Materialismus
► Einleitung

In der neueren Zeit hat erst der heraufkommende materialistische Naturalismus, der seit dem 15., 16. Jahrhundert immer energischer die Menschen ergriffen hat, den Sinn für diesen Zusammenhang von Sinnlichem und Übersinnlichem getötet. Im 18. Jahrhunderte war das in einzelnen Kulturgebieten noch anders. Da hat innerhalb der französischen Kultur unter den Enzyklopädisten der Materialismus seine geistreichsten Früchte getrieben, dann hat er sich immer mehr und mehr ausgebreitet, und dann ist zuletzt dasjenige gekommen, was am meisten abführt von der geistigen Welt: das Leben in den theosophischen Abstraktionen! [1]

Nicht darin sah ich das Verderbliche dieser Denkungsart, daß der Materialist sein Augenmerk auf die stoffliche Erscheinung einer Wesenheit richtet, sondern darin, wie er das Stoffliche denkt. Er schaut auf den Stoff hin und wird nicht gewahr, daß er in Wahrheit Geist vor sich habe, der nur in der stofflichen Form erscheint. Er weiß nicht, daß Geist sich in Stoff metamorphosiert, um zu Wirkungsweisen zu kommen, die nur in dieser Metamorphose möglich sind. Geist muß sich zuerst die Form eines stofflichen Gehirnes geben, um in dieser Form das Leben der Vorstellungswelt zu führen, die dem Menschen in seinem Erdenleben das frei wirkende Selbstbewußtsein verleihen kann. Gewiß: im Gehirn steigt aus dem Stoffe der Geist auf; aber erst, nachdem das Stoffgehirn aus dem Geist aufgestiegen ist. Abweisend gegen die physikalische und physiologische Vorstellungsart mußte ich nur aus dem Grunde sein, weil diese ein erdachtes, nicht ein erlebtes Stoffliches zum äußerlichen Erreger des im Menschen erfahrenen Geistigen macht und dabei den Stoff so erdachte, daß es unmöglich ist, ihn dahin zu verfolgen, wo er Geist ist. Solcher Stoff, wie ihn diese Vorstellungsart als real behauptet, ist eben nirgends real. Der Grundirrtum der materialistisch gesinnten Naturdenker besteht in ihrer unmöglichen Idee von dem Stoffe. Dadurch versperren sie den Weg in das geistige Dasein. Eine stoffliche Natur, die in der Seele bloß das erregte, was der Mensch an der Natur erlebt, macht die Welt «zur Illusion». [2]

Zitate:

[1]  GA 190, Seite 102   (Ausgabe 1980, 238 Seiten)
[2]  GA 28, Seite 334f   (Ausgabe 1962, 520 Seiten)

Quellen:

GA 28:  Mein Lebensgang (1923-1925)
GA 190:  Vergangenheits- und Zukunftsimpulse im sozialen Geschehen (1919)