Schilderung von Teilen der übersinnlichen Welt
► Der Mensch in der Welt des Geistes zwischen den Inkarnationen

Wenn der Menschengeist auf seinem Wege zwischen zwei Verkörperungen die «Welt der Seelen» durchwandert hat, dann betritt er das «Land der Geister», um da zu verbleiben, bis er zu einem neuen leiblichen Dasein reif ist. Den Sinn dieses Aufenthaltes im «Geisterland» versteht man nur, wenn man die Aufgabe der Lebenspilgerfahrt des Menschen durch seine Verkörperungen hindurch in der richtigen Art zu deuten weiß. Während der Mensch im physischen Leibe verkörpert ist, wirkt und schafft er in der physischen Welt. Und er wirkt und schafft in ihr als geistiges Wesen. Was sein Geist ersinnt und ausbildet, das prägt er den physischen Formen, den körperlichen Stoffen und Kräften ein. Er hat also als ein Bote der geistigen Welt den Geist der Körperwelt einzuverleiben. Nur dadurch, daß er sich verkörpert, kann der Mensch in der Körperwelt wirken. Er muß den physischen Leib als sein Werkzeug annehmen, damit er durch das Körperliche auf Körperliches wirken und damit Körperliches auf ihn wirken kann. Was aber durch diese physische Körperlichkeit des Menschen hindurchwirkt, das ist der Geist. Von diesem gehen die Absichten, die Richtungen aus für das Wirken in der physischen Welt. – Solange nun der Geist im physischen Leibe wirkt, kann er als Geist nicht in seiner wahren Gestalt leben. Er kann gleichsam nur durch den Schleier des physischen Daseins hindurchscheinen. Das menschliche Gedankenleben gehört nämlich in Wahrheit der geistigen Welt an; und so, wie es im physischen Dasein auftritt, ist seine wahre Gestalt verschleiert. Man kann auch sagen, das Gedankenleben des physischen Menschen sei ein Schattenbild, ein Abglanz der wahren geistigen Wesenheit, zu der es gehört. So tritt während des physischen Lebens der Geist auf der Grundlage des physischen Körpers mit der irdischen Körperwelt in Wechselwirkung. Wenn nun auch gerade in dem Wirken auf die physische Körperwelt eine der Aufgaben des Menschengeistes liegt, solange er von Verkörperung zu Verkörperung schreitet, so könnte er doch diese Aufgabe keineswegs entsprechend erfüllen, wenn er nur im leiblichen Dasein lebte. Denn die Absichten und Ziele der irdischen Aufgabe werden ebensowenig innerhalb der irdischen Verkörperung ausgebildet und gewonnen, wie der Plan eines Hauses auf dem Bauplatz zustande kommt, auf dem die Arbeiter wirken. Wie dieser Plan im Büro des Architekten ausgearbeitet wird, so werden die Ziele und Absichten des irdischen Schaffens «im Lande der Geister» ausgebildet. – Der Geist des Menschen muß in diesem Lande immer wieder zwischen zwei Verkörperungen leben, um, gerüstet mit dem, was er sich von da mitbringt, an die Arbeit in dem physischen Leben herantreten zu können. Wie der Architekt, ohne die Ziegel und den Mörtel zu bearbeiten, in seiner Arbeitsstube den Hausplan verfertigt nach Maßgabe der baukünstlerischen und anderen Gesetze, so muß der Architekt des menschlichen Schaffens, der Geist oder das höhere Selbst, im Geisterland die Fähigkeiten und Ziele nach den Gesetzen dieses Landes ausbilden, um sie dann in die irdische Welt überzuführen. Nur wenn der Menschengeist immer wieder und wieder in seinem eigenen Bereich sich aufhält, wird er auch durch die physisch-körperlichen Werkzeuge in die irdische Welt den Geist tragen können. – Auf dem physischen Schauplatz lernt der Mensch die Eigenschaften und Kräfte der physischen Welt kennen. Er sammelt da während des Schaffens die Erfahrungen darüber, was für Anforderungen die physische Welt an den stellt, der in ihr arbeiten will. Er lernt da gleichsam die Eigenschaften des Stoffes kennen, in dem er seine Gedanken und Ideen verkörpern will. Die Gedanken und Ideen selbst kann er nicht aus dem Stoff heraussaugen. So ist die irdische Welt zugleich der Schauplatz des Schaffens und des Lernens. Im Geisterland wird dann das Gelernte in lebendige Fähigkeit des Geistes umgebildet. [1] Man kann den obigen Vergleich fortsetzen, um die Sache sich zu verdeutlichen. Der Architekt arbeitet den Plan eines Hauses aus. Dieser wird ausgeführt. Dabei macht er eine Summe der mannigfaltigsten Erfahrungen. Alle diese Erfahrungen steigern seine Fähigkeiten. Wenn er den nächsten Plan ausarbeitet, fließen alle diese Erfahrungen mit ein. Und dieser nächste Plan erscheint gegenüber dem ersten bereichert um all das, was an dem vorigen gelernt worden ist. So ist es mit den aufeinanderfolgenden menschlichen Lebensläufen. In den Zwischenzeiten zwischen den Verkörperungen lebt der Geist in seinem eigenen Bereich. Er kann sich ganz den Anforderungen des Geisteslebens hingeben; er bildet sich, befreit von der physischen Körperlichkeit, nach allen Seiten aus und arbeitet in diese seine Bildung die Früchte der Erfahrungen seiner früheren Lebensläufe hinein. So ist sein Blick immer auf den Schauplatz seiner irdischen Aufgaben gerichtet, so arbeitet er stets daran, die Erde, insofern diese der Platz seines Wirkens ist, durch die ihr notwendige Entwickelung hindurch zu verfolgen. Er arbeitet an sich, um bei jedesmaliger Verkörperung dem Zustande der Erde entsprechend seine Dienste im irdischen Wandel leisten zu können. Dies ist allerdings nur ein allgemeines Bild von den aufeinanderfolgenden menschlichen Lebensläufen. Und die Wirklichkeit wird mit diesem Bilde niemals ganz, sondern nur mehr oder weniger übereinstimmen. Die Verhältnisse können es mit sich bringen, daß ein folgendes Leben eines Menschen viel unvollkommener ist als ein vorhergehendes. Allein im ganzen und großen gleichen sich in den aufeinanderfolgenden Lebensläufen solche Unregelmäßigkeiten innerhalb bestimmter Grenzen wieder aus. [2]

Zitate:

[1]  GA 9, Seite 128ff   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[2]  GA 9, Seite 131f   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)

Quellen:

GA 9:  Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung (1904)