Atom

(Der Begriff) des Atoms hat natürlich nur dann einen Sinn, wenn man eigentlich nicht davon reden kann, wenn man nicht sagen kann, was ein Atom ist; denn in dem Augenblicke, wo man anfangen würde, das Atom zu beschreiben, wäre es nicht mehr ein Atom. Es ist ein schlechthin Unnahbares. [1]

Unsere Wissenschaft verlegt alle sinnlichen Qualitäten (Ton, Farbe, Wärme und so weiter) in das Subjekt und ist der Meinung, daß «außerhalb» des Subjektes diese Qualitäten nichts entsprechen als Bewegungsvorgänge der Materie. Diese, die das einzige im «Reiche der Natur» Existierende sein sollen, können natürlich nicht mehr wahrgenommen werden. Sie sind auf Grund der subjektiven Qualitäten erschlossen. Bewegung ist zunächst nur ein Begriff, den wir aus der Sinnenwelt entlehnt haben, das heißt der uns nur an Dingen mit jenen sinnlichen Qualitäten entgegentritt. Überträgt man nun dieses Prädikat (Aussage) auf nichtsinnliche Wesen, wie es die Elemente der diskontinuierlichen Materie (die Atome) sein sollen, so muß man sich doch dessen klar bewußt sein, daß durch diese Übertragung einem sinnlich wahrgenommenen Attribut eine wesentlich anders als sinnlich gedachte Daseinsform beigelegt wird. Demselben Widerspruch verfällt man, wenn man zu einem wirklichen Inhalte für den zunächst ganz leeren Atombegriff kommen will. Es müssen ihm eben sinnliche Qualitäten, wenn auch noch so sublimiert, beigelegt werden. [2] Ätherbewegungen (Schwingungen im früheren Äther der Physik), Atomlagerungen und so weiter gehören auf dasselbe Blatt wie die Sinnesempfindungen selbst. Erklärt man die sinnliche Qualität für subjektiv, so muß man es mit der Ätherbewegung geradeso tun. Wir nehmen die letztere nicht aus einem prinzipiellen Grunde nicht wahr, sondern nur deswegen, weil unsere Sinnesorgane nicht fein genug organisiert sind. Das ist aber ein rein zufälliger Umstand. Es könnte sein, daß dann die Menschheit bei zunehmender Verfeinerung der Sinnesorgane dereinst dazu käme, auch Ätherbewegungen unmittelbar wahrzunehmen. [3]

Zitate:

[1]  GA 183, Seite 33   (Ausgabe 1967, 195 Seiten)
[2]  GA 1, Seite 252   (Ausgabe 1987, 350 Seiten)
[3]  GA 1, Seite 254   (Ausgabe 1987, 350 Seiten)

Quellen:

GA 1:  Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften. Zugleich eine Grundlegung der Geisteswissenschaft (Anthroposophie) (1884-1897)
GA 183:  Die Wissenschaft vom Werden des Menschen (1918)