Christus Leben
► Christi Himmelfahrt

Es ist gewissermaßen ein Keimesleben der Christus-Wesenheit, das diese Wesenheit durchmacht von der Johannes-Taufe bis zum Mysterium von Golgatha, welches wir als die irdische Geburt, also der Tod des Jesus als die irdische Geburt des Christus. Und sein eigentliches Erdenleben müssen wir suchen nach dem Mysterium von Golgatha, da der Christus seinen Umgang gehabt hat mit den Aposteln, als diese in einer Art von anderem Bewußtseinszustand waren. Das war dasjenige, was der eigentlichen Geburt der Christus-Wesenheit folgte. Und was beschrieben wird als die Himmelfahrt und die darauf folgende Ausgießung des Geistes, das müssen wir bei der Christus-Wesenheit auffassen als dasjenige, was wir beim menschlichen Tode als das Eingehen in die geistigen Welten anzusehen gewohnt sind. Und das Weiterleben des Christus in der Erdensphäre seit der Himmelfahrt oder seit dem Pfingstereignis müssen wir vergleichen mit dem, was die Menschenseele durchlebt, wenn sie im Devachan ist. Anstatt in ein Devachan, anstatt in ein geistiges Gebiet zu kommen, wie der Mensch nach dem Tode, brachte die Christus-Wesenheit das Opfer, ihren Himmel gleichsam auf der Erde aufzuschlagen. [1]

Die Darstellung der Himmelfahrtsszene bedeutet eigentlich, daß die Jünger Christi in diesem Augenblick fähig geworden sind, etwas sehr Bedeutsames zu beobachten, was sozusagen hinter den Kulissen der Erdentwickelung vor sich geht. Das, was sie gesehen haben, zeigte ihnen im Bilde diese Aussicht, die für die Menschen gekommen wäre, wenn das Ereignis von Golgatha nicht geschehen wäre. Es stand vor ihnen in geistiger Leibhaftigkeit, was geschehen wäre, wenn das Ereignis von Golgatha nicht dagewesen wäre. Da wäre dieses geschehen: Die Menschenleiber wären so irdisch verfallen geworden, daß die Zukunft der Menschheit gefährdet gewesen wäre. Und das Ätherische, das in dem Menschen ist, diese ätherischen Leiber, die wären ihrer Anziehungskraft gefolgt. Denn der Ätherleib ist eigentlich etwas, was fortwährend nicht nach der Erde strebt, sondern fortwährend hinauf nach der Sonne strebt. Wenn nun der physische Menschenleib so geworden wäre, wie er hätte werden müssen ohne das Mysterium von Golgatha, dann wären eben die ätherischen Menschenleiber ihrem Drange gefolgt, nach der Sonne zu streben, und die Menschheit hätte auf der Erde als Erdenmenschheit dadurch natürlich aufgehört. Die Sonne ist der Wohnplatz des Christus bis zum Mysterium von Golgatha. Der ätherische Leib des Menschen strebt zu Christus hin, indem er sonnenwärts strebt. Und nun stellen Sie sich das Bild des Himmelfahrtstages vor: Der Christus erhebt sich vor den Seelenaugen seiner Jünger nach oben. Das heißt, es wird den Seelenaugen vorgezaubert, wie das Ätherische des Menschen, das aufwärtsstrebt, sich mit der Kraft, mit dem Impuls des Christus vereinigt, wie also der Mensch zur Zeit des Mysteriums von Golgatha vor der Gefahr stand, seinen ätherischen Leib wolkenwärts, gegen die Sonne hin ziehen zu sehen, wie aber der Christus das, was da sonnenwärts strebt, zusammenhält. Dieses Bild muß man eben im richtigen Sinne verstehen. Dieses Bild ist eigentlich eine Warnung. [2]

Der Mensch lernt unablässig, indem er auf der Stufe, auf der er steht, sich immer weiter und weiter entwickelt. Aber nicht nur der Mensch, ein jedes Wesen, vom untersten bis zum höchsten göttlichen Wesen, lernt, indem es sich immer weiter entwickelt. Hat der Christus dadurch (daß er in dem Leibe des Jesus war) auch in sich selber etwas erlebt, was ihn zu einer höheren Stufe geführt hat? Ja, das hat er. Auch göttlich-geistige Wesenheiten erleben etwas, was sie zu einer höheren Stufe führt. Das aber, was er erlebt hat, sein Hinaufsteigen in eine noch höhere Welt als die, in der er vorher war, das ließ er denen, die seine Genossen auf der Erde waren, erscheinen als seine Himmelfahrt. [3]

Die Jünger haben noch einen Rest des alten Hellsehens gehabt, konnten daher den Christus als ihren Lehrer auch nach der Auferstehung, wo er im Geistleib unter ihnen lebte, haben. Aber diese Kraft schwand ihnen allmählich dahin. Und das völlige Dahinschwinden dieser Kraft wird symbolisch in dem Feste der Himmelfahrt dargestellt. Die Jünger verfielen in eine tiefe Trauer, weil sie meinen mußten, der Christus sei nun nicht mehr da. Das Ereignis von Golgatha hatten sie mitgemacht. Aber als ihnen der Christus aus dem Bewußtsein hinweggegangen war – sie sahen die Christus-Gestalt in den Wolken entschwinden, das heißt, aus ihrem Bewußtsein hinweggehen –, mußte es ihnen vorkommen, als wenn der Christus doch jetzt nicht mehr auf Erden wäre. Da verfielen sie in eine tiefe Trauer. Und alle wirkliche Erkenntnis ist aus der Trauer, aus dem Schmerz, aus dem Leid heraus geboren. Aus der Lust wird wahre, tiefe Erkenntnis nicht geboren. Wahre, tiefe Erkenntnis wird aus dem Leid geboren. Und aus dem Leid, das aus dem Himmelfahrtsfeste für die Jünger Christi sich ergeben hat, aus diesem tiefen Seelenleide ist das Pfingstmysterium herausgewachsen. Für das äußere instinktive Hellsehen der Jünger schwand der Anblick Christi dahin. Im Inneren ging ihnen die Kraft des Christus auf. Der Christus hatte ihnen den Geist gesandt, der ihrer Seele möglich machte, sein Christus-Dasein in ihrem Inneren zu erfühlen. Das gab dem ersten Pfingstfeste in der Menschheitsentwickelung seinen Inhalt. Es folgte auf das Himmelfahrtsfest das Pfingstfest. Der Christus der für den äußeren hellseherischen Anblick, wie er als Erbschaft den Jüngern aus alten Zeiten der Menschheits-entwickelung geblieben ist, verschwunden war, trat am Pfingstfeste in dem innerlichen Erleben der Jünger auf. Die feurigen Zungen sind nichts anderes als das Aufleben des inneren Christus in den Seelen seiner Schüler, in den Seelen seiner Jünger. Das Pfingstfest mußte sich mit innerer Notwendigkeit an das Himmelfahrtsfest anschließen. [4]

Zitate:

[1]  GA 148, Seite 41f   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[2]  GA 224, Seite 149   (Ausgabe 1966, 232 Seiten)
[3]  GA 112, Seite 276f   (Ausgabe 1959, 292 Seiten)
[4]  GA 226, Seite 96f   (Ausgabe 1978, 140 Seiten)

Quellen:

GA 112:  Das Johannes-Evangelium im Verhältnis zu den drei anderen Evangelien, besonders zu dem Lukas-Evangelium (1909)
GA 148:  Aus der Akasha-Forschung. Das Fünfte Evangelium (1913/1914)
GA 224:  Die menschliche Seele in ihrem Zusammenhang mit göttlich-geistigen Individualitäten.. Die Verinnerlichung der Jahresfeste (1923)
GA 226:  Menschenwesen, Menschenschicksal und Welt-Entwickelung (1923)