[9]  GA 240, Seite 107   (Ausgabe 1986, 320 Seiten)
[10]  GA 235, Seite 138   (Ausgabe 1984, 228 Seiten)
[11]  GA 292, Seite 268   (Ausgabe 1981, 1174 Seiten)

Quellen:

GA 18:  Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt (1914)
GA 26:  Anthroposophische Leitsätze. Der Erkenntnisweg der Anthroposophie – Das Michael-Mysterium (1924/1925)
GA 51:  Über Philosophie, Geschichte und Literatur. Darstellungen an der «Arbeiterbildungsschule» und der «Freien Hochschule» in Berlin (1901/1905)
GA 104a:  Aus der Bilderschrift der Apokalypse des Johannes (1907/1909)
GA 105:  Welt, Erde und Mensch, deren Wesen und Entwickelung sowie ihre Spiegelung in dem Zusammenhang zwischen ägyptischem Mythos und gegenwärtiger Kultur (1908)
GA 180:  Mysterienwahrheiten und Weihnachtsimpulse. Alte Mythen und ihre Bedeutung (1917/1918)
GA 235:  Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Erster Band (1924)
GA 240:  Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Sechster Band (1924)
GA 292:  Kunstgeschichte als Abbild innerer geistiger Impulse (1915/1916)