Atem

Einer unserer Atemzüge verhält sich zu unseren Lebenstagen, wie sich ein Lebenstag verhält zu unserem ganzen irdischen Leben. Unser Atem nämlich steht in einer wunderbaren inneren Beziehung zu dem gesamten Kosmos. Würden wir mit unserem Erkennen in ein solches Tempo hineinkommen können, das unser Atem entwickelt, dann würden wir in einer dem Menschen angemessenen Harmonie zum Weltenall stehen. Der Morgenländer versucht es durch seine Atemübungen auf mancherlei Weise, die dem Abendländer aber nicht entspricht; der muß es auf geistige Weise suchen. Im Grunde genommen sind alle die Übungen, die geschildert sind in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», das geistige Korrelat des Abendlandes für dasjenige, was das Morgenland in der Sehnsucht hat: mit dem Erkenntnisprozeß in das Tempo des Atmungsprozesses hineinzukommen. Würden wir mit unserem Erkennen in dem Tempo des Atmungsprozesses drinnen sein, dann würde uns das Weltenall viele seiner Geheimnisse enthüllen können; es enthüllt sie uns auch, aber leider nicht unserer Erkenntnis, sondern dunklen Gefühlen, die noch dazu manchen Täuschungen unterworfen sind. Dagegen unsere Erkenntnis, die im Vorstellen verläuft, unser Denken, ist gegenüber dem Rhythmus, in den unser Atem hineingestellt ist, zu klein. [1]

So qualvoll wie das abnorme Atmen im Alpdruck, so qualvoll wäre das gesamte Atmen, wäre jeder Atemzug, wenn der Mensch das Atmen vollbewußt erleben würde. Er würde es fühlend erleben, aber qualvoll wäre es für ihn. Er wird daher abgestumpft, und so wird es nicht als physischer Vorgang, sondern nur in dem träumerischen Gefühl erlebt. [2]

Zitate:

[1]  GA 176, Seite 240f   (Ausgabe 1982, 392 Seiten)
[2]  GA 293, Seite 101   (Ausgabe 1980, 216 Seiten)

Quellen:

GA 176:  Menschliche und menschheitliche Entwicklungswahrheiten. Das Karma des Materialismus (1917)
GA 293:  Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik (1919)