Schilderung von Teilen der übersinnlichen Welt
► Höhere Gebiete in der Welt des Geistes

In den noch höheren Regionen des Geisterlandes ist der Menschengeist nun jeder irdischen Fessel entledigt. Er steigt auf in das reine Geisterland, in dem er die Absichten, die Ziele erlebt, die sich der Geist mit dem irdischen Leben gesetzt hat. Alles, was in der Welt schon verwirklicht ist, bringt ja die höchsten Ziele und Absichten nur in einem mehr oder weniger schwachen Nachbilde zum Dasein. Jeder Kristall, jeder Baum, jedes Tier und auch alles das, was im Bereiche menschlichen Schaffens verwirklicht wird, – all das gibt nur Nachbilder dessen, was der Geist beabsichtigt. Und der Mensch kann während seiner Verkörperungen nur anknüpfen an diese unvollkommenen Nachbilder der vollkommenen Absichten und Ziele. So kann er aber innerhalb einer seiner Verkörperungen selbst nur ein solches Nachbild dessen sein, was im Reiche des Geistes mit ihm beabsichtigt ist. Was er als Geist eigentlich ist, das kommt daher erst dann zum Vorschein, wenn er im Zwischenzustand zwischen zwei Verkörperungen in die fünfte Region des Geisterlandes aufsteigt. Was er hier ist, das ist wirklich er selbst. Das ist dasjenige, was in den mannigfaltigen Verkörperungen ein äußeres Dasein erhält. In dieser Region kann sich das wahre Selbst des Menschen nach allen Seiten frei ausleben. Und dieses Selbst ist also dasjenige, welches in jeder Verkörperung immer von neuem als das eine erscheint. Dieses Selbst bringt die Fähigkeiten mit, die sich in den unteren Regionen des Geisterlandes ausgebildet haben. Es trägt somit die Früchte der früheren Lebensläufe in die folgenden hinüber. Es ist der Träger der Ergebnisse früherer Verkörperungen. Im Reiche der Absichten und Ziele befindet sich also das Selbst, wenn es in der fünften Region lebt. Wie der Architekt an den Unvollkommenheiten lernt, die sich ihm ergeben haben, und wie er in seine neuen Pläne nur das aufnimmt, was er von diesen Unvollkommenheiten in Vollkommenheiten zu wandeln vermochte, so streift das Selbst von seinen Ergebnissen aus früheren Leben in der fünften Region dasjenige ab, was mit den Unvollkommenheiten der unteren Welten zusammenhängt, und befruchtet die Absichten des Geisterlandes, mit denen es nunmehr zusammenlebt, mit den Ergebnissen seiner früheren Lebensläufe. Klar ist, daß die Kraft, die aus dieser Region geschöpft werden kann, davon abhängen wird, wieviel sich das Selbst während seiner Verkörperung von solchen Ergebnissen erworben hat, die geeignet sind, in die Welt der Absichten aufgenommen zu werden. Das Selbst, das während des irdischen Daseins durch ein reges Gedankenleben oder durch weise, werktätige Liebe die Absichten des Geistes zu verwirklichen gesucht hat, wird sich eine große Anwartschaft auf diese Region erwerben. Dasjenige, das ganz in den alltäglichen Verhältnissen aufgegangen ist, das nur im Vergänglichen gelebt hat, das hat keine Samen gesät, die in den Absichten der ewigen Weltordnung eine Rolle spielen können. Nur das wenige, das es über die Tagesinteressen hinaus gewirkt hat, kann als Frucht in diesen oberen Regionen des Geisterlandes sich entfalten. Aber man soll nicht meinen, daß hier etwa vor allem solches in Betracht kommt, was «irdischen Ruhm» oder ähnliches bringt. Nein, gerade das kommt in Frage, was im kleinsten Lebenskreise zum Bewußtsein führt, daß alles einzelne seine Bedeutung für den ewigen Werdegang des Daseins hat. Man muß sich vertraut machen mit dem Gedanken, daß der Mensch in dieser Region anders urteilen muß, als er dies im physischen Leben tun kann. Hat er zum Beispiel weniges sich erworben, was mit dieser fünften Region verwandt ist, so entsteht in ihm der Drang, sich für das folgende physische Leben einen Impuls einzuprägen, welcher dieses Leben so verlaufen läßt, daß im Schicksal oder Karma desselben die entsprechende Wirkung des Mangels zutage tritt. Was dann in dem folgenden Erdenleben als leidvolles Geschick, vom Gesichtspunkte dieses Lebens aus, erscheint – ja vielleicht als solches tief beklagt wird –, das findet der Mensch in dieser Region des Geisterlandes als für ihn durchaus notwendig. – Da der Mensch in der fünften Region in seinem eigentlichen Selbst lebt, so ist er auch herausgehoben aus allem, was ihn aus den niederen Welten während der Verkörperungen umhüllt. Er ist, was er immer war und immer sein wird während des Laufes seiner Verkörperungen. Er lebt in dem Walten der Absichten, welche für diese Verkörperungen bestehen und die er in sein eigenes Selbst eingliedert. Er blickt auf seine eigene Vergangenheit zurück und er fühlt, daß alles, was er in derselben erlebt hat, in die Absichten, die er in Zukunft zu verwirklichen hat, aufgenommen wird. Eine Art Gedächtnis für seine früheren Lebensläufe und der prophetische Vorblick für seine späteren blitzen auf. – Man sieht: dasjenige, was hier das Geistselbst (Manas) genannt worden ist, lebt in dieser Region, soweit es entwickelt ist, in seiner ihm angemessenen Wirklichkeit. Es bildet sich aus und bereitet sich vor, um in einer neuen Verkörperung sich ein Vollziehen der geistigen Absichten in der irdischen Wirklichkeit zu ermöglichen. Hat sich dieses Geistselbst während einer Reihe von Aufenthalten im Geisterland so weit entwickelt, daß es sich völlig frei in diesem Lande bewegen kann, dann wird es seine wahre Heimat immer mehr hier suchen. Das Leben im Geiste wird ihm so vertraut, wie dem irdischen Menschen das Leben in der physischen Wirklichkeit. Die Gesichtspunkte der Geisterwelt wirken fortan auch als die maßgebenden, die es für die folgenden Erdenleben zu den seinigen, mehr oder weniger bewußt oder unbewußt, macht. Als ein Glied der göttlichen Weltordnung kann sich das Selbst fühlen. Die Schranken und Gesetze des irdischen Lebens berühren es nicht in seiner innersten Wesenheit. Die Kraft zu allem, was es vollführt, kommt ihm aus der geistigen Welt. Die geistige Welt aber ist eine Einheit. Wer in ihr lebt, weiß, wie das Ewige an der Vergangenheit geschaffen hat, und er kann von dem Ewigen aus die Richtung für die Zukunft bestimmen. Der Blick über die Vergangenheit weitet sich zu einem vollkommenen. Ein Mensch, der diese Stufe erreicht hat, gibt sich selbst Ziele, die er in einer nächsten Verkörperung ausführen soll. Vom Geisterland aus beeinflußt er seine Zukunft, so daß sie im Sinne des Wahren und Geistigen verläuft. Der Mensch befindet sich während des Zwischenzustandes zwischen zwei Verkörperungen in Gegenwart aller derjenigen erhabenen Wesen, vor deren Blicken die göttliche Weisheit unverhüllt ausgebreitet liegt. Denn er hat die Stufe erklommen, auf der er sie verstehen kann. In der sechsten Region wird der Mensch in allen seinen Handlungen dasjenige vollbringen, was dem wahren Wesen der Welt am angemessensten ist. Denn er kann nicht nach dem suchen, was ihm frommt, sondern einzig nach dem, was geschehen soll nach dem richtigen Gang der Weltordnung. Die siebente Region des Geisterlandes führt an die Grenze der drei Welten. Der Mensch steht hier den «Lebenskernen» gegenüber, die aus höheren Welten in die drei beschriebenen versetzt werden, um da ihre Aufgaben zu vollbringen. Ist der Mensch an der Grenze der drei Welten, so erkennt er sich somit in seinem eigenen Lebenskern. Das bringt mit sich, daß die Rätsel dieser drei Welten für ihn gelöst sein müssen. [1] uf

Im physischen Leben sind die Fähigkeiten der Seele, durch welche sie die hier geschilderten Erlebnisse in der geistigen Welt hat, unter den gewöhnlichen Lebensverhältnissen nicht bewußt. Sie arbeiten in ihren unbewußten Tiefen an den leiblichen Organen, welche das Bewußtsein der physischen Welt zustande bringen. Dies ist gerade der Grund, warum sie für diese Welt unwahrnehmbar bleiben. Auch das Auge sieht nicht sich, weil in ihm die Kräfte wirken, welche anderes sichtbar machen. Will man beurteilen, inwiefern ein zwischen Geburt und Tod verlaufendes Menschenleben das Ergebnis vorangehender Erdenleben sein kann, so muß man in Erwägung ziehen, daß ein innerhalb dieses Lebens selbst gelegener Gesichtspunkt, wie man ihn zunächst naturgemäß einnehmen muß, keine Beurteilungsmöglichkeit liefert. Für einen solchen Gesichtspunkt könnte zum Beispiel ein Erdenleben als leidvoll, unvollkommen und so weiter erscheinen, während es gerade in dieser Gestaltung für einen außerhalb dieses Erdenlebens selbst liegenden Gesichtspunkt mit seinem Leid, in seiner Unvollkommenheit als Ergebnis früherer Leben sich ergeben muß. Durch das Betreten des Erkenntnispfades (siehe: Schulung) löst sich die Seele los von den Bedingungen des Leibeslebens. Sie kann dadurch im Bilde die Erlebnisse wahrnehmen, welche sie zwischen dem Tode und einer neuen Geburt durchmacht (siehe dazu: Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt). Solches Wahrnehmen gibt die Möglichkeit, die Vorgänge des Geisterlandes so zu schildern, wie es hier skizzenhaft geschehen ist. Nur wenn man nicht versäumt, sich gegenwärtig zu halten, daß die ganze Verfassung der Seele eine andere ist im physischen Leibe als im rein geistigen Erleben, wird man die hier gegebene Schilderung im rechten Lichte sehen. [2]

Zitate:

[1]  GA 9, Seite 140   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[2]  GA 9, Seite 144f   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)

Quellen:

GA 9:  Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung (1904)