Kultus

Die Handlungen des Kultus sind die von Weihe durchsetzten künstlerischen Taten der Urmenschheit. Es steigerte sich hinauf die künstlerische Tat zur Kultustat, die Verherrlichung des göttlichen Wesens durch den sinnlichen Stoff zur Hingabe an das göttliche Wesen durch die Kultushandlung. [1] Ein Kultus entsteht nicht dadurch, daß man ihn ausdenkt, er entsteht dadurch, daß er das Abbild ist von demjenigen, was in der geistigen Welt vorgeht. [2]

Dasjenige, was sich in den Kultformen, seien sie nun gegeben in der Zeremonie, seien sie gegeben im Worte, ausspricht, das ist ein Abbild von wirklichen Erlebnissen in jener Welt, die der Mensch in seinem vorirdischen Dasein durchgemacht hat, wenn er auf dem zweiten Teile des Weges zwischen dem Tode und einer neuen Geburt ist, bis zum Herabsteigen zum Erdenleben. In dem Gebiete, das da der Mensch durchmacht, liegt die Welt, liegen die Ereignisse, liegen die Wesenhaftigkeiten, die ein wirkliches Abbild finden in den echten, wahren Kultformen. Was empfindet daher derjenige, der den Kultus miterlebt, mit dem andern, mit dem er von irgendeinem Karma zusammengeführt wird – und das Karma ist so verwickelt, daß man überall Karma voraussetzen darf, wo wir mit Menschen zusammengeführt werden? Gemeinsame Erinnerungen an das vorirdische Dasein erlebt er mit ihm zusammen. Das taucht in den unterbewußten Tiefen der Seele auf. Das ist eine mächtige Bindung, das ist ein wirkliches Hereinholen nicht nur der Bilder, sondern der Kräfte der übersinnlichen Welt in die sinnliche. Deshalb bindet Kultus. [3]

Dasjenige, was der alte Jogi erlebte und überhaupt derjenige erlebte, der sein Dasein innerhalb älterer Kulturen hatte, war ein Untertauchen in das Gefühlsleben, aber nicht so, daß die Verschwommenheiten des Gefühlslebens eintraten, sondern daß wirklich die volle Klarheit des Vorstellungslebens da war und dennoch das Fühlen nicht nur nicht ausgelöscht war, sondern sogar intensiver auftrat als im gewöhnlichen Alltagsleben, und es wurde durchtränkt dadurch alles dasjenige, was im Alltagsleben, ich möchte sagen, nüchtern, prosaisch aufgefaßt wurde. Indem sie sich zu gleicher Zeit metamorphosierten, indem sie sich vertieften, nahmen die Vorstellungen andere Gestaltungen an, und so durchtränkten sich diese umgewandelten Vorstellungen mit solchem gefühlsmäßigem Inhalt, daß aus diesem gefühlsmäßigen Inhalt der Wille unmittelbar angeregt wurde und von diesen alten Menschen etwas vollzogen wurde, was wir heute in einer abstrakteren Form vollziehen, wenn wir irgend etwas, was wir in der Seele tragen, verwenden zum aufzeichnen oder aufmalen. Solches im Jogasystem Ergriffenes wurde so intensiv innerlich erlebt, daß es eine Selbstverständlichkeit war, nicht stehenzubleiben bei etwa dem bloßen Zeichnen oder Malen, sondern es umzugestalten in äußere, durch äußere Gegenstände hergestellte Symbolik. Hier haben Sie den psychologischen Ursprung alles desjenigen, was in den alten Kulturen als Kultushandlungen auftrat. Innerlich zu begreifen hat man dasjenige, was menschlicher Antrieb für Kultushandlungen war, und man begreift, wie der alte Mensch nicht etwa aus Kinderei heraus, sondern aus seiner Art des Erkennens heraus dazu gekommen ist, Kultushandlungen zu vollziehen und in ihnen etwas Reales zu sehen, weil er wußte, dasjenige, was er der Handhabung seines Kultus einbildet, das ist von innen heraus gestaltet dasjenige, was im Grunde genommen entspringt einer Erkenntnis, wo der Mensch nicht mehr abgesondert dasteht, sondern mit der Wirklichkeit verbunden ist. Man bekommt erst ein psychologisches Verständnis für diese Kulte, wenn man sich einläßt auf inspirierte Erkenntnis. Diese Dinge dürfen eben nicht in der äußerlichen Weise erklärt werden, wie das im allgemeinen geschieht. [4] Ein Kultus ist esoterisch. Über ein Ritual kann man nicht demokratisch abstimmen. Natürlich kann ein Ritual, wenn es einmal da ist, von einem Kollegium gepflegt werden, dann müßte das Kollegium einig sein. Eine Kultushandlung ist nur in esoterischen Kreisen möglich, wenn sie etwas sein soll. [5]

Zitate:

[1]  GA 307, Seite 24   (Ausgabe 1973, 284 Seiten)
[2]  GA 236, Seite 283   (Ausgabe 1988, 310 Seiten)
[3]  GA 257, Seite 113f   (Ausgabe 1965, 230 Seiten)
[4]  GA 324, Seite 92f   (Ausgabe 1972, 154 Seiten)
[5]  GA 300b, Seite 56f   (Ausgabe 1975, 0 Seiten)

Quellen:

GA 236:  Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Zweiter Band (1924)
GA 257:  Anthroposophische Gemeinschaftsbildung (1923)
GA 300b:  Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule. Band II (1919-1924)
GA 307:  Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung (1923)
GA 324:  Naturbeobachtung, Experiment, Mathematik und die Erkenntnisstufen der Geistesforschung (1921)