Meditieren

In den letzten Jahrhunderten hat sich der Mensch so stark gewöhnt, nur die äußere Welt abzubilden, daß er gar nicht dazu kommt, sich innerlich bewußt zu werden, daß er auch selber Vorstellungen von innen heraus frei bilden kann. Solche Vorstellungen von innen heraus frei bilden, heißt meditieren: sich im Bewußtsein durchdringen mit Vorstellungen, die nicht von der äußeren Natur kommen, mit Vorstellungen, welche aus dem Inneren herausgeholt werden, wobei man vorzugsweise aufmerksam ist auf diejenige Kraft, die diese Vorstellungen heraustreibt. Man kommt dann dazu, zu fühlen, wie wirklich im Menschen ein zweiter Mensch steckt, wie wirklich im Menschen etwas innerlich fühlbar werden kann, was man so erlebt, wie zum Beispiel die Muskelkraft, mit der man einen Arm ausstreckt – man erlebt diese Muskelkraft am Menschen. Wenn man denkt, erlebt man gewöhnlich nichts; aber durch das Meditieren ist es möglich, die Gedankenkraft, die Kraft, durch die man die Gedanken bildet, in einer solchen Weise zu verstärken, daß man sie innerlich so erlebt wie die Muskelkraft, wenn man den Arm ausstreckt. Und das Meditieren hat einen Erfolg, wenn man sich zuletzt sagen kann: Ich bin eigentlich in meinem gewöhnlichen Denken ganz passiv. Ich lasse mit mir etwas geschehen. Ich lasse mich von der Natur ausstopfen mit Gedanken. Aber ich will mich nicht weiter ausstopfen lassen mit Gedanken, sondern ich versetze in mein Bewußtsein hinein diejenigen Gedanken, die ich haben will, und ich gehe von einem Gedanken zu dem anderen über nur durch die Kraft des inneren Denkens selber. – Da wird das Denken immer stärker und stärker, wie die Muskelkraft stärker wird, wenn man den Arm gebraucht. Da merkt man zuletzt, daß dieses Denken ebenso ein Spannen, ein Tasten, ein innerliches Erleben ist wie das Erleben der Muskelkraft. Hat der Mensch sich so innerlich erlebt, daß er sein Denken in sich fühlt, wie man sonst nur die innere Muskelkraft fühlt, dann tritt sofort dasjenige vor sein Bewußtsein, was er zunächst in sich trägt als Wiederholung eines alten Erdenzustandes. Er lernt erkennen diejenige Kraft, welche die von ihm genossenen Speisen im physischen Leibe umwandelt und wiederum zurückverwandelt. Und indem er dazu kommt, in sich diesen höheren Menschen zu erleben, der so real ist, wie nur der physische Mensch ist, kommt er zugleich dazu, die äußeren Dinge der Welt nun auch mit diesem erkrafteten Denken anzuschauen. Denken Sie sich: mit einem solchen erkrafteten Denken schaue ich auf einen Stein, meinetwillen auf einen Salzwürfel oder auf einen Quarzkristall. Da ist es so, daß es mir vorkommt, wie wenn ich einem Menschen begegne: den habe ich doch schon gesehen? Ich erinnere mich dadurch, daß ich ihn wieder vor mir sehe, an Erlebnisse, die ich vor zehn, zwanzig Jahren mit ihm gehabt habe. Mittlerweile war er meinetwillen in Australien oder irgendwo. Dasjenige, was jetzt als Mensch vor mich hintritt, zaubert mir herauf das Erlebnis, das ich mit ihm vor zehn oder zwanzig Jahren gehabt habe. Schaue ich einen Salzwürfel, schaue ich einen Quarzkristall an mit dem erkrafteten Denken, sofort steht vor mir, wie dieser Salzwürfel, dieser Quarzkristall einmal war, wie wenn die Erinnerung an einen Urzustand der Erde aufgehen würde. Damals aber war dieser Salzwürfel nicht hexaedrisch, also nicht sechsflächig, sondern alles war in einem welligen, webenden Steinweltenmeer. Der Urzustand der Erde geht so auf, wie an den gegenwärtigen Gegenständen eben eine Erinnerung aufgeht. Und dann blicke ich zum Menschen zurück, und ganz derselbe Eindruck, den ich sonst vom Urzustand der Erde habe, stellt sich mir dar in einem zweiten Menschen, den der Mensch in sich trägt. Und ganz derselbe Eindruck stellt sich mir dar, wenn ich nun nicht Steine ansehe, sondern wenn ich Pflanzen ansehe. Und ich komme dazu, mit einem gewissen Recht neben dem physischen Leib von einem Ätherleib zu sprechen. Die Erde war einstmals Äther. Sie ist aus dem Äther das geworden, was sie heute ist in ihren unorganischen, in ihren leblosen Dingen. Die Pflanze trägt noch dasjenige in sich, was ein uralter Zustand der Erde war. Und ich selber auch: als einen zweiten Menschen, als den Ätherleib des Menschen. [1]

Dasjenige was dadurch geschieht, daß ich den Arm hebe, das kann nur im wachen Zustand geschehen. Der Ätherleib hilft mir nichts zu diesem Heben. Aber dennoch, wenn ich nur die Kreide hebe, muß ich Ätherkräfte überwinden, muß ich in den Äther hineinwirken. Aber der eigene Ätherleib kann das nicht. Ich muß also einen dritten Menschen in mir tragen, der das kann. Zunächst kann man diese innere Kräfte-Entfaltung nur wahrnehmen an sich selber durch ein inneres Erleben. Wenn man aber die Meditation weiter treibt, wenn man nicht nur das innerlich tut, daß man Vorstellungen selber schafft, von einer Vorstellung zur anderen übergeht, um so das Denken zu erkraften, sondern wenn man, nachdem man ein solches kraftvolles Denken sich errungen hat, es innerlich wieder abschafft, sich ganz leer im Bewußtsein macht, dann erreicht man etwas Besonderes. Ja, wenn man sich von den gewöhnlichen Gedanken, die man passiv erwirbt, freimacht, schläft man ein. In dem Augenblick, wo der Mensch nicht mehr wahrnimmt, nicht mehr denkt, schläft er ein, weil das gewöhnliche Bewußtsein eben passiv erworben ist. Ist es nicht da, schläft er ein. Aber wenn man die Kräfte entwickelt, durch die man das Ätherische sieht, hat man einen innerlich erstarkten Menschen. Man fühlt die Gedankenkräfte, wie man sonst die Muskelkräfte fühlt. Wenn man diesen erstarkten Menschen wiederum wegsuggeriert, dann schläft man nicht ein, dann exponiert man sein leeres Bewußtsein der Welt. Dann tritt dasjenige objektiv in den Menschen herein, was der Mensch spürt, indem er seine Arme bewegt, indem er geht, indem er seinen Willen entfaltet. In der Welt des Raumes ist dasjenige nirgends zu finden, was da als Kräfte im Menschen wirkt. Aber es tritt in den Raum herein, wenn man in der Weise, wie ich es geschildert habe, leeres Bewußtsein erzeugt. Dann entdeckt man auch objektiv diesen dritten Menschen im Menschen. Schaut man dann wiederum in die äußere Natur hinaus, dann merkt man: Ja, der Mensch hat einen Ätherleib, die Tiere haben einen, die Pflanzen haben einen Ätherleib. Die Mineralien haben keinen. Die erinnern nur an den ursprünglichen Erdenäther. Aber überall ist Äther. Wo man hinschaut, hingeht, überall ist Äther. Aber er verleugnet sich. Warum? Weil er sich nicht als Äther gibt. [2]

Zitate:

[1]  GA 234, Seite 32ff   (Ausgabe 1994, 168 Seiten)
[2]  GA 234, Seite 35f   (Ausgabe 1994, 168 Seiten)

Quellen:

GA 234:  Anthroposophie – Eine Zusammenfassung nach einundzwanzig Jahren. Zugleich eine Anleitung zu ihrer Vertretung vor der Welt (1924)