Mantren

Es floß menschliche Gemeinsamkeitskraft von Seele zu Seele in alten Zeiten, indem die Menschen miteinander sprachen. So wie wir, wenn wir in einem Saale beisammen sind, die gemeinsame Luft einatmen, so lebte in dem, was die Menschen miteinander sprachen, eine geistige, eine spirituelle Kraft des Gemeinsamen in alten Zeiten. In der fortschreitenden Evolution der Menschheit ist das verlorengegangen. Das Wort ist immer entgöttlichter worden. Wortformeln, die eine über das Gewöhnliche weit hinausgehende Wirkung hatten, wurden in den Mysterien überliefert. Jetzt können Sie begreifen, daß sie nicht verraten werden durften, weil dadurch, daß der Mensch diese Formeln kannte, ihm eine hohe Macht gegeben war über die anderen Menschen, die nicht mißbraucht werden durfte. [1]

Mantren erzeugen Schwingungen des Wortes, die mit den Schwingungen des Gedankens in der Akasha-Materie übereinstimmen. Der Weihnachtsspruch «Gloriam in excelsis deo et pax hominibus bonae voluntatis» wirkt (beispielsweise) mantrisch im Lateinischen. [2]

Der Jogi, der strahlte gewissermaßen sein Seelisch-Gedankliches über den Atmungsprozeß aus. Er trieb mehr in sich hinein dieses ganze seelische Denken. Und die Folge davon war, daß jetzt aus seiner Seele ein besonderes Selbstgefühl, ein besonderes Ich-Gefühl auftauchte, er fühlte sich wie zurückerinnert an die Zeit, als er ein geistig-seelisches Wesen innerhalb einer geistig-seelischen Welt war. Und aus dem, was ihn überkam, aus dem Verhältnis dieses jetzt erweckten Selbstes zu dem ganzen Universum, entstanden dann jene wunderbaren alten Dichtungen, zum Beispiel die Bhagavad Gita. Und wenn Sie die Bhagavad Gita mit dem Bewußtsein lesen, daß eigentlich die in die geistige Welt zurückversetzte Seele mit dem erhöhten Selbstgefühl es war, die das alles sagt, was Krishna oder andere zu solchem Selbstgefühl gekommenen alte Eingeweihte aushauchten, dann lesen Sie erst diese alten Dichtungen richtig. Man kann also sagen: Jene alten Weisen hoben sich heraus aus der Gesamtmasse der damaligen Bevölkerung und sonderten ihr Selbst streng ab von der Außenwelt. Aber sie sonderten es nicht etwa durch egoistische Gedanken ab, sondern durch einen verwandelten Atmungsprozeß, der gewissermaßen mit dem Seelischen untertauchte in den inneren Luftrhythmus. Man fühlte, wie die Gedanken durch die Atmungsströmungen gingen, und mit diesem Untertauchen der Gedanken, die da, ich möchte sagen, wie Schlangen durch die Atmungsströmungen gingen, fühlte man sein Selbst in dem Allweben der Welt drinnen, und man sprach dann das, was aus dieser Empfindung heraus sich offenbaren konnte, in gewissen Worten und Sprüchen aus. Und so bildete sich aus dem veränderten Atmungprozeß heraus, indem man die Worte, die von diesem Atmungsprozeß getragen wurden, gewissermaßen abhob, so bildeten sich die mantrischen Sprüche heraus, die Mantrams. Und während in älteren Zeiten das Wesentliche der Atmungsprozeß und sein Erleben war, wurden es dann diese Sprüche. Das ging in die Tradition, das ging in das historische Bewußtsein der Menschen über, und daraus entstand im wesentlichen dann der spätere Rhythmus, Takt und so weiter der Dichtung. [3]

Der Weg, der durch die drei Sinne (Sprachsinn, Gedankensinn, Ichsinn) genommen wird (zur Menschenverständigung), der wurde eben zum Zwecke der höheren Erkenntnis von dem alten, namentlich indischen Weisen in einer anderen Art genommen. Er ließ gewissermaßen die Kraft der Seele nicht durchdringen durch das Wort beim Zuhorchen, beim Sprachwahrnehmen, um durch das Wort hindurch auf den anderen Menschen begreifend zu kommen, sondern er blieb beim Worte selbst stehen. Er lebte mit seinem ganzen Seelenleben in das Wort hinein. Das führte dann zur Ausbildung solchen Lebens in Sprüchen, in den sogenannten Mantren. Es ging in der Seele eine Kraft auf an dem Hersagen und Wiederholung des Mantrams, die nun nicht hinüberführten zu andern Menschen, sondern die hineinführte in die geistige Welt. Und dann kommt man auch dahin auf diesem Wege, statt sich hinüberzuleben zum Ich des andern Menschen, sich hinaufzuleben zu den Ichen von individualisierten geistigen Wesenheiten, die uns ebenso umgeben, wie uns umgeben die Wesenheiten der sinnlichen Welt. [4]

Bei den okkulten Sprüchen ist es so, daß, wenn sie unrechtmäßig an andere kommen, sie ihre Wirkung verlieren, denn es gehört der Akt der Übertragung zur Wirksamkeit der Schule. [5]

Zitate:

[1]  GA 172, Seite 189   (Ausgabe 1964, 240 Seiten)
[2]  GA 264, Seite 214   (Ausgabe 1984, 476 Seiten)
[3]  GA 212, Seite 133f   (Ausgabe 1978, 178 Seiten)
[4]  GA 322, Seite 95f   (Ausgabe 1969, 140 Seiten)
[5]  GA 270/3, Seite 63   (Ausgabe 0, 0 Seiten)

Quellen:

GA 172:  Das Karma des Berufes des Menschen in Anknüpfung an Goethes Leben (1916)
GA 212:  Menschliches Seelenleben und Geistesstreben im Zusammenhange mit Welt- und Erdentwickelung (1922)
GA 264:  Zur Geschichte und aus den Inhalten der ersten Abteilung der Esoterischen Schule 1904 bis 1914. Briefe, Rundbriefe, Dokumente und Vorträge (1904-1914)
GA 270/3:  Esoterische Unterweisungen für die erste Klasse der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum. Band III (1924)
GA 322:  Grenzen der Naturerkenntnis (1920)