Materialismus
► Vorgeschichte

Damit der Mensch eine menschliche Wissenschaft entwickeln könne, zog sich die göttliche Wissenschaft von ihm zurück. Und so kam es in späteren Zeiten, daß der ganze Weg, den eine einstmals über die Erde verbreitete göttliche Wissenschaft zu nehmen hatte zur irdisch-menschlichen Wissenschaft, überwacht werden mußte von den Mysterien aus, daß die Eingeweihten, die Initiierten der Mysterien dazu berufen wurden, gewissermaßen zu regeln, wie die Menschheit erzogen werden sollte, damit sie in der richtigen Weise herauswuchs aus dem alten Götterwissen und hineinwachsen konnte in das irdisch-menschliche Wissen. Da kam es, daß eine Anzahl von Menschen über weite Gebiete der Erde hin sich zusammenfand, um einen gewissen Weg zu suchen, um diese Absichten der richtigen Menschheitsleitung, die von den Mysterien kam, zu durchkreuzen. Äußere Urkunden aus jenen Zeiten gibt es nicht. Aber eine solche Gesellschaft war es, die sich in einer gewissen Weise das Mysterienwissen aneignete, aus dem Mysterienwissen auch die Methoden, um mit der göttlichen Urquelle des Wissens noch in einer Zeit in Verbindung zu kommen, in welcher die ehrlich arbeitenden Mysterien schon längst damit beschäftigt waren, das alte Götterwissen überzuleiten in das menschlich-irdische Wissen. Aber in das, was so als eine gesunde, für die damalige Zeit gesunde Anschauung und Empfindung über die Menschheit sich verbreitete, in das tönte hinein – und zwar in einer Zeit, als es schon zu spät dazu war und der Menschheit nicht mehr das alte Götterwissen in die Ohren geraunt werden sollte –, was eine gut organisierte Gesellschaft damals gewissermaßen verspätet als alte Urweisheit der Menschheit wiederum bringen wollte. [1]

Welches Interesse hatten denn diese Mitglieder der Nachurzeit? Sie hatten das Interesse, daß sie die Entstehung des Wissens gewissermaßen in seiner Wurzel vernichten wollten. Sie wollten das äußere menschliche Wissen nicht in der Menschheit entstehen lassen, sie wollten die Menschen nicht zur Freiheit kommen lassen. Und so machten diese, gewissermaßen «Feinde» der menschlichen Entwickelung der Nachurzeit, einen Unterschied zwischen menschlichem Wissen und Götterwissen, einem Götterwissen, das damals schon nicht mehr berechtigt war. Und die Menschheit, als sie hinausgewachsen war über das Götterwissen, mit diesem zu überfluten, bedeutete, sie dadurch in einen Bewußtseinszustand zu bringen, der träumerisch, schwärmerisch war. Breite Massen der Menschheit lebten in einer solchen Schwärmerei in der Nachurzeit, in der der Sinn erstickt wurde für die Entstehung menschlicher Wissenschaft. Und wenn manches in der menschlichen Wissenschaft in späteren Zeiten sehr mangelhaft entstanden ist, wenn bis in die Sprachbildung hinein Mangelhaftes sich eingeschlichen hat, dann war dieses den Menschen schmeichelnde Heraufheben zu einem Götterwissen daran schuld. Wenn wir nachgehen, unter welchem Einfluß diejenigen standen, die so bestrebt waren, die Menschen zu benebeln und die Entstehung von Wissenschaft und auch von einer aus den Menschheitstiefen herauskommenden Sprache in der Wurzel abzuschneiden, dann müssen wir sagen: Diese menschlichen Persönlichkeiten waren durch und durch von luziferischen Kräften beherrscht, solchen luziferischen Kräften, welche den Menschen mit seinem ganzen Empfinden, Wollen und Denken gewissermaßen nicht bis zur Erde herabkommen lassen wollten. Der Mensch sollte (als normale Entwickelung) immer materieller und materieller werden, aber diese Persönlichkeiten wollten ihn, geistig, spirituell erhalten, um ihn den Erdenaufgaben zu entziehen. Denn damals sollte der Mensch die Wege finden, um mit seinem Seelisch-Geistigen immer gründlicher und gründlicher in das Körperliche hineinzusteigen. Das aber sollte von diesen Geistern verhindert werden. Wenn wir etwa im Bilde der Gegenwart sprechen – weil es ja schwierig ist, in genau zutreffenden Vorstellungen jenen Zustand der Menschheit in der Nachurzeit zu charakterisieren –, so könnten wir sagen, diese Geister treten auf mit einem starken Anflug von einer gewissen unbewußten Unwahrhaftigkeit. Denn es war ja selbstverständlich durch die Mysterien der Impuls gegeben, in die materielle Welt herunterzusteigen, sich mit ihr zu durchdringen. Das durften diese luziferbesessenen Menschen der Nachurzeit natürlich nicht verleugnen. Deshalb nannten sich diese Menschen nicht etwa – im Bilde der Gegenwart gesprochen; es müßte dann (ja noch) übersetzt werden in die Denkweise der Urzeit – «Spiritualisten», sondern sie nannten sich gerade «Vertreter des Materiellen». Denn sie sagten den Menschen: Ihr erreicht das Materielle, wenn ihr uns folgt, wenn ihr die Macht, die wir euch mit dem späteren göttlichen Wissen geben, ausnutzt, wenn ihr euch seelisch-geistig dadurch stärkt. So könnt ihr als Eroberer über das, was euch auf der Erde zugedacht ist, euch erleben; ihr könnt euch die Erde im Fluge erobern dadurch, daß ihr der Göttermacht teilhaftig werdet! So war damals durch diese Persönlichkeiten eine Art Zwiespalt in die Menschheitsentwickelung hineingekommen. [2]

Das Gegenbild von dem, was da in der Urzeit vorhanden war, erleben wir heute. Wir sehen, daß, von gewissen Konfessionen ausgehend, ein Kampf gegen den regulären Gang, den die Wissenschaft nun nehmen soll, stattfindet. [3] Wie jene alten, von Luzifer besessenen Menschen damals den Menschen vorgemacht haben, sie bekommen Macht über die Welt, wenn sie sich des alten Götterwissens bedienen – während aber schon andere Zeiten der Entwickelung da waren –, so kommen jetzt diese Nachzügler jener Menschen aus den Nachurzeiten und machen den Menschen vor, daß es nicht möglich ist, das Wissen in die übersinnliche Welt hinein auszudehnen, daß man mit dem Wissen vor der übersinnlichen Welt haltmachen müsse. Wie jene Menschen der früheren Zeit mit dem übersinnlichen Wissen die Menschheit betäuben wollten, so wollen die heutigen, ihnen entsprechenden menschlichen Wesenheiten nun die Menschheit erst recht hineintreiben in die physische Welt, damit sie dort drinnen stecken bleibe und nur mit dem stumpfen Impuls des Glaubens die übersinnliche Welt ergreife. Und die, welche heute gerade den Materialismus fördern, nennen sich heute «Spiritualisten» oder Priester dieses oder jenen Glaubens, die Vertreter des Übersinnlichen. Es ist heute der stärkste Quell des Materialismus nicht dasjenige, was etwa von Büchner, Moleschott oder dem dicken Vogt (alles materialistische Philosophen) ausgegangen ist, sondern dieser stärkste Quell ist Rom. [4]

In alten Zeiten war der Mensch mehr an seinen Leib gebunden als er es heute ist, aber er erlebte eben im Leibe das Geistige des Kosmos (mit). Dieses Erleben im Leibe hat der neuere Mensch verloren. Er ist geistig, aber er hat den verdünntesten Geist, er lebt im Intellekt und kann im Geiste nur leben vom Aufwachen bis zum Einschlafen, und er wird stumpf, wenn er in die geistige Welt geht mit seinem ganz verdünnten intellektiven Geiste. Der Materialismus kommt gerade daher, daß der Mensch geistig geworden ist, aber verdünnt geistig. [5]

Der Materialismus kommt von dem Untergang des alten Wissens. Dieser Untergang kommt davon, daß die Menschheit in Wirklichkeit in einer Entwickelung begriffen ist. Es gab Zeiten auf der Erde, da haben die Menschen nicht so feste Knochen gehabt, wie wir sie heute haben. Die Luft war nämlich viel dicker in alten Zeiten. Wir müssen unsere heutigen Knochen nur deshalb haben, weil uns die Luft nicht mehr trägt. Das Gehen in jenen alten Zeiten war früher viel ähnlicher einem Schwimmen. Aber wenn die Knochen hart werden, werden auch die anderen Dinge beim Menschen hart, so daß der Mensch, der weichere Knochen hatte, auch eine weichere Gehirnmasse hatte. Überhaupt war der Schädel in den alten Zeiten auch ganz anders geformt. Er war mehr so geformt, wie heute die Wasserköpfe geformt sind. Und so wie es das ganz kleine Kind im Mutterleibe hat, so behielt er seinen Kopf, weil er eine weiche Gehirnmasse hatte, und das weiche Gehirn lädt sich ab in den Vorderschädel. Die Urmenschen haben solch ein weiches Gehirn gehabt. Aber etwas anderes hatten diese Urmenschen wiederum. Wir können sagen: Wenn ein Kind geboren wird, so ist sein Schädel mit seinem weichen Gehirn und sind sogar die Knochen noch ähnlich – die Knochen nicht mehr so stark, aber das Gehirn ist sehr stark ähnlich dem, wie es beim Urmenschen war. Aber ein kleines Kind kann nichts, kann sich nicht von der Stelle rühren, sich nicht selber ernähren und dergleichen. Dafür mußte von höheren Wesen gesorgt werden, als die Menschen noch dieses weiche Gehirn hatten. Und die Folge davon war, daß die Menschen dazumal keine Freiheit hatten. Diese Menschen hatten große Weisheit, aber gar keinen freien Willen. Aber in der menschlichen Entwickelung kommt allmählich der freie Wille heraus. Dazu müssen sich die Knochen und das Hirn verhärten. Aber in der Verhärtung nimmt wiederum die alte Erkenntnis ihren Untergang. [6] Wir leben jetzt in dem Zeitalter, wo sich die Menschheit durch den Materialismus die Freiheit erkauft hat. Deshalb kann man nicht sagen, daß der Materialismus, wenn er auch die Unwahrheit ist, etwas Schlechtes ist. Der Materialismus, wenn er nicht übertrieben wird, ist eben nichts Schlechtes, sondern durch den Materialismus lernte die Menschheit sehr viel kennen, was sie früher nicht gekannt hat. [7] Ist der Materialismus falsch? Er braucht es nicht zu sein, solange der Mensch ihn nicht in das Seelische hineinträgt. Will man Materialist sein, so muß man dem Vitalismus huldigen, dann lernt man das materielle Leben begreifen. Einen anderen Gesichtspunkt muß man aber für das Seelische und für das Geistige wählen. Wollen wir die Welt in ihrer Fülle begreifen, so müssen wir in der Lage sein, uns auf verschiedene Standpunkte zu stellen. Wir müssen den praktischen Geistesweg gehen. [8]

Der Materialismus hat seine gewisse Berechtigung. Wir müssen uns aneignen dieses Denken, dem sich der Materialist hingibt, das Denken in materiellen Gesetzen, aber wir dürfen es nur verwenden für die materielle Welt; die begreifen wir mit diesen Gesetzen. [9] In der neueren Zeit ist es ein sicherer Weg, den Materialismus zu überwinden, die Art des Forschens in der Naturwissenschaft zu durchschauen. Und Materialisten auf naturwissen-schaftlichem Gebiete werden die Menschen eben nur deshalb, weil sie sich entweder gar nicht oder zu wenig befassen mit der Art ihres Forschens, denn wer die naturwissenschaftliche Art, die Welt anzuschauen, zu operieren mit den Dingen, um zu Erkenntnissen zu kommen, auf sich wirken läßt, der wird zum mindesten Idealist, aber wahrscheinlich Spiritualist, wenn er nur weit genug vordringt. Die größte Versuchung, materialistisch zu werden, ist, sich nicht befassen zu wollen mit den konkreten Ergebnissen der Geisteswissenschaft und nur immer und immer zu betonen das mystische Forschen, das mystische Seelenvertiefen (als) Methode in die geistige Welt hineinzukommen. [10] Deshalb sind die Führer der Monistenbünde die am wenigsten schädlichen. Diejenigen, die heute Mystik verbreiten und den Menschen immer von allerlei Mystik reden, die sind oftmals die eigentlichen Pfleger, die raffinierten Pfleger des Materialismus. [11]

Zitate:

[1]  GA 197, Seite 132f   (Ausgabe 1967, 217 Seiten)
[2]  GA 197, Seite 134f   (Ausgabe 1967, 217 Seiten)
[3]  GA 197, Seite 135   (Ausgabe 1967, 217 Seiten)
[4]  GA 197, Seite 138f   (Ausgabe 1967, 217 Seiten)
[5]  GA 204, Seite 156f   (Ausgabe 1979, 328 Seiten)
[6]  GA 353, Seite 289ff   (Ausgabe 1968, 308 Seiten)
[7]  GA 353, Seite 292   (Ausgabe 1968, 308 Seiten)
[8]  GA 125, Seite 60   (Ausgabe 1973, 278 Seiten)
[9]  GA 119, Seite 217   (Ausgabe 1962, 279 Seiten)
[10]  GA 191, Seite 137f   (Ausgabe 1983, 296 Seiten)
[11]  GA 191, Seite 139   (Ausgabe 1983, 296 Seiten)

Quellen:

GA 119:  Makrokosmos und Mikrokosmos.. Die große und die kleine Welt. Seelenfragen, Lebensfragen, Geistesfragen (1910)
GA 125:  Wege und Ziele des geistigen Menschen. Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft (1910)
GA 191:  Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis (1919)
GA 197:  Gegensätze in der Menschheitsentwickelung. West und Ost – Materialismus und Mystik – Wissen und Glauben (1920)
GA 204:  Perspektiven der Menschheitsentwickelung. Der materialistische Erkenntnisimpuls und die Aufgabe der Anthroposophie (1921)
GA 353:  Die Geschichte der Menschheit und die Weltanschauungen der Kulturvölker (1924)