Christus Leben
► Christi Höllenfahrt, oder Totenfahrt

In dem Augenblickt da der Christus Jesus auf Golgatha gestorben war, erschien der Christus in der geistigen Welt den zwischen Tod und (künftiger) Geburt lebenden Seelen, und da wich die Finsternis dort. Wie von einem Lichte wurde plötzlich die geistige Welt (Devachan) durchstrahlt. Wie in einem dunklen Raum die Gegenstände alle plötzlich sichtbar werden, wenn ein Lichtstrahl hereindringt, wie Sie plötzlich alles das sehen, was ja immer vorhanden war, was Sie aber vorher nicht wahrnehmen konnten, so ergoß sich das Licht in jene Welt der Abgeschiedenen. Und diese konnten wiederum wahrnehmen, was um sie herum war, konnten wieder sich verbunden fühlen im Geistgebiet mit ihren Brüdern und konnten nun als Anlage in die physische Welt hereinbringen die Liebe und die Brüderlichkeit. Wäre es in der geistigen Welt so geblieben, wie es für die Toten in der griechisch-lateinischen Zeit war, wäre die Seele in der eisigen Kälte und Einsamkeit von damals geblieben, so wäre immer mehr in der physischen Welt das verschwunden, was man Brüderlichkeit und Liebe nennt. Es hätte der Mensch aus dem Devachan mitgebracht den Hang zur Abgeschlossenheit. [1]

Was aber war das Gegenstück zu dieser Eroberung des physischen Planes in der griechisch-lateinischen Zeit in der geistigen Welt? Der dumpfeste, der am wenigsten intensive Bewußtseinszustand trat ein gerade in dieser Zeit zwischen dem Tode und der neuen Geburt. Bei aller Sympathie für die physische Welt verstand der Mensch nicht das Dasein in der jenseitigen Welt. Es kam ihm vor, als wenn er alles verloren hätte, und die geistige Welt schien ihm wertlos. In demselben Maße als die Sympathie für die physische Welt wuchs, in demselben Maße fühlten sich verloren drüben in der geistigen Welt die griechischen Helden. Diejenigen, welche als Gottes- oder Geistesboten genannt worden sind haben immer die Möglichkeit gehabt, herüber und hinüber zu gehen, von der einen Welt in die andere. Versuchen wir uns einmal zu vergegenwärtigen, was diese Geistesboten in den vorchristlichen Zeiten den Menschen des physischen Planes waren. Sie waren diejenigen, welche aus ihren Erfahrungen in der geistigen Welt heraus den Menschen der alten Welt sagen konnten, wie es eigentlich in der geistigen Welt ist. Freilich erlebten sie auch da drüben das ausgelöschte Bewußtsein der physischen Erdenmenschen, dafür aber auch die ganze geistige Welt in ihrer glanzvollen Fülle. Nicht in demselben Maße konnten diese Gottesboten fruchtbar wirken für die jenseitige Welt. Sie können es sich durchaus so vorstellen: Wenn der Eingeweihte, der Gottesbote, hinübergeht in die jenseitige Welt, sind ihm die Wesen drüben geradeso Genossen wie die Wesen in der physischen Welt. Er kann zu ihnen sprechen und ihnen Mitteilung machen von dem, was in der physischen Welt vorgeht. Aber je mehr wir uns dem griechisch-lateinischen Zeitraume nähern, desto weniger Wertvolles konnte der Eingeweihte, wenn er von der Erde in das Jenseits hinüberkam, den Seelen im Jenseits bieten. Denn sie fühlten zu sehr den Verlust dessen, woran sie gehangen hatten in der physischen Welt. Nichts mehr war für sie wertvoll von dem, was ihnen der Eingeweihte erzählen konnte. So war in den vorchristlichen Zeiten im höchsten Grade fruchtbar das, was die Eingeweihten als ihre Botschaften den Menschen in der physischen Welt herüberbrachten, und so war für die geistige Welt unfruchtbar, was sie den Abgeschiedenen von der physischen Welt hinüberbringen konnten. Unmittelbar nach dem Ereignis von Golgatha erschien Christus den Toten, den abgeschiedenen Seelen. Das ist eine okkulte Wahrheit. Und jetzt konnte er ihnen sagen, daß in der physischen Welt drüben der Geist unumstößlich den Sieg über die Materie davongetragen hat! Das war eine Lichtflamme in der jenseitigen Welt für die abgeschiedenen Seelen, die wie geistig-elektrisch einschlug und das erstorbene Jenseitsbewußtsein der griechisch-lateinischen Zeit anregte, eine ganz neue Phase beginnend für die Menschen zwischen dem Tode und der neuen Geburt. Und immer heller und heller wurde seit jener Zeit das Bewußtsein des Menschen zwischen dem Tode und der neuen Geburt. Und seither ist das der Fall, daß die Menschen immer mehr und mehr hineinwachsen in die geistige Welt, und eine Periode des Aufstieges, des Aufblühens in der geistigen Welt war damit angebrochen. [2]

Und immer heller und heller wurde seit jener Zeit das Bewußtsein des Menschen zwischen dem Tode und der neuen Geburt. Dieser Besuch des Christus im Jenseits bedeutet Ungeheures, eine Auffrischung des Lebens im Jenseits zwischen Tod und neuer Geburt. Seit jener Zeit fühlten sich die Abgeschiedenen, die sich in diesem wichtigen Augenblick der griechisch-lateinischen Zeit, trotz aller ihrer Freude für die physische Welt, wie Schatten empfanden, so daß sie lieber Bettler sein wollten in der Oberwelt, als Könige im Reiche der Schatten (Homer in der Odyssee 11. Gesang); sie fühlten sich jetzt immer mehr und mehr heimisch werden im Jenseits. Und seither ist das der Fall, daß die Menschen immer mehr und mehr hineinwachsen in die geistige Welt, und eine Periode des Aufstieges, des Aufblühens in der geistigen Welt war damit angebrochen. [3]

In jenem Augenblicke, da sich das Ereignis von Golgatha vollzog, war die Anlage in die Menschheit eingeimpft, wodurch der Einfluß Ahrimans zum Guten gewendet werden kann. Aus dem Leben heraus kann nunmehr der Mensch durch das Tor des Todes hindurch das mitnehmen, was ihn befreit von der Vereinsamung in der geistigen Welt. Nicht nur für die physische Menschheitsentwickelung steht das Ereignis von Palästina im Mittelpunkte, sondern auch für die übrigen Welten, denen der Mensch angehört. Christus erschien in jener Welt, in welcher die Seelen nach dem Tode weilen, und wies die Macht Ahrimans in ihre Schranken. [4]

Diejenigen, welche den Christus (als Lebende) in ihr Inneres aufnehmen, erhellen wieder das schattenhafte Leben im Devachan. Je mehr der Mensch hier erlebt von dem Christus, desto heller wird es drüben in der geistigen Welt (für ihn). Dasjenige, was der Mensch mitbringt in das geistige Reich, in Anlehnung an dieses Ereignis, das ist eine Gabe, die mitgebracht werden kann aus der physischen Welt in die geistige Welt. – Das ist die Kunde, die Christus den Toten brachte in den dreieinhalb Tagen; er stieg herab zu den Toten, um sie zu erlösen. In der alten Einweihung konnte man sagen: Die Früchte des Geistigen ernten wir im Physischen! Jetzt war ein Ereignis eingetreten in der physischen Welt, das seine Früchte brachte und wirkte in der geistigen Welt. Und man kann sagen: Nicht umsonst hat der Mensch den Abstieg vollendet zum physischen Plan. Er hat ihn vollendet, damit hier in der physischen Welt Früchte gezogen werden können für die geistige Welt. [5]

Zitate:

[1]  GA 109, Seite 254   (Ausgabe 1979, 304 Seiten)
[2]  GA 107, Seite 51uf   (Ausgabe 1973, 328 Seiten)
[3]  GA 107, Seite 54f   (Ausgabe 1973, 328 Seiten)
[4]  GA 13, Seite 292   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[5]  GA 106, Seite 156f   (Ausgabe 1978, 180 Seiten)

Quellen:

GA 13:  Die Geheimwissenschaft im Umriß (1910)
GA 106:  Ägyptische Mythen und Mysterien im Verhältnis zu den wirkenden Geisteskräften der Gegenwart (1908)
GA 107:  Geisteswissenschaftliche Menschenkunde (1908/1909)
GA 109:  Das Prinzip der spirituellen Ökonomie im Zusammenhang mit Wiederverkörperungsfragen. Ein Aspekt der geistigen Führung der Menschheit (1909)