Metamorphose

Das ist von unendlicher Wichtigkeit und wird in Zukunft immer wichtiger und wichtiger werden für die Geisteskultur: einzusehen so etwas, daß zwei Dinge, die äußerlich physisch ganz voneinander verschieden sind wie der Kopfmensch und der Extremitätenmensch, geistig-seelisch ein und dasselbe sind, nur der Zeit nach auf verschiedenen Entwickelungsstufen. Sie sind äußerlich physisch etwas ganz Verschiedenes, aber Verwandlungszustände, also Metamorphosen eines und desselben. In elementarer Weise hat den Anfang mit Begriffen, durch die man so etwas erfassen kann, Goethe gemacht mit seiner Metamorphosenlehre. Während sonst eigentlich in der Ausbildung der Begriffe ein Stillstand ist seit alten Zeiten, setzt bei Goethe wiederum die Fähigkeit ein, Begriffe zu bilden. Und diese Begriffe sind die lebendigen Metamorphosenbegriffe. Goethe hat allerdings angefangen mit dem Einfachsten. Er hat gesagt: Wenn wir eine Pflanze anschauen, so haben wir das grüne Pflanzenblatt, aber das verwandelt sich dann in das farbige Blumenblatt. Beides ist ein und dasselbe, es sind nur Metamorphosen voneinander. Wenn wir den Goetheschen Metamorphosengedanken für die Pflanze nehmen, haben wir etwas Primitives, Einfaches; aber es kann dieser Gedanke fruchtbar gemacht werden für ein Höchstes: für das Beschreiben des Überganges des Menschen von einer Inkarnation in die andere. [1]

Von Evolution wird ja in neuerer Zeit viel geredet, aber man empfindet wenig dabei. Man denkt es nur aus mit dem Verstande. Man spricht so von der Evolution des Vollkommenen aus dem Unvollkommenen. Man geht beim Verstandesdenken davon aus, daß in der Evolution im Anfang die einfacheren Formen stehen und daß diese dann später immer differenzierter und differenzierter werden. Insbesondere Spencer hat mit solchen Evolutionsgedanken gearbeitet. Aber die Evolution zeigt das nicht so. Da findet allerdings zuerst eine Differenzierung, eine Komplizierung der Formen statt; dann aber kommt man zu einer Mitte und dann vereinfachen sich die Formen wieder. Das Folgende ist nicht das Kompliziertere, sondern das Folgende wird wieder einfacher. Man kann das in der Natur selber verfolgen. Das menschliche Auge, das das vollkommenste ist, hat es gewissermaßen zu größerer Einfachheit gebracht als die Augenformen gewisser Tiere, die zum Beispiel den Schwertfortsatz, den Fächer haben, der wieder verschwunden ist, indem das Auge in der Evolution weiter heraufrückte zum Menschen. [2]

Wenn man sich nun recht in die Entwickelungsimpulse hineinversetzt mit der künstlerischen Empfindung, so sieht man,... daß man allerdings zuerst von dem Einfachen immer mehr zu dem Komplizierten vorrücken muß; dann aber kommt man in der Mitte der Entwickelung an das Komplizierteste und dann wird es, indem es dem Vollkommenen zugeht, wiederum einfacher. [3] (29.6.1921)

Entwickelungsprinzip morphologisch

(Nachdem im obigen Schema die Formen I bis IV gezeichnet worden sind, wird gesagt) nun könnte die nächste (Form) ideell etwas komplizierter sein als die vorhergehende Form. Wir würden dann vielleicht diese (fünfte) Form bekommen. Das, was ich mit dem dicken Strich gezeichnet habe, das würde dann vielleicht nach außen hin sichtbar sein. Und würde es sich um eine wirkliche Form in der Natur handeln, so würde man dann von dieser Form zu dieser (sechsten) Form fortschreiten. Und doch schreitet weiter nur im Ätherischen die Entwickelung so fort, daß die komplizierteren Formen, die ich mit den Punkten angedeutet habe, herauskommen, während das Physische, das äußerlich Sichtbare, das sich wieder Offenbarende, sich vielleicht wieder vereinfacht. [4] (5.4.1920)

Zitate:

[1]  GA 183, Seite 108f   (Ausgabe 1967, 195 Seiten)
[2]  GA 77b, Seite 121   (Ausgabe 1996, 232 Seiten)
[3]  GA 290, Seite 0   (Ausgabe 1958, 158 Seiten)
[4]  GA 290, Seite 0   (Ausgabe 1958, 158 Seiten)

Quellen:

GA 77b:  Kunst und Anthroposophie. Der Goetheanum-Impuls (1921)
GA 183:  Die Wissenschaft vom Werden des Menschen (1918)
GA 290:  (Der Baugedanke des Goetheanum) (Bildband) (1920/1921)