Christus Leben
► Heilungen

Das eine bedenken die Menschen nicht, daß sie das Wort Evolution, das sie so oft aussprechen, ernst und ehrlich nehmen müssen, daß alles in der Evolution begriffen sein muß, damit die Welt an ihr Ziel kommen kann, und daß man nicht fragen muß bloß nach dem Plan, den die heutige Naturwissenschaft aufstellen würde, wenn sie eine Welt erschaffen würde. Weil man aber so denkt, weiß man nicht recht, daß die ganze Konstitution des Menschen, die Zusammenfügung der feineren Leiber, früher eine ganz andere gewesen ist. Man hätte damals nichts anfangen können mit den naturwissenschaftlichen Methoden (der Heilkunde) bei der menschlichen Persönlichkeit. Da war der Ätherleib viel wirksamer, viel kräftiger noch, als er heute ist; da konnte man auf dem Umwege durch den Ätherleib ganz anders auf den physischen Leib wirken. Und es bedeutete eine ganz andere Wirkung als heute, wenn man – sprechen wir es ganz trocken aus – mit «Gefühlen» heilte, wenn das Gefühl sich ausgoß von dem einen auf den anderen. Wenn man das nicht weiß, wird man als Naturgelehrter sagen: An Wunder glauben wir nicht mehr, und was da über die Heilungen gesagt wird sind eben Wunder, und das muß beseitigt werden. Nur eines weiß man nicht, daß das für die damalige Zeit überhaupt gar keine Wunder waren, sowenig wie es ein Wunder ist, wenn heute mit irgendeiner Arznei diese oder jene Funktion des menschlichen Organismus beeinflußt wird. Kein Mensch hätte damals an Wunder gedacht, wenn jemand zu einem Aussätzigen sagte, indem er die Hand ausstreckte: «Ich will es, werde rein!» Das ganze Naturell des Christus Jesus, das da überfloß, war das Heilmittel. Es würde heute nicht mehr wirken, weil heute die Zusammenfügung des menschlichen Ätherleibes und physischen Leibes eine ganz andere ist. Damals aber heilten die Ärzte überhaupt so. Daher war es bei dem Christus Jesus gar nicht etwas besonders Hervorzuhebendes, daß er die Aussätzigen durch Mitleid und Handauflegen heilte. Das war eine Selbstverständlichkeit für die damalige Zeit. [1]

Was in diesem Kapitel hervorgehoben werden soll, ist etwas ganz anderes. Werfen wir dazu einen Blick auf die Art und Weise, wie damals zum Beispiel die kleineren oder größeren Ärzte ausgebildet wurden. Sie wurden in Schulen ausgebildet, welche den Mysterienschulen beigeordnet waren, und sie bekamen in die Hand Kräfte, die aus der übersinnlichen Welt durch sie herunterwirkten, so daß die damals heilenden Ärzte gleichsam Medien waren für übersinnliche Kräfte. Daß der Arzt ein Kanal sein konnte für das Wirken von übersinnlichen Kräften, das wurde bewirkt bei seiner Einweihung in den Mysterienschulen.

Was das Bedeutsame war, ist nicht, daß geheilt wurde, sondern daß jemand auftrat, der, ohne in einer Mysterienschule gewesen zu sein, so heilen konnte; daß einer auftrat, dem die Kraft, die früher von den höheren Welten herunterfloß, in das Herz , in die Seele selber gelegt war, und daß diese Kräfte persönliche, individuelle Kräfte geworden waren. Die Tatsache sollte hingestellt werden, daß die Zeit erfüllt ist, daß der Mensch fortan nicht mehr so sein kann, daß er ein Kanal für übersinnliche Kräfte ist, daß dies aufhört. Das war auch denen, die sich durch Johannes im Jordan taufen ließen, klar geworden, daß diese Zeit aufhört, daß alles, was zukünftig gemacht werden muß, durch das menschliche Ich, durch das, was in das göttliche, innere Zentrum des Menschen einkehren soll, gemacht werden muß und daß da einer unter den Menschen steht, der von sich aus das tut, was die anderen getan haben mit Hilfe der Wesenheiten, die in den übersinnlichen Welten leben, und deren Kräfte auf sie herunterwirkte.

So trifft man gar nicht einmal den Sinn der Bibel, wenn man den Heilungsvorgang selber als etwas Besonderes darstellt. Das war er in der Abendröte der alten Zeit noch nicht, wo solche Heilungen noch stattfinden konnten und wo gesagt wird, daß der Christus in der Zeit der Abendröte Heilungen vollzieht – aber mit den neuen Kräften, die fortan da sein sollen. Daher wird auch mit einer völligen Klarheit, die durch nichts eigentlich übertönt werden könnte, gezeigt, wie der Christus Jesus ganz von Mensch zu Mensch wirkt. Es kann das kaum klarer zum Ausdruck kommen als dort, wo der Christus die Frau heilt, im fünften Kapitel des Markus-Evangeliums. Er heilt sie dadurch, daß sie an ihn herankommt, sein Kleid erfaßt, und er spürt, daß von ihm ein Strom von Kraft weggegangen ist. Von ihm geht ein Strom von Kraft weg, nicht dadurch, daß er ihn weggeschickt hat in diesem Falle, sondern daß sie ihn wegzieht, und er merkt es erst später. Und als er es merkt, wie drückt er sich da aus? «Tochter, dein Glaube hat dir geholfen; gehe hin in Frieden und sei genesen von deiner Plage.» Er wird selbst erst gewahr, wie er dasteht, wie das göttliche Reich in sein Inneres einströmt und von ihm ausströmt. Er steht nicht so da, wie die früheren Dämonenheiler ihren Patienten gegenübergestanden haben. Da konnte der Patient glauben oder nicht glauben, die Kraft, die ausströmte aus überirdischen Welten durch das Medium des Heilers, strömte auf den Kranken ein. Jetzt aber, wo es auf das Ich ankam, mußte dieses Ich mitarbeiten; da wurde alles individualisiert. Auf die Schilderung dieser Tatsache kommt es an. [2]

Es flossen zusammen das Moralische und das Physische des Heilens in einer neuen Weise. Wenn man das weiß, versteht man eine andere Erzählung. «Sie kamen zu Jesus mit einem Gichtbrüchigen, von vier Mann getragen. Und da sie mit demselben nicht zu ihm gelangen konnten, der Menge wegen, deckten sie da, wo er war, das Dach ab und ließen durch die Lücke die Bahre herab. Und da Jesus ihren Glauben sah, sagte er zu dem Gichtbrüchigen: Kind, deine Sünden sind dir vergeben.» Was haben die Pharisäer, die Schriftgelehrten erwartet, wenn eine Heilung eintreten sollte? Von einem alten Arzt hätten sie erwartet, daß er gesagt hätte: Die Kräfte, die in dich hineingehen und in deine gelähmten Glieder, werden dich bewegen können. Wie sagt der Christus Jesus? «Deine Sünden sind dir vergeben», das heißt, das Moralische, woran das Ich beteiligt ist. Das ist eine Sprache, welche die Pharisäer gar nicht verstehen; es erscheint ihnen wie eine Gotteslästerung, daß hier einer so sprach. Warum? Weil man in ihrem Sinne von Gott nur so sprechen kann, daß er in den übersinnlichen Welten wohnt und von dort herunterwirkt, und weil Sünden nur vergeben werden können von den übersinnlichen Welten aus. Daß Sündenvergeben mit dem, der heilt, etwas zu tun hat, das können sie nicht verstehen. Deshalb sagt der Christus weiter: «Was ist leichter, dem Gichtbrüchigen sagen: Deine Sünden sind vergeben; oder sagen: Stehe auf, nimm deine Bahre und wandle? Damit ihr aber wisset, daß der Sohn des Menschen Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf der Erde (zu dem Gichtbrüchigen sich wendend: Ich sage dir: Stehe auf, nimm deine Bahre und gehe heim! Und er stand auf, nahm alsbald seine Bahre und ging hinaus vor aller Augen.» [3]

Zitate:

[2]  GA 139, Seite 65f   (Ausgabe 1960, 212 Seiten)
[3]  GA 139, Seite 66ff   (Ausgabe 1960, 212 Seiten)
[1]  GA 139, Seite 63f   (Ausgabe 1960, 212 Seiten)

Quellen:

GA 139:  Das Markus-Evangelium (1912)