Leonardo da Vinci

Leonardo suchte die Weltengeheimnisse zu durchdringen, suchte in origineller Art gleichsam nachzuzeichnen diese Naturgeheimnisse, und kam doch eigentlich nie zu einem solchen Schaffen, von dem er sich hätte sagen können, es sei in irgendeiner Weise zu Ende gebracht. Man muß sich in eine solche Seele hineinversetzen, die zu reich ist, um in irgendeiner Weise abschließen zu können, was sie in Angriff nahm, in eine solche Seele, auf welche die Weltengeheimnisse so wirken, daß sie, wenn sie irgendwo anfängt, von Geheimnis zu Geheimnis schreiten muß und nirgends fertig wird. Man muß diese Leonardo-Seele verstehen, die zu groß in sich war, um ihre eigene Größe je offenbaren zu können. [1]

Leonardo kommt in seine Zeit hinein mit einer Seele, die in einem früheren Dasein zu jenen Eingeweihten gehört hat, die in der alten Art sich zu den Geheimnissen des Weltanschauens erhoben hatten. Das konnte er in der Zeit, als er im 15. Jahrhundert geboren wurde, nicht ausleben. Denn man kann in früheren Verkörperungen nach der Art, wie es diese früheren Erdenleben möglich machten, sich in großer, gewaltiger Weise in die Weltengeheimnisse eingelebt haben; wie man sie in einem neuen Dasein ins Bewußtsein hereinbringt, das hängt von der äußeren Leiblichkeit ab. Ein Leib des 15. Jahrhunderts konnte nicht das an inneren Gedanken, an inneren Empfindungen und an innerer Gestaltungskraft zum Ausdruck bringen, was Leonardo in früheren Daseinsstufen in sich aufgenommen hatte. Was er von früher hatte, das wirkte nur als Kraft, aber er war unmittelbar in dem Zeitalter vor dem Aufblühen der Naturwissenschaften in einen Leib hineingebannt. Leonardo drängte es überall nach dem Geiste, denn das hatte er sich aus früheren Leben mitgebracht. [2] Wahr ist das Wort, das Leonardo da Vinci gesagt hat: Die große Liebe ist die Tochter der großen Erkenntnis. Und wer nicht erkennen will, der lernt auch nicht im wirklichen Sinne lieben. [3]

Er steht da in Erwartung der naturwissenschaftlichen Weltanschauung; aber er kann sie noch nicht selber haben. Nehmen wir seine Schriften: Auf jeder Seite springen Dinge hervor, welche die Menschen im Laufe der nächsten drei Jahrhunderte erst wieder finden und manchmal selbst bis heute noch nicht gefunden haben. Leonardo hatte die wunderbarsten Ideen, die zu seiner Zeit oft gar keine Wirkung gehabt haben. Leonardo ist zugleich umfassender Maler, umfassender Musiker, umfassender Philosoph, umfassender Techniker. Er hat dies in sich vereinigt, weil seine Seele aus der alten Zeit mit großen Fähigkeiten herüberkommt und nun in der neuen Zeit überall «tippen» kann an die Dinge, aber nicht hinein kann. Und so erscheint dann, menschlich gesehen, Leonardo wie eine tragische Gestalt. [4] Solche Menschen sind vor allem ein Beweis dafür, daß der Mensch mit seiner Seele im übersinnlichen Dasein steht, und daß solche Seelen mit dem übersinnlichen Dasein etwas auszumachen haben und daß nur ein «Abfallprodukt» das ist, was sie der äußeren Welt übergeben von dem, was sie im ganzen durchzumachen haben. Wenn wir hinschauen auf Geister wie Leonardo, so können wir sagen: Rätselvoll treten sie ins Dasein, weil sie ein Größeres auszuleben haben, als ihnen ihr Zeitalter geben kann. Weil sie Früheres herüberbringen, treten Seelen wie Leonardo nicht nur in unscheinbarem Stande ins Dasein, sondern sogar so, wie Leonardo ins Leben tritt. Von einem mittelmäßigen Vater, und geboren von einer Mutter (einer Bäuerin), die bald überhaupt ganz aus dem Gesichtskreis verschwindet, nachdem sie das natürliche Kind geboren hat, ward Leonardo erzogen unter mittelmäßigen Leuten. So sehen wir ihn ganz auf sich selbst gestellt und das zum Ausdruck bringend, was er aus früheren Leben herübergetragen hat. Gerade wenn wir auf die ungünstigen Verhältnisse seiner Geburt hinsehen, erkennen wir, daß sie nicht verhinderten, den größten Seeleninhalt zur Offenbarung kommen zu lassen. [5]

Ein ungeheuer interessantes Beispiel ist für die seherische Beobachtung zum Beispiel Leonardo da Vinci. Dieser ist ein Geist von so großer, umfassender Gewalt, wie wirklich wenige Geister dieses Ranges auf Erden; aber was er im Grunde genommen wirklich äußerlich geleistet hat, ist im Verhältnis zu dem, was er gewollt hat, vielfach unvollendet geblieben. Es hat eigentlich keiner der ähnlichen Geister so viel unvollendet gelassen wie gerade Leonardo. Und die Folge war, daß ungeheuer vieles eingegraben war durch Leonardo da Vinci in die Mondensphäre. Wenn man das viele, heute noch von Leonardo Herrührende, in der Mondensphäre Eingegrabene betrachtet, da hat man etwas, wie es in der Erdensphäre überhaupt nicht vollzogen werden konnte. Wenn man nun die ganze Zeit verfolgt, die auf Leonardo da Vinci folgt, dann zeigt sich, daß Leonardo da Vinci in einer ganzen Reihe ihm folgender Geister weiterwirkte. Das ganze folgende Zeitalter steht unter dem Einfluß Leonardos. Und da zeigt es sich nun, daß es die eingegrabenen Unvollkommenheiten sind, die nun inspirierend gewirkt haben in die Seelen der Nachfolger. [6]

Die Liebe zur Persönlichkeit, alles was damit zusammenhängt, hat seine guten und schlechten Seiten. Das brachte auch die Renaissance mit, als sie Menschen hervorbrachte, die ganz in der Persönlichkeit lebten. Es hat sich in jenen Zeiten alles abgespielt im Zeichen der Geister der Persönlichkeit, der Archai. Die ganze Geschichte ist damals (auch) durchsetzt von den schlimmen Geistern der Persönlichkeit. Diese Epoche ist vorbei. Wir leben in der Zeit der Archangeloi, mit Gedanken, die hinaufreichen können in die Region, wo die Archangeloi und die Gegner der Archangeloi sind. Die Gegner der Archangeloi durchsetzen nicht mehr so wie früher die Archai große Persönlichkeiten. Es gibt keine Persönlichkeiten mehr, die wie Leonardo da Vinci in Verbindung stehen mit den guten Geistern der Persönlichkeit, oder wie Papst Alexander VI. (Borgia) in Verbindung mit den schlimmen (siehe auch: Asuras). [7]

Zitate:

[1]  GA 62, Seite 361   (Ausgabe 1960, 499 Seiten)
[2]  GA 62, Seite 372f   (Ausgabe 1960, 499 Seiten)
[3]  GA 141, Seite 171   (Ausgabe 1983, 200 Seiten)
[4]  GA 62, Seite 374f   (Ausgabe 1960, 499 Seiten)
[5]  GA 62, Seite 377f   (Ausgabe 1960, 499 Seiten)
[6]  GA 140, Seite 284ff   (Ausgabe 1980, 374 Seiten)
[7]  GA 130, Seite 328f   (Ausgabe 1962, 354 Seiten)

Quellen:

GA 62:  Ergebnisse der Geistesforschung (1912/1913)
GA 130:  Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit (1911/1912)
GA 140:  Okkulte Untersuchungen über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt. Die lebendige Wechselwirkung zwischen Lebenden und Toten (1912/1913)
GA 141:  Das Leben zwischen dem Tode und der neuen Geburt im Verhältnis zu den kosmischen Tatsachen (1912/1913)