Schiller

Schiller hat aus seiner Begeisterung heraus der Welt viel zu sagen gehabt. Er ist unter merkwürdigen Umständen gestorben. Aber man hat ihn doch seziert und sein Herz gefunden. Es war ein leerer Beutel, ganz vertrocknet, verbrannt. [1] Schiller wird von vornherein in einen Lebenszusammenhang hineingestellt, der eine fortwährende Disharmonie zeigt zwischen seinem Seelisch-Geistigen und seinem Körperlich-Physischen. Er hat durchaus nicht die harmonische Kopfbildung wie Goethe. Er ist eigentlich häßlich, nur geistvoll häßlich, aber doch eigentlich häßlich. Aber es liegt eine starke, persönlich-kraftvolle Haltung auch in seiner Physiognomie, was ja insbesondere in der Nasenbildung zum Ausdruck kommt. Schiller ist nicht eine Sitzgröße (wie Goethe), sondern er hat lange Beine. Alles dagegen, was zwischen Kopf und Gliedmaßen liegt, worin die Ursachen der Zirkulation und der Atmung liegen, ist bei ihm wirklich krank, kümmerlich von Anfang an ausgebildet, und er leidet sein ganzes Leben hindurch, zuerst mit größeren Pausen, dann aber fast unaufhörlich an Krämpfen. Es kann der Mensch durch besondere Bedingungen, die sich für ihn beim Herabsteigen aus der geistigen Welt in die physische ergeben, in die Lage kommen, daß er das, was karmisch auf ihm lastet, nicht immer ganz ausleben kann. Immer nun, wenn man nötig hat, so sein Karma auszusetzen, entstehen krampfartige Erscheinungen im Leben. Goethe hat es im Grunde genommen leicht, seine großen Schöpfungen zu vollbringen; denn sie sind das Ergebnis seines Karma. Schiller hat es immer schwer, seine großen Schöpfungen zustande zu bringen; er muß gegen das Karma anstürmen, und die Art, wie er anstürmt, wird sich erst wieder im folgenden Erdenleben ausleben. [2] Wenn wir das Schillersche Leben betrachten, so stellen sich vor allen Dingen zwei Erscheinungen in dieses Leben hinein, die ganz merkwürdig sind. Es gibt von Schiller ein unvollendetes, bloß entworfenes Drama, die «Malteser». Man sieht dem Konzept, dem Entwurf, der da ist, an: hätte Schiller diese «Malteser» zur Ausführung bringen wollen, dann hätte er unbedingt dieses Drama nur als Eingeweihter, als Initiierter schreiben können. Es wäre gar nicht anders gegangen. Er trug, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, die Bedingungen zur Initiation in sich. Aber was er so in sich trug, das konnte wegen seines anderen Karma nicht herauskommen, es verkrampfte sich, verkrampfte sich auch seelisch. Denn dem Malteser-Entwurf ist schon das Krampfhafte anzusehen: große gewaltige Sätze, die überall nicht bis zum Punkt führen. Es kann nicht heraus, was in ihm ist. Es ist nun interessant, auch bei Goethe haben wir solche Entwürfe; aber man sieht überall, wo Goethe etwas liegen läßt, da ist er zu bequem, er könnte schon weiter. Nur im höchsten Alter, als schon die Sklerose etwas auftrat, konnte er es nicht. Bei Schiller aber haben wir ein anderes Bild: es ist der eiserne Wille vorhanden, als er die Malteser entwirft, vorwärtszukommen; aber er kann nicht. Er kommt nur bis zu einem flüchtigen Entwurf. Denn die «Malteser», in Wirklichkeit gesehen, enthalten ja das, was von den Kreuzzügen her bewahrt worden ist an allerlei Okkultem, an Mystischem und an Initiationswissenschaft. Und an ein solches Drama, zu dessen Fertigstellung man die Erlebnisse der Initiation hätte wirklich in sich tragen müssen, geht Schiller heran. Und seit bekanntgeworden war, daß Schiller so etwas im Sinne hatte wie die «Malteser», seit der Zeit vermehrte sich die Gegnerschaft in Deutschland gegen ihn außerordentlich. Man fürchtete sich vor ihm. Man fürchtete, daß er allerlei an okkulten Geheimnissen in seinen Dramen verraten könnte. Die zweite Erscheinung, von der ich sprechen will, ist die folgende. Die «Malteser» bekommt er nicht fertig, kann nicht mit ihnen zurechtkommen. Er läßt Zeit vergehen, dichtet an allerlei Dingen, die gewiß bewundernswert sind, aber die auch schon bewundert werden können vom Philisterium. Die «Malteser», wenn er sie hätte ausführen können, wären etwas geworden für Menschen von höchstem geistigen Schwung! Er muß sie liegen lassen.

Nach einiger Zeit tritt in ihm wiederum das auf, was den Impuls zu dem Späteren gegeben hat. Er beginnt an seinem Demetrius zu dichten. Schiller schreibt daran in einer geradezu fieberhaften Art. Es wird bekannt – und noch größere Furcht haben die Menschen davor, daß nun Dinge zum Vorschein kommen könnten, an denen viele ein Interesse hatten, daß sie eine Weile noch der Menschheit verborgen bleiben. Schiller wird über seinem «Demetrius» krank; er spricht auf seinem Krankenlager fortwährend fast den ganzen Demetrius im hochgradigen Fieber heraus. Es wirkt etwas in Schiller wie eine fremde Macht, die sich durch den Körper ausdrückt. Man braucht selbstverständlich niemanden anzuklagen, aber man kann nicht anders, als aus dem Krankheitsbilde die Vorstellung zu haben, da ist auf irgendeine, wenn auch ganz okkulte Weise mitgeholfen worden an dem schnellen Sterben Schillers! Und daß Menschen eine Ahnung haben konnten, daß da mitgeholfen worden ist, das geht daraus hervor, wie Goethe, der nichts machen konnte, aber manches ahnte, in den letzten Tagen gar nicht wagte, den unmittelbar persönlichen Anteil – auch nicht nach dem Tode – zu nehmen, den er an dem wirklichen Hingange Schillers seinem Herzen nach wahrhaftig genommen hat. Er getraute sich nicht herauszugehen mit dem, was er in sich trug. Damit will ich nur andeuten, wie Schiller für den, der solche Dinge durchschauen kann, ganz zweifellos dazu prädestiniert war, Hochspirituelles aus sich heraus hervorzubringen, daß aber, wie durch innere und äußere Ursachen, karmisch innerlich und karmisch äußerlich die Sache zurückgestaut worden ist. [3] Schiller konnte einfach, wie sich das in seinen Krämpfen und in seiner ganzen Statur zeigte, namentlich aber in der häßlich geformten Kopforganisation zeigte, er konnte mit seinem Seelisch-Geistigen, das tief drinnenstand im spirituellen Dasein, nicht in seine Körperlichkeit hinein. [4]

Schillers früher Tod rührte von nichts anderem her als davon, daß sein Organismus verbrannt wurde durch seine mächtige seelische Lebenskraft. Ist es doch bekannt, daß, als Schiller gestorben war, man fand, daß sein Herz wie ausgedörrt in seinem Innern war. Nur durch seine mächtige Seelenkraft hielt er sich eben, solange es ging, aber diese mächtige Seelenkraft verzehrte zugleich das leibliche Leben. [5]

Betrachtet man das Leben solcher Persönlichkeiten hier auf der Erde, so führt es einen hinauf in das Leben und Wesen der Saturnsphäre. Man sieht sie auf die Erde herunterwirken in dasjenige, was auf der Erde geschieht; man sieht hier einen Abglanz desjenigen, was in der Saturnsphäre vor sich geht. Man kann hinschauen auf eine Individualität, die in dem 1., 2. christlichen Jahrhundert, als das Griechentum noch stark hereinwirkte in den Gang der christlichen Entwickelung, im Süden von Europa ihr Leben durchgemacht hat; die damals eine starke, feine, etwas intellektuell gefärbte Empfänglichkeit der Seele hatte für das griechisch gefärbte Christentum, und versetzt worden ist in das Römische Reich, da durchgemacht hat alles das, was man eben in den ersten Jahrhunderten der Ausbreitung des Christentums im Römischen Reich durchmachen konnte: die Christenverfolgungen mit ihrer Ungerechtigkeit, die Gewalttätigkeiten des römischen Cäsarentums, alles, dasjenige, was da lag in der Art und Weise, wie sich das römische Cäsarentum überhaupt benahm gegenüber den feineren Menschen; auf eine Seele, die dasjenige, was da angeschaut werden kann, im allertiefsten Sinne mit Empörung durchgemacht hat und eigentlich damals mit einer resignierten Stimmung durch den Tod gegangen ist. In hartem, schroffem Gegensatz sah diese Seele das Gute auf der einen Seite, das Böse auf der anderen Seite. Mit diesem Eindruck ging sie durch die Pforte des Todes, ging dann hindurch durch weniger bedeutsame Erdenleben. Denn dasjenige, was in jenem Erdenleben im griechisch-römischen Dasein auf diese Seele sich abgeladen hatte, das hatte tiefe Furchen im Seelenleben gezogen. Das war es, was dann, als das 18. Jahrhundert sich nahte, innerhalb der Saturnsphäre weiter ausgearbeitet wurde zu weiterem Karma dieser Individualität. Die Saturnsphäre arbeitet ernst und eindringlich an der Gestaltung des Karma. Und gerade dann, wenn es sich darum handelt, die vollste Tiefe der menschlichen Seele zu ergreifen und aus den vollsten Tiefen der menschlichen Seele stark radikale Kräfte zu entwickeln, gibt sie diese starken Kräfte, weil alles dasjenige, was innerhalb der Saturnsphäre geschieht, stark geistig ist, intensiv geistig, aber so geistig, daß es auch viel tiefer eingreift, wenn der Mensch heruntersteigt zu einer irdischen Gestaltung; tief, tief greift es ein in die physische Organisation. Es kommt eine physische Organisation zustande, die enthusiasmiert ist für einen Ausgleich desjenigen, was die Seele in einem früheren Erdenleben durchgemacht hat. Es ist ein starkes Zurückschauen da. Man schaut ja, wenn das Karma innerhalb der Saturnsphäre ausgearbeitet wird, auf Erinnerungen, auf Vergangenes, wie sich gestaltet das Wesen in der Saturnsphäre; man schaut da zurück. Dann, wenn der Mensch heruntersteigt in die irdische Sphäre, dann zeigt sich in gewisser Beziehung das negative Abbild desjenigen, was man da durchlebt hat. Das intensive Zurückschauen verwandelt sich in ein tatkräftiges Streben nach Idealen, die nach vorwärts, nach der Zukunft gehen, so daß gerade Menschen, die aus der Saturnsphäre herunter die Ausarbeitung ihres Karma bringen, zukunftsbegeisterte Menschen sind. Diese Individualität erschien als Friedrich Schiller. Und nehmen Sie nun das ganze Schiller-Leben, nehmen Sie es so, wie es auftrat mit dem ungeheuer wirksamen, künstlerisch vielleicht sehr schwachen Duktus der Schillerschen Jugenddramen, mit all diesem Feurigen, nehmen Sie aber dazu den ungeheuren Ernst, man möchte sagen die ungeheure Melancholie, die auf der Schillerschen Seele ruht, und sehen Sie namentlich das Ergreifende seines Jugendschicksals gerade hervorgehen aus seiner melancholisch-seelischen Grundstimmung; sehen Sie das Sich-Hinarbeiten wiederum zu einer Art begeisterten Auffassung des Griechentums, als er mit Goethe bekannt wurde. [6]

Nach «Don Carlos» versiegte dann seine dichterische Schaffenskraft, und Schiller mußte sich wesentlich anderen Dingen hingeben. Aber in jener Zeit wandelte sich das ganze Verhältnis zwischen Schiller und Goethe. Und Schiller bildete eigentlich seine weitere künstlerische Anschauung aus, man kann schon sagen, indem er als Grundlage für diese Ausgestaltung den Anblick desjenigen hatte, was Goethes Schaffen ausmachte. An Goethes Schaffen bildete sich Schiller wiederum heran zu seiner weiteren dramatischen Tätigkeit. Das kann man Stück für Stück im Briefwechsel oder in der Mitteilung der Gespräche aus der damaligen Zeit verfolgen. Und es braucht nicht wunderbar zu erscheinen, daß Schiller, der gewissermaßen in Goethe den repräsentativen Künstler sah Goethe zum Vorbilde nahm, der etwa an «Iphigenie» und «Tasso» geschaffen hat, also gerade das Dramatische bis herauf zum Sprachstil gehoben hat. [7] Schiller will vor allen Dingen Dramen schaffen, die künstlerische Dramatik darstellen. Dazu sucht er seinen Stoff. Er sucht gewissermaßen den künstlerischen Stil und sucht dazu seine Stoffe. Der Stoff der Maria Stuart ist nicht dasjenige wovon Schiller ausgegangen ist; er hat ihn gesucht, um ein in Stimmungen stilisiertes Drama kunstgerecht schaffen zu können. Das ist schon von einer großen Bedeutung auch für den Schauspieler. [8]

Die Kräfte und Fähigkeiten, die in uns liegen, müssen wir erst in uns entwickeln, wir müssen die Fähigkeit dazu erst in uns heranerziehen. So sucht Schiller sein ganzes Leben hindurch sich selbst zu erziehen. Eine neue Stufe in seiner Selbstentwickelung sind seine ästhetischen Briefe, die «Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen». Sie sind ein Juwel in unserem deutschen Geistesleben. Nur der kann fühlen und empfinden, was geheimnisvoll zwischen und aus den Worten – auch den späteren Dramen Schillers – heraustönt, der diese seine ästhetischen Briefe kennt; sie sind wie Lebensbalsam. Wer sich ein wenig befaßt hat mit dem hohen geistigen, pädagogischen Ideale, das in seinen ästhetischen Briefen lebt, wird sagen müssen: Ein Volksbuch müssen wir diese ästhetischen Briefe nennen. Erst dann, wenn in unseren Schulen nicht nur Plato, nicht nur Cicero, sondern mit gleicher Geltung die ästhetischen Briefe Schillers für die Jugend durchgenommen werden, wird man erkennen, wie ein Eigenes, ein Geniales darin lebt. Was in den ästhetischen Briefen lebt, wird erst fruchtbar werden, wenn die Lehrer unserer höheren Schulen durchdrungen sein werden von diesem geistigen Lebensblut, wenn sie in ihre Zöglinge etwas hineinströmen lassen werden von dem, was Schiller hat heranerziehen wollen dadurch, daß er dieses herrliche Werk uns geschenkt hat. In den heutigen philosophischen Werken finden Sie keinen Hinweis auf diese ästhetischen Briefe. Sie sind aber bedeutender als vieles, was von Fachphilosophen geleistet worden ist, denn sie appellieren an das Innerste des Menschen und wollen dieses Innerste eine Stufe höher hinaufheben. [9]

Zitate:

[1]  GA 217a, Seite 185   (Ausgabe 1981, 246 Seiten)
[2]  GA 310, Seite 28ff   (Ausgabe 1965, 184 Seiten)
[3]  GA 310, Seite 33ff   (Ausgabe 1965, 184 Seiten)
[4]  GA 310, Seite 36   (Ausgabe 1965, 184 Seiten)
[5]  GA 172, Seite 41   (Ausgabe 1964, 240 Seiten)
[6]  GA 239, Seite 173f   (Ausgabe 1963, 276 Seiten)
[7]  GA 282, Seite 253   (Ausgabe 1926, 414 Seiten)
[8]  GA 282, Seite 267f   (Ausgabe 1926, 414 Seiten)
[9]  GA 53, Seite 403f   (Ausgabe 1981, 508 Seiten)

Quellen:

GA 53:  Ursprung und Ziel des Menschen. Grundbegriffe der Geisteswissenschaft (1904/1905)
GA 172:  Das Karma des Berufes des Menschen in Anknüpfung an Goethes Leben (1916)
GA 217a:  Die Erkenntnis-Aufgabe der Jugend (1920/1924)
GA 239:  Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Fünfter Band (1924)
GA 282:  Sprachgestaltung und Dramatische Kunst.. Dramatischer Kurs (1924)
GA 310:  Der pädagogische Wert der Menschenerkenntnis und der Kulturwert der Pädagogik (1924)