Materialismus
► Genese des Materialismus

Das achte ökumenische Konzil (in Konstantinopel) im Jahre 869 hat aus der Menschheit das Hinblicken auf den Geist ausgetrieben (durch Abschaffung der Trichotomie). Diejenigen, die so recht materialistisch gesinnt sind, möchten die nächste Etappe vorbereiten; sie möchten vorbereiten, (nach dem Geist nun) auch die Seele abzuschaffen, und es zu einer allgemeinen dogmatischen Erkenntnis des modernen und zukünftigen Lebens machen, daß der Mensch nur Leib sei. Und auf Mittel sinnen gewisse teuflische Eingeweihte, wie man – jetzt nicht durch seelische Einflüsse, sondern durch Ingredienzien, durch gewisse Säfte, die man der Natur entnimmt – materialistisch erziehen, materialistisch den Menschen überhaupt zubereiten könne als Leib. [1]

Wir sehen, daß zum Beispiel schon im 11., 12. Jahrhundert die Esoterik immer mehr und mehr hinunterglimmt, abschmilzt, und daß gerade diese esoterische Strömung jene materialistische Denkungsform annimmt, die dann in späterer Metamorphose zum Materialismus in der Naturwissenschaft wurde; denn der ist eigentlich aus dem Arabismus heraus entsprungen. [2] Den wichtigsten Punkt, wo die Menschheitsevolution gleichsam herunterrückt vom Astralplan auf den physischen Plan und die geistigen Erkenntnisse ins Materielle übergehen, können wir auf den Zeitpunkt fixieren, als die alte ptolemäische Weltanschauung, die kein Unsinn ist, sondern eine Projektion astraler Erkenntnisse auf den physischen Plan ist, durch Kopernikus heruntergeführt worden ist auf den physischen Plan. [3]

In der Tat ist es ja so in der historischen Entwickelung der Menschheit, daß das, was ursprünglich spirituell aufgetreten ist, uns wiederum durch anatomisches Zerschnitzeln (beispielsweise) vor Augen tritt, weil die Dinge, die früher dem hellseherischen Schauen spirituell zugänglich waren, in späteren Zeitaltern materialistisch zum Vorschein kommen. [4] Wenn man auf materialistische Art Anatomie, Physiologie oder das praktische Leben kennenlernt, so lernt man die Wahrheit kennen –, aber sie gilt nur für das Physische. [5]

Was zuerst in materialistischer Auffassung zutage getreten ist in der neueren Zivilisation, das war der Sakramentalismus (siehe: Abendmahlsstreit). Da ging der Materialismus eigentlich zuerst auf. [6] Die eigentlichen Schöpfer des Materialismus auf wissenschaftlichem Gebiet, das sind die Theologen der letzten vier Jahrhunderte gewesen. Und es war in der Kirche immer sehr schwierig, sich gegen diesen hereinbrechenden wissenschaftlichen Materialismus zu wehren. Geradeso wie die Universitäten aus Theologen-Gründungen hervorgegangen sind, so ist dasjenige, was heute unsere Wissenschaft ist, auch wenn sie weltlich auftritt, noch immer das Ergebnis des Entwickelungsganges der Theologie. Und es muß eben durchaus festgehalten werden, daß Leute wie Strauß, Büchner und so weiter Waisenknaben sind in der Begründung des Materialismus gegenüber dem, was geleistet worden ist von Theologen. [7]

Der Materialismus hat nämlich zwei Gestalten: Zuerst hat man alle Geistigkeit materiell gedacht, und nachher hat man den Geist geleugnet. Das ist eigentlich der Weg, den der Materialismus nimmt. [8] Am besten werden die Seelen vorbereitet für den Materialismus, wenn sie noch für das äußere Leben, ich möchte sagen, halb schlafen, wenn es noch kindliche Seelen sind. Wenn man die Vorstellungen (beispielsweise), von denen der Robinson Crusoe durchdrungen ist, in die kindlichen Seelen hineinsenkt, dann bekommen sie die Neigung zum Materialismus. [9] Nicht zu widerlegen, sondern zu überwinden ist der Materialismus. Die Menschen müssen wieder geistig-seelisch werden, müssen wiederum aufwecken ihr Geistig-Seelisches. Tat muß es sein, den richtigen Materialismus zu überwinden, nicht irgendwie ihn falsch zu widerlegen. Daß der Materialismus für die neuere Kulturentwickelung richtig geworden ist, das eben ist die üble Tatsache, nicht daß er eine falsche Weltanschauung; ist. [10]

Es ist so mit der menschlichen Freiheit beschaffen, daß es sogar dem Menschen frei steht, den Materialismus zu verwirklichen für das Menschenreich, das heißt, diesen Erdenmenschen so zu gestalten, daß er in der Materie aufgeht. Es ist daher im Grunde genommen eine Sache des Beliebens, Materialist zu sein. Wenn man stark genug ist, das auch zu verwirklichen, was man dem Menschen vorsagt als materialistische Gesinnung, dann wird diese Gesinnung durch die Menschen erst wahr. [11] Also nicht darum handelt es sich, den Materialismus zu widerlegen, sondern darum, die Menschheit zu bewahren davor, daß der Materialismus richtig werde; denn er ist auf dem Wege, eine Richtigkeit, nicht eine Falschheit zu sein. In der Kultur heute wird er mit jedem Tage immer richtiger und richtiger. Wir können es schon mit dem Beginn des 3. Jahrtausends erleben, daß die Menschheit sich so entwickelt haben wird, daß der Materialismus die richtige Anschauung ist. Nicht darum handelt es sich, den Materialismus zu widerlegen; denn er ist auf dem Marsche, richtig zu werden, sondern darum, ihn unrichtig zu machen, weil er auf dem Wege ist, eine Tatsache zu werden, weil er nicht eine falsche Theorie bloß ist. [12] .

Materialisten sind Leute, die nicht aus logischen Gründen, sondern aus Furcht vor dem Geiste Materialisten sind. Aus Ängstlichkeit vor dem Geiste leugnen sie den Geist, weil eben die Logik der unbewußten Seele sie dazu zwingt, die zwar hinaufdringt, aber nicht durch die Pforte des Geistes schreiten kann. Materialismus ist nicht Logik, sondern ist Feigheit gegenüber dem Geiste. Und das, was er ausspinnt, ist nichts anderes, als das Opiat um diese Furcht zu betäuben. In Wirklichkeit sitzt jedem Materialisten Ahriman im Genick, der Bringer der Furcht. [13] Die Gründe für den Materialismus sind nicht die sogenannten Gründe, die man dafür angibt, sondern es ist die Furcht, die Furcht vor der Leere, die der Mensch findet, bevor er in die geistigen Welten eintritt. Auf dem Untergrunde der Seele schlummert unbewußt diese Furcht und treibt den Menschen dazu, die Dinge nur äußerlich, materiell anzusehen. [14]

Das Geistige in dem Menschen selbst zu leugnen, fällt ja selbstverständlich auch dem strammsten Materialisten nicht ein. Er wird das Geistige als solches anerkennen, es (aber) gewissermaßen nur ansehen als Ergebnis der physischen materiellen Vorgänge. [15] Daß es theoretische Materialisten gibt, ist in bezug auf die Gedanken verführerisch und in bezug auf das, was unsere Seelen eigentlich binden soll, fatal; aber unser äußeres Leben wird besonders dadurch beeinflußt, daß es für die Lebenspraxis so viele Materialisten gibt. Was ist ein Materialist für die Lebenspraxis? Das ist ein Mensch, der von seiner physischen Materie so abhängig ist, daß er den Winter nur einige Monate hindurch in seinern Kontor (Büro) zubringen kann und den Sommer, wenn er überhaupt das Leben zubringen will, an der Riviera sein muß. Materialist wird man dadurch, daß man vom Stofflichen ganz abhängig ist, daß man gezwungen ist, mit seiner Seele nachzulaufen den Bedürfnissen, die das Leben uns zudiktiert. Das ist noch ein ganz anderer Materialist als der, welcher bloß in Gedanken und Ideen einem Materialismus lebt. Ein theoretischer Idealismus kann vielleicht noch zu der Überzeugung führen, daß der theoretische Materialismus falsch ist. Aber den praktischen Materialisten kurieren, unsere Abhängigkeit vom Stofflichen des physischen Leibes kurieren, das kann nur die wirkliche Versenkung in die Geisteswissenschaft. [16]

Der Materialismus macht ja nicht nur die Seelen der Menschen materialistisch gesinnt, er verdirbt auch die Logik und macht das Empfinden stumpf. [17] Würden die Menschen die Wahrheit heute lehren über das, was selbst noch gewaltet hat in dem Geistesleben des 11.–15. Jahrhunderts würden sie nicht nach vorgefaßten Meinungen das entstellen, was da geherrscht hat, dann würde selbst das noch befruchtend sein können für eine Durchgeistigung der gegenwärtigen Weltanschauung, so daß der Materialismus, der naturwissen-schaftliche Materialismus oder der Materialismus der Mystiker oder der Materialismus der Theosophen nicht bestehen können, namentlich nicht bestehen könnte der Materialismus der katholischen Kirche. [18] Erkennt sich der Mensch als ein wirklicher Abglanz des Übersinnlichen, erkennt sich der Mensch in dem, was er ist, als konstituiert aus dem Übersinnlichen heraus, dann findet er auch den Weg zu dem Übersinnlichen. Es ist im Grunde genommen menschlicher Hochmut, der in der materialistischen Weltanschauung zum Ausdrucke kommt, der sich nur in einer ganz merkwürdigen Weise äußert; menschlicher Hochmut, durch den der Mensch nicht sein will ein Abglanz des Göttlich-Geistigen, sondern durch den er sein will bloß das höchste der tierischen Wesen. [19]

Zitate:

[1]  GA 203, Seite 242f   (Ausgabe 1978, 342 Seiten)
[2]  GA 216, Seite 135   (Ausgabe 1965, 144 Seiten)
[3]  GA 284, Seite 44   (Ausgabe 1993, 208 Seiten)
[4]  GA 126, Seite 93   (Ausgabe 1956, 120 Seiten)
[5]  GA 237, Seite 161   (Ausgabe 1959, 186 Seiten)
[6]  GA 220, Seite 63   (Ausgabe 1966, 214 Seiten)
[7]  GA 342, Seite 198f   (Ausgabe 1993, 164 Seiten)
[8]  GA 353, Seite 122   (Ausgabe 1968, 308 Seiten)
[9]  GA 159, Seite 241   (Ausgabe 1980, 388 Seiten)
[10]  GA 199, Seite 39   (Ausgabe 1985, 318 Seiten)
[11]  GA 197, Seite 21   (Ausgabe 1967, 217 Seiten)
[12]  GA 197, Seite 127   (Ausgabe 1967, 217 Seiten)
[13]  GA 146, Seite 146   (Ausgabe 1962, 163 Seiten)
[14]  GA 266/3, Seite 96   (Ausgabe 0, 0 Seiten)
[15]  GA 83, Seite 50f   (Ausgabe 1981, 388 Seiten)
[16]  GA 124, Seite 137   (Ausgabe 1963, 254 Seiten)
[17]  GA 159, Seite 270   (Ausgabe 1980, 388 Seiten)
[18]  GA 199, Seite 245   (Ausgabe 1985, 318 Seiten)
[19]  GA 198, Seite 69   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)

Quellen:

GA 83:  Westliche und östliche Weltgegensätzlichkeit. Wege zu ihrer Verständigung durch Anthroposophie (1922)
GA 124:  Exkurse in das Gebiet des Markus-Evangeliums (1910/1911)
GA 126:  Okkulte Geschichte. Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge von Persönlichkeiten und Ereignissen der Weltgeschichte (1910/1911)
GA 146:  Die okkulten Grundlagen der Bhagavad Gita (1913)
GA 159:  Das Geheimnis des Todes. Wesen und Bedeutung Mitteleuropas und die europäischen Volksgeister (1915)
GA 197:  Gegensätze in der Menschheitsentwickelung. West und Ost – Materialismus und Mystik – Wissen und Glauben (1920)
GA 198:  Heilfaktoren für den sozialen Organismus (1920)
GA 199:  Geisteswissenschaft als Erkenntnis der Grundimpulse sozialer Gestaltung (1920)
GA 203:  Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwickelung durch seinen geistigen Zusammenhang mit dem Erdplaneten und der Sternenwelt (1921)
GA 216:  Die Grundimpulse des weltgeschichtlichen Werdens der Menschheit (1922)
GA 220:  Lebendiges Naturerkennen. Intellektueller Sündenfall und spirituelle Sündenerhebung (1923)
GA 237:  Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Dritter Band. Die karmischen Zusammenhänge der anthroposophischen Bewegung (1924)
GA 266/3:  Aus den Inhalten der esoterischen Stunden. Band III (1913, 1914; 1920 – 1923) (1913-1923)
GA 284:  Bilder okkulter Siegel und Säulen. Der Münchner Kongreß Pfingsten 1907 und seine Auswirkungen (1907)
GA 342:  Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, I. Anthroposophische Grundlagen für ein erneuertes christlich-religiöses Wirken (1921)
GA 353:  Die Geschichte der Menschheit und die Weltanschauungen der Kulturvölker (1924)