Lebenskraft

Wie ein lebendes Wesen sich entwickelt, hängt davon ab, aus welchem Vater- oder Mutterwesen es entstanden ist, oder mit anderen Worten, welcher Art es angehört. Die Stoffe, aus denen es sich zusammensetzt wechseln fortwährend; die Art bleibt während des Lebens bestehen und vererbt sich auf die Nachkommen. Die Art ist damit dasjenige, was die Zusammenfügung der Stoffe bestimmt. Diese artbildende Kraft soll Lebenskraft genannt werden. [1] Diese Lebenskraft ist im Lebensäther verankert. [2] Denken Sie sich einmal: die Vital-, die Lebenskräfte werden in Ihnen lebendiger, als sie im sogenannten normalen Zustande sind, lebendiger zum Beispiel im Fieber, lebendiger, als Ihnen möglich ist, sie zu beherrschen. In all diesen Fällen, in denen Sie nicht aufkommen, nicht die Oberhand gewinnen über die in Ihnen wirkenden Naturkräfte, hört das Bewußtsein auf oder wenigstens geht das Bewußtsein in einen abnormen Zustand über. Daraus folgt aber doch unmittelbar, daß dasjenige, was im Organismus das Leben erregt, und dasjenige, was im Organismus Lebenskräfte sind, nicht zu gleicher Zeit die Kräfte des Bewußtseins sein können. Unsere Nerven-Sinnesprozesse sind Prozesse, welche ganz gleichwertig sind mit dem, was in unserem Organismus vorgeht, wenn er ein Leichnam ist. Sie sehen, es ist notwendig, daß in das menschliche Leben hereinspielt der Sterbeprozeß, der Zerstörungsprozeß. Ohne daß dieser Zerstörungsprozeß in die menschliche Organisation hereinspielte, würde sich der Mensch nicht hinentwickeln können zur Helligkeit des Bewußtseins. [3] Der Ätherleib muß ja so eingerichtet sein, daß er alle diejenigen Lebenskräfte hergeben kann, die der Mensch bis ins höchste Alter in Anspruch nehmen muß. [4]

Im Anfang des 19. Jahrhunderts sprach man noch von Vital- oder Lebenskraft. Natürlich kann man mit einem solchen Abstraktum nichts anfangen, dann erst begreift man die Sache, wenn man ins Konkrete hineingeht, wenn man die sieben Lebensprozesse voll erfaßt, dann hat man die Wirklichkeit. [5]

Zitate:

[1]  GA 9, Seite 35   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[2]  GA 171, Seite 299   (Ausgabe 1964, 376 Seiten)
[3]  GA 196, Seite 24f   (Ausgabe 1966, 305 Seiten)
[4]  GA 159, Seite 278   (Ausgabe 1980, 388 Seiten)
[5]  GA 170, Seite 152   (Ausgabe 1964, 276 Seiten)

Quellen:

GA 9:  Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung (1904)
GA 159:  Das Geheimnis des Todes. Wesen und Bedeutung Mitteleuropas und die europäischen Volksgeister (1915)
GA 170:  Das Rätsel des Menschen. Die geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte (1916)
GA 171:  Innere Entwicklungsimpulse der Menschheit. Goethe und die Krisis des neunzehnten Jahrhunderts (1916)
GA 196:  Geistige und soziale Wandlungen in der Menschheitsentwickelung (1920)