Madonna mit Kind

Eine Wiedererinnerung an die Isis ist die Madonna, die Isis erscheint wieder in der Madonna. [1] Im Goetheschen Faust treten uns drei Mütter, sitzend auf goldenen Dreifüßen, entgegen, drei Mütter! Die Menschenseele hat ihre Entwickelung durchgemacht in den Zeiten, da sie noch nicht im menschlichen Leibe war. Das, was wir heute sozusagen mit sinnlichen Augen als menschliche Befruchtung und menschliche Geburt vor uns haben, erscheint uns nur als letztes Sinnbild und Gleichnis der früheren Gestalt desselben Vorgangs. In der leiblichen Mutter sehen wir sozusagen die letzte physische Gestalt einer geistigen Mutter, die hinter ihr ist, und wir sehen diese geistige Mutter nicht befruchtet in derselben Weise, wie das heute geschieht, sondern aus dem Weltenall selber heraus, so wie wir auch unsere Seele in der höheren Erkenntnis befruchtet haben aus dem Weltenall heraus. Wir sehen zu immer geistigeren Gestaltungen der Befruchtung und Fortpflanzung zurück. Daher spricht man, wenn man in wahrhaft geisteswissenschaftlichem Sinne spricht, nicht bloß von einer Mutter, sondern von den Müttern, und stellt sich vor, daß das, was als sinnliche Mutter heute vor uns steht, die letzte Ausgestaltung ist für die geistig-seelische Gestalt aus dem geistigen Reiche. In der Tat gibt es Abbildungen der Isis, welche uns nicht eine Mutter, sondern drei Mütter darstellen. Vorn haben wir eine Gestalt, die Isis mit dem Horuskinde an der Brust, wie auch die ältesten Madonnen dargestellt sind. Aber hinter dieser Gestalt haben wir in gewissen ägyptischen Darstellungen eine andere Gestalt, eine Isis, die auf dem Haupte die bekannten beiden Kuhhörner hat und Geierflügel trägt, das Henkelkreuz dem Kinde reichend. Da sehen wir, was vorn physisch, menschlich ist, hier schon mehr vergeistigt. Hinter dieser sehen wir noch eine dritte, die den Löwenkopf trägt, darstellend eine dritte Stufe der menschlichen Seele. So erscheinen uns diese drei Isisbilder hintereinander. Unsere menschliche Seele trägt in der Tat drei Naturen in sich: eine willensartige Natur, ihre in den tiefsten Gründen befindliche Wesenheit, eine gefühlsartige Natur und eine weisheitsartige Natur. Das sind die drei Seelenmütter; sie treten uns in den drei Gestalten der ägyptischen Isis entgegen. Diejenigen, welche etwas von der sogenannten alten Zahlenlehre verstanden, haben immer gesagt, und das entspricht einer tiefen Wahrheit, die heilige Dreizahl stelle dar das Göttlich-Männliche im Weltenall, und bildlich werde diese heilige Dreizahl dargestellt durch die Weltenkugel und die beiden Kuhhörner, die, wenn man will, eine Art von Abbild der Madonnensichel sind, aber eigentlich einen Ausdruck für die fruchtbare Wirkung der Naturkraft darstellen. [2]

Was so als das Isis-Symbol durch die ägyptische Entwickelung gegangen ist, wurde aufgenommen von der neueren Zeit und umgestaltet gemäß dem Fortschritt, den die Menschheit gemacht hat durch die Erscheinung des Christus Jesus auf der Erde, denn in dem Christus Jesus war das große Vorbild für alles das gegeben, was die menschliche Seele aus sich selber gebären soll.

Diese menschliche Seele in ihrer Befruchtung aus dem Weltengeist heraus wird in der Madonna versinnlicht. In der Madonna tritt uns daher gleichsam wiedergeboren die Isis entgegen, in entsprechender Weise gesteigert und verklärt. [3]

Wir können weit zurückgehen und wir würden im Grunde genommen das Madonnenproblem in aller Welt finden. Wir können nach dem alten Indien gehen und würden die Göttin mit dem Krishna-Kinde an der Brust finden. [4]

Mit der geschlechtlichen Fortpflanzung trat erst die Einverleibung des Ich im ersten Keime in die Menschheit ein. Erst als dem Menschen mit der geschlechtlichen Fortpflanzung sein Ich ausgeliefert wurde, da erst zogen Krankheit und Tod in die Menschheit ein. Damals wurde das Menschenwesen nicht von seinesgleichen befruchtet, sondern so, wie es heute atmet, so nahm es damals die Stoffe aus seiner Umgebung in sich auf; und in dieser Umgebung waren die Kräfte der Befruchtung enthalten. Und das waren gesunde Kräfte im Menschen selber und in dem, was er als seinesgleichen hervorbrachte. Die alten ägyptischen Priester aber wußten das, und sie sagten sich: Je weiter man das Anschauen der Menschen zurücklenkt in frühere Zustände, desto mehr bringt man in ihn die Bedingungen, wo es keine Krankheiten gibt. Schon das Anschauen der alten atlantischen Göttergestalten konnte gesundend wirken, mehr aber noch war das der Fall, wenn die Priester die Gesichte so lenkten, daß der Tempelschläfer jene uralten Menschengestalten vor sich hatte, die aus der Umgebung heraus ihre Befruchtung erhielten. Da stand vor ihm die hervorbringende Frau, die Frau mit dem Kinde, die da jungfräulich ist, die Göttin, die in jener lemurischen Zeit eine Genossin der Menschen war, und die mittlerweile dem Blick der Menschheit entschwunden ist. Die nannte man die heilige Isis im alten Ägypten. Die Menschheit konnte diese Isis normalerweise nur damals sehen, als der Tod noch nicht eingezogen war. Und als die Isis nicht mehr die sichtbare Genossin der Menschheit war, als sie in den Kreis der Götter entrückt wurde, da interessierte sie sich immer noch aus der geistigen Welt heraus für die Gesundheit der Menschen, so sagten die Priester. Und wenn man den Menschen in abnormer Weise, so wie im Tempelschlaf, zu einer Anschauung jener alten Gestalten, jenes heiligen Isisbildes brachte, dann wirkte die Göttin immer noch gesundend, denn sie ist das Prinzip im Menschen, was da war, bevor die sterbliche Hülle den Menschen umgab. Ihren Schleier hat noch kein Sterblicher gehoben, denn sie ist die Gestalt, die da war, als der Tod überhaupt noch nicht in die Welt gekommen war. Sie ist das im Ewigen Wurzelnde, sie ist die große heilende Wesenheit, die die Menschheit wieder erringen wird, wenn sie sich aufs neue vertiefen wird in die spirituelle Weisheit. [5]

So sehen wir, was geblieben ist in jenem wunderbaren Symbolum der jungfräulichen Mutter mit dem Kinde, die sich im Madonnenbilde, wir können es auf geisteswissenschaftlichem Boden mit aller Kraft sagen: in dem gesundend wirkenden Madonnenbilde erhalten hat so. Denn das Madonnenbild ist – in jenen Grenzen, die erörtert worden sind – ein Heilmittel. Wenn es so behandelt wird, daß die menschliche Seele noch eine Nachwirkung hat, wenn sie im Schlafe liegt und etwa träumen kann von diesem Madonnenbilde, dann hat dieses auch heute noch eine heilende Kraft. [6]

Zitate:

[1]  GA 106, Seite 19   (Ausgabe 1978, 180 Seiten)
[2]  GA 57, Seite 382ff   (Ausgabe 1961, 434 Seiten)
[3]  GA 57, Seite 385   (Ausgabe 1961, 434 Seiten)
[4]  GA 57, Seite 378   (Ausgabe 1961, 434 Seiten)
[5]  GA 105, Seite 40ff   (Ausgabe 1983, 208 Seiten)
[6]  GA 105, Seite 42   (Ausgabe 1983, 208 Seiten)

Quellen:

GA 57:  Wo und wie findet man den Geist? (1908/1909)
GA 105:  Welt, Erde und Mensch, deren Wesen und Entwickelung sowie ihre Spiegelung in dem Zusammenhang zwischen ägyptischem Mythos und gegenwärtiger Kultur (1908)
GA 106:  Ägyptische Mythen und Mysterien. im Verhältnis zu den wirkenden Geisteskräften der Gegenwart (1908)