Fichte, Johann Gottlieb

Die Menschen haben seit der Ausbreitung der reinen Sinneswissenschaft im Abendland das Bewußtsein und auch die Fähigkeit der Beobachtung auf diesem höheren seelischen und geistigen Gebiete zum großen Teil verloren. Es ist nur auf eng begrenzte Kreise beschränkt geblieben. Der letzte, der noch auf dem Katheder gesprochen hat von diesen höheren Gebieten menschlicher Beobachtung ist Johann Gottlieb Fichte. [1]

Johann Gottlieb Fichte wird man bei oberflächlicher Betrachtung ganz und gar als einen bloßen spekulativen Kopf ansehen, als intellektuellen Gedanken-menschen. Von einer astralischen oder mentalen Welt hat Fichte keine Erfahrung. Dem Inhalte seiner Philosophie nach, hat er es nur mit solchen Ideen zu tun, welche zu der physischen Welt gehören. – Ganz anders aber stellt sich die Sache dar, wenn man auf seine Behandlungsweise der Gedankenwelt sieht. Diese Behandlungsweise ist keineswegs eine bloß spekulative. Sie ist vielmehr eine solche, die vollständig der okkulten Erfahrung entspricht. Fichte betrachtet nur die auf die physische Welt bezüglichen Gedanken; aber er betrachtet diese so, wie sie ein Okkultist betrachtet. Daher kommt es, daß er selbst durchaus das Bewußtsein hat, ein Leben in höheren Welten zu führen. Man sehe nur, wie er sich in den Vorlesungen, die er 1813 in Berlin gehalten hat, selbst darüber ausspricht: «Denke man eine Welt von Blindgeborenen denen darum allein die Dinge und ihre Verhältnisse bekannt sind, die durch den Sinn der Betastung existieren. Tretet unter diese und redet ihnen von Farben und den andern Verhältnissen, die nur durch das Licht für das Sehen vorhanden sind. Entweder ihr redet ihnen von nichts, und das ist das Glücklichere, wenn sie es sagen; denn auf diese Weise werdet ihr bald den Fehler bemerken und, falls ihr ihnen nicht die Augen zu öffnen vermögt, das vergebliche Reden einstellen. Oder sie wollen aus irgendeinem Grunde eurer Lehre doch einen Verstand geben: so können sie dieselbe nur verstehen von dem, was ihnen durch die Betastung bekannt ist: sie werden das Licht und die Farben und die andern Verhältnisse der Sichtbarkeit fühlen wollen, zu fühlen vermeinen, innerhalb des Gefühles irgend etwas sich erkünsteln und anlügen, was sie Farbe nennen. Dann mißverstehen, verdrehen, mißdeuten sie.» Ein anderes Mal spricht Fichte es unmittelbar aus, daß für ihn seine Weltbetrachtung nicht bloß eine Spekulation über dasjenige ist, was die gewöhnlichen Sinne geben, sondern daß ein höherer, über diese hinausreichender Sinn dazu notwendig ist: «Der neue Sinn ist demnach der Sinn für den Geist; der, für den nur Geist ist und durchaus nichts anderes, und dem auch das Andere, das gegebene Sein, annimmt die Form des Geistes und sich darein verwandelt, dem darum das Sein in seiner eigenen Form in der Tat verschwunden ist… Es ist mit diesem Sinne gesehen worden, seitdem Menschen da sind, und alles Große und Treffliche, was in der Welt ist und welches allein die Menschheit bestehen macht, stammt aus den Gesichten dieses Sinnes. Daß aber dieser Sinn sich selbst gesehen haben sollte und in seinem Unterschiede und Gegensatze mit dem andern gewöhnlichen Sinne, war nicht der Fall. Die Eindrücke der beiden Sinne verschmolzen, das Leben zerfiel ohne Einigungsband in diese zwei Hälften.» Diese letzten Worte sind überaus charakteristisch für die Weltstellung Fichtes in dem Geistesleben. Für das bloß äußerliche (exoterische) philosophische Streben des Abendlandes ist es tatsächlich richtig, daß der Sinn, von dem Fichte spricht, sich «nicht selbst gesehen hat». In allen mystischen Strömungen des Geisteslebens, die auf okkulter Erfahrung und esoterischer Betrachtung beruhen, kommt er zwar deutlich zur Sprache; allein deren tiefere Grundlage war ja, wie oben bereits ausgeführt worden ist, zu Fichtes Zeit für die tonangebende literarische und gelehrte Diskussion unbekannt. Für die Ausdrucksmittel der damaligen deutschen Philosophie war in der Tat Fichte der Pfadfinder und Entdecker dieses höheren Sinnes. Davon kam es, daß er etwas ganz anderes an den Ausgangspunkt seines Nachdenkens stellte als andere Philosophen. Er verlangte als Lehrer von seinen Zuhörern und als Schriftsteller von seinen Lesern, daß sie vor allem eine innere Tat der Seele vollziehen sollten. Nicht eine Erkenntnis von irgend etwas außer ihnen Bestehendem wollte er ihnen vermitteln, sondern die Forderung stellte er an sie, eine innere Handlung auszuführen. Und durch diese innere Handlung sollten sie das wahre Licht des Selbstbewußtseins in sich entzünden. Er ging wie die meisten Philosophen seiner Zeit von der Kantschen Philosophie aus. Daher drückte er sich in der Form der Kantschen Terminologie, ebenso wie auch in seinen reifen Jahren, aus. Doch überflügelte er in Bezug auf die Höhe des inneren, geistigen Lebens gleich Schiller die Kantsche Philosophie sehr weit. Wenn man den Versuch macht, aus der schwierigen philosophischen Ausdrucksweise in eine populärere Form das zu übersetzen, was Fichte von seinen Zuhörern und Lesern forderte, so mag sich dieses etwa folgendermaßen gestalten. [2] Ein jedes Ding und eine jede Tatsache, die von dem Menschen wahrgenommen wird, drängt diesem das Sein auf. Es ist ohne das Zutun des Menschen, soweit dessen tiefstes Innere in Betracht kommt, da. Der Tisch, die Blume, der Hund, eine Lichterscheinung und so weiter sind durch etwas dem Menschen Fremdes da; und diesem kommt nur zu, die Existenz festzustellen, welche ohne ihn zustande gekommen ist. Anders ist das für Fichte bei dem «Ich» des Menschen. Dasselbe ist nur da, insofern es sich durch seine eigene Tätigkeit das Sein selbst beilegt. Daher bedeutet der Satz «Ich bin» etwas ganz anderes als jeder andere Satz. Daß man sich dieses Selbstschöpferische zum Bewußtsein bringe, forderte Fichte für den Ausgangspunkt einer jeglichen geistigen Weltbetrachtung. Bei jeder andern Erkenntnis kann der Mensch bloß empfangend sein beim «Ich» muß er Schöpfer sein. Und er kann sein «Ich» nur wahrnehmen, indem er sich als den Schöpfer dieses Ich anschaut. So verlangt Fichte eine ganz andere Betrachtungsart für das «Ich» als für alle andern Dinge. Und er ist in dieser Forderung so streng wie möglich. Sagt er doch einmal: «Die meisten Menschen würden leichter dahin zu bringen sein, sich für ein Stück Lava im Monde als für ein Ich zu halten. Wer hierüber noch nicht einig mit sich selbst ist, der versteht keine gründliche Philosophie, und er bedarf keine. Die Natur, deren Maschine er ist, wird ihn schon ohne all sein Zutun in allen Geschäften leiten, die er auszuführen hat. Zum Philosophieren gehört Selbständigkeit, und diese kann man sich nur selbst geben. Wir sollen nicht ohne Auge sehen wollen; aber wir sollen auch nicht behaupten, daß das Auge sehe.» Es ist damit ganz scharf die Grenze bezeichnet, wo das gewöhnliche Erleben aufhört und das okkulte beginnt. Das gewöhnliche Wahrnehmen und Erleben reicht genau so weit, als objektiv dem Menschen die Wahrnehmungsorgane eingebaut sind. Das okkulte beginnt da, wo der Mensch anfängt, sich selbst durch die in ihm liegenden schlummernden Kräfte höhere Wahrnehmungsorgane aufzubauen. Innerhalb des gewöhnlichen Erlebens vermag sich der Mensch nur als Geschöpf zu fühlen. Beginnt er, sich als Schöpfer seiner Wesenheit zu fühlen, so betritt er das Gebiet des sogenannten okkulten Lebens. Die Art, wie Fichte das «Ich bin» charakterisiert, ist durchaus im Sinne des Okkultismus. Wenn er auch im Felde des reinen Gedankens verbleibt, so ist doch seine Betrachtung keine bloße Spekulation, sondern wahres inneres Erlebnis. Fichte führt das Denken bis zu dem Gipfel, von dem aus der Eintritt in das Land des Okkultismus vollzogen werden kann. Und die Vorbereitung, welche man durch ihn erlangt, ist die denkbar reinste. Denn sie hebt völlig über das Gebiet der Sinnesempfindung und über den Bereich dessen hinweg, was aus der Wunsch- und Begierdennatur des Menschen [aus seinem Astralleib] stammt. Man lernt durch Fichte leben und sich bewegen in dem ganz reinen Elemente des Denkens. Man behält nichts von der physischen Welt in der Seele, als was dieser physischen Welt aus höheren Regionen eingepflanzt ist, nämlich die Gedanken. Und diese bilden eine bessere Brücke zu den spirituellen Erlebnissen, als die Ausbildung anderer psychischer Fähigkeiten. Denn der Gedanke ist überall derselbe, ob er nun in der physischen, astralischen oder mentalen Welt auftritt. Nur sein Inhalt ist in jeder dieser Welten ein anderer. Und die übersinnlichen Welten bleiben dem Menschen nur so lange verborgen, als er aus seinen Gedanken den sinnlichen Inhalt nicht ganz entfernen kann. Wird der Gedanke sinnlichkeitfrei, dann ist nur noch ein Schritt zu vollziehen, und die übersinnliche Welt kann beschritten werden. [3] Fichte suchte das volle Leben des Ich, des schaffenden, wirkenden Ich, aber auch des gotterfüllten Ich in der Menschenseele zu erfassen. Damit versuchte er, den Anschluß des inneren menschlichen Lebens an das ganze kosmische Leben zu erfühlen. Und aus diesem Enthusiasmus heraus sprach er. Es ist nur zu erklärlich, daß gerade ein solcher Geistvorstoß vielfach Anstoß erregte. Nicht wahr, aus dem Konkreten der Geisteswissenschaft heraus konnte Fichte noch nicht sprechen, dazu war die Zeit noch nicht reif. Man möchte sagen, wie in abstrakten, umfassenden Begriffen suchte Fichte das Gefühl lebendig zu machen, das dann durch die Eindrücke der Geisteswissenschaft im Menschen belebt werden kann. [4]

Als Beispiel für eine regelmäßige Entwicklung einer Individualität können wir betrachten einen Zeitgenossen von Jesus, Philo von Alexandrien. Seine Individualität kam wieder als Spinoza dann als Johann Gottlieb Fichte. Wir haben hier also eine durchgehende Individualität in drei Persönlichkeiten. Liest man Fichte ohne Kenntnis dieser Vorgänge, so versteht man ihn nur wenig. Mit dieser Kenntnis aber findet man, daß seine Worte mit Feuerschrift geschrieben sind. Alle diese großen Geister haben eine regelmäßige Entwicklung durchgemacht. [5]

Zitate:

[1]  GA 53, Seite 48   (Ausgabe 1981, 508 Seiten)
[2]  GA 35, Seite 52ff   (Ausgabe 1965, 484 Seiten)
[3]  GA 35, Seite 55ff   (Ausgabe 1965, 484 Seiten)
[4]  GA 273, Seite 60   (Ausgabe 1981, 286 Seiten)
[5]  GA 88, Seite 184   (Ausgabe 1999, 256 Seiten)

Quellen:

GA 35:  Philosophie und Anthroposophie (1904-1923)
GA 53:  Ursprung und Ziel des Menschen. Grundbegriffe der Geisteswissenschaft (1904/1905)
GA 88:  Über die astrale Welt und das Devachan (1903-1904)
GA 273:  Geisteswissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes «Faust» Band II: Das Faust-Problem. Die romantische und die klassische Walpurgisnacht (1916-1919)