Magier

Derjenige, der sich durch Übungen, von denen der Mensch heute kaum eine Vorstellung hat, nicht nur anschauende Kenntnisse in der geistigen Welt, sondern auch Übung erworben hat im Handhaben der geistigen Kräfte, die der äußeren sinnlichen Welt zugrunde liegen, der ist im Gegensatz zum Hellseher ein Adept. Dazu gehört eine viel längere Vorbereitung als selbst zum Hellseher. Außerdem ist unsere gegenwärtige Kulturentwickelung dem Unterricht in der Handhabung der geistigen Kräfte noch viel feindlicher als dem Bestreben, durch die Erkenntnis in die geistigen Welten einzudringen. [1] Die höchste Gabe, die der Mensch auf dieser Erde erreichen kann, ist, daß er in seinen physischen Leib hinunterarbeitet. Das ist das Allerschwerste. Das heißt, seinen Atem beherrschen lernen, seinen Blutumlauf bearbeiten, die Nervenarbeit verfolgen, auch den Denkprozeß regeln. Derjenige, der auf dieser Stufe steht, heißt ein Adept, und dieser hat dann das, was man Atma nennt, an sich ausgebildet. [2] Daß der Hellseher selbst hineinsehen kann in die höheren Welten, daraus folgt noch nicht, daß er auch die Kräfte, die hereinwirken in die Sinneswelt, zu beherrschen und anzuwenden versteht. Der erst ist Magier oder Adept, der die höheren Kräfte, von denen alles physische Geschehen ein Ausdruck ist in der Welt hier anzuwenden versteht der also imstande ist, nicht nur die physischen Kräfte und die physischen Mächte zu Rate zu ziehen, wenn es sich um irgend etwas bei seinem Tun handelt, sondern der die höheren Kräfte spielen lassen kann. Das ist in unserer Zeit eigentlich keine Kleinigkeit, Magier oder Adept zu sein. Es gibt keine Zeit in der Menschheitsentwickelung, die dem Magiertum oder Adeptentum so durchaus entgegengesetzt war, wie unsere heutige es ist. Und man dient heute der Menschheit unter gewissen Verhältnissen am besten dadurch, daß man sich darauf beschränkt, die Erkenntnisse der höheren Welten zu verbreiten, und selbst – vielleicht mit blutendem Herzen –, auch in Fällen, wo die Anwendung magischer Kräfte vielleicht am Platze wäre, darauf verzichtet. Denn das heutige öffentliche Leben ist so fremd dem Begriffe des Magiertums, daß unter Umständen der Einfluß höherer Welten auf diese unsere Welt einen Rückschlag bedeuten würde, wenn unmittelbar magische Kräfte angewendet würden. Wer eine gewisse Übung in der Anwendung der Kräfte hat, und zu den Kenntnissen sich auch den Mechanismus angeeignet hat, der muß in gewissen Fällen sich enthalten, diese Kräfte anzuwenden, aus dem einfachen Grunde, weil es unmöglich ist, heute gegen die Strömung der Zeit in der Welt anzulaufen. Zum Magier gehört nicht nur Hellsehen und Einweihung, zum Magier gehört auch Übung. Das ist es, um was es sich handelt. Der Magier muß entsagungsvoll durch lange Zeiten hindurch gewisse Verrichtungen sich aneignen, er muß sich üben. Denken Sie nur einmal, wieviel Sie wissen können – schon in der physischen Welt –, ohne daß Sie selbst in der Lage wären, auch wirklich das ausführen zu können, wovon Sie erzählen können, wovon Sie etwas wissen. In vieles können Sie eingeweiht sein. Ganz genau können Sie wissen, wie eine Lokomotive konstruiert ist, aber ohne daß Ihnen jemand gleich den Auftrag geben würde, eine Lokomotive zu bauen, da er damit riskieren würde das Geld zum Fenster hinauszuwerfen. So ist es auch auf den höheren Gebieten. Übung macht den Magier, Wahrnehmen in den höheren Welten macht den Hellseher, Wissen und Erkenntnis der höheren Welten macht den Eingeweihten. Es war nun in den verflossenen Zeiten durchaus unstatthaft, irgendeine magische Verrichtung zu vollziehen, ohne im Einklang zu stehen mit den Leitern der Welt, der «Erden-Regierung», die man auch nennt die großen Meister der sogenannten weißen Loge. [3]

Zitate:

[1]  GA 56, Seite 27   (Ausgabe 1965, 372 Seiten)
[2]  GA 95, Seite 16   (Ausgabe 1978, 164 Seiten)
[3]  GA 101, Seite 125f   (Ausgabe 1987, 288 Seiten)

Quellen:

GA 56:  Die Erkenntnis der Seele und des Geistes (1907/1908)
GA 95:  Vor dem Tore der Theosophie (1906)
GA 101:  Mythen und Sagen. Okkulte Zeichen und Symbole (1907)