Christus Leben
► Christus-Ereignis als Mysterium

In den alten Mysterien war durch die Tätigkeit der Gehilfen (des Initiators) bewirkt worden, daß der Mensch hinuntersteigen konnte in die Geheimnisse des physischen Leibes und Ätherleibes und hinaufsteigen in die Geheimnisse des Makrokosmos, aber nur so, daß er nicht dabei wirklich in seinem physischen Leibe lebte. Er konnte zwar in die Geheimnisse des physischen Leibes eindringen, aber nicht innerhalb des physischen Leibes; er mußte sozusagen ganz leibfrei sein. Und wenn er zurückkehrte, konnte er sich zwar erinnern an die Erlebnisse in den geistigen Sphären, aber er konnte diese Erlebnisse nicht in den physischen Leib übertragen. Das sollte radikal durch das Christus-Ereignis geändert werden, und das wurde es auch. Es gab also einfach einen solchen physischen Leib und Ätherleib vor dem Christus-Ereignis nicht, der es je erlebt hätte, daß das Ich die ganze volle menschliche Innerlichkeit durchdrungen hätte bis in den physischen Leib und Ätherleib. Das geschah zum ersten Male bei dem Christus-Ereignis. Und von dort ging auch der andere Einfluß aus, daß eine Wesenheit, die, wenn auch unendlich erhaben über den Menschen stehend, so doch mit der Menschennatur vereinigt war, sich hinausergossen hat in den Makrokosmos ohne fremde Hilfe durch die eigene Ichheit. Das war aber nur durch den Christus möglich gewesen. Nur dadurch ist es für den Menschen möglich, sich die Fähigkeit zu erwerben, in Freiheit nach und nach hinauszudringen in den Makrokosmos. Soll der Christus die volle Initiation vorleben, so muß er die zwei Seiten vorleben: das Hinuntersteigen in den physischen Leib und Ätherleib und das Hinaufsteigen in den Makrokosmos. Beide Ereignisse lebt der Christus den Menschen vor. Die Versuchungsszene gibt in allen Einzelheiten die Erlebnisse wieder, die der Mensch überhaupt hat, wenn er in den physischen Leib und Ätherleib hinuntersteigt. Und dieses zweite Ereignis wird geschildert, da wo gezeigt wird, daß die zweite Seite der Initiation, das Hinausleben in die große Welt sich wirklich durch den Christus mit der Menschennatur vollzogen hat. Da sehen wir, wie die Salbung, die in den alten Mysterien eine Rolle spielt, uns wiederum entgegentritt auf höherer Stufe, auf historischem Boden, während sie sonst eine Tempelsalbung war. Und wir sehen, wie der Christus jetzt ausdrückt das Aufgehen in die ganze Welt beim Passah-Mahle, wo er denen, die um ihn stehen, erklärt, daß er sich fühlt in alledem, was innerhalb der Erde als Festes ausgeprägt ist – was in dem Wort «Ich bin das Brot» angedeutet ist – und ebenso in allem Flüssigen. Es wird im Passah-Mahl angedeutet dieses bewußte Heraustreten in die große Welt, so wie der Mensch im Schlafe unbewußt heraustritt. Und das Fühlen alles dessen, was der Mensch fühlen muß als herannahende Blendung, sehen wir ausgedrückt in dem monumentalen Wort: «Meine Seele ist betrübt bis in den Tod!» Der Christus Jesus erlebt tatsächlich, was die Menschen sonst erleben wie ein Getötetwerden, ein Gelähmtwerden, wie eine Blendung. Er erlebt in der Szene von Gethsemane das, was man nennen kann: Der von der Seele verlassene physische Leib zeigt seine eigenen Angstzustände. Und alles, was dann folgt, soll in der Tat schildern das Hinausdringen in den Makrokosmos: die «Kreuzigung», und was mit der «Grablegung» dargestellt ist, und alles, was sich sonst in den Mysterien vollzogen hat. [1]

Nachdem der Christus tatsächlich das vollzogen hat, was früher, aber mit fremder Hilfe, in den dreieinhalb Tagen in den Mysterien vollzogen wurde, nachdem er vollzogen hatte, was ihm gerade zum Vorwurf gemacht wurde, weil er gesagt hatte, man möge diesen Tempel niederreißen, und in drei Tagen würde er ihn wieder aufbauen – womit deutlich hingewiesen wird auf die sonst in den dreieinhalb Tagen vollzogene Initiation in den Makrokosmos. [2]

Zitate:

[1]  GA 123, Seite 140uf   (Ausgabe 1959, 264 Seiten)
[2]  GA 123, Seite 146   (Ausgabe 1959, 264 Seiten)

Quellen:

GA 123:  Das Matthäus-Evangelium (1910)