Ich-Bewußtsein

Wir wissen, daß der Mensch sein Ich-Bewußtsein auf der Erde erreicht, die Angeloi erlangen es in der Elementarwelt und die Archangeloi in der Astralwelt. [1] Die Seelen, die heute verkörpert sind, haben im Grunde genommen erst vor sehr kurzer Zeit jenes Stadium durchgemacht, durch das der Mensch zu einer Art wirklichen Ich-Bewußtseins vorrückt. Dieses Bewußtsein hat sich allerdings im Laufe der Entwickelung vorbereitet schon seit der alten atlantischen Zeit. [2] Es ist verbunden damit, daß der Mensch zu seinem in sich selber abgeschlossenen Ich-Gefühl, zu seinem rechten Ich-Bewußtsein nur auf diese Weise hat kommen können, daß die Menschenseele abgeschlossen war von der übersinnlichen Welt. Dieses Ich-Bewußtsein wird sich immer mehr und mehr, je mehr der Mensch der Zukunft entgegengeht, in dem menschlichen Inneren befestigen. So sehen wir, daß jenes eigentliche Ich-Bewußtsein, das der Mensch heute hat, gar nicht über so viele Inkarnationen reicht, als man gewöhnlich glaubt. Daher brauchen wir uns auch nicht zu verwundern, da das Ich-Gefühl in inniger Weise zusammenhängt mit dem Gedächtnis, daß heute für viele Menschen noch nicht eingetreten ist dasjenige, was man nennen kann eine Rückerinnerung an die früheren Inkarnationen. Aber jetzt stehen wir an dem Übergang, wo der Mensch sein Ich-Gefühl ausgebildet hat und wo sich die Kräfte ausbilden, die bewirken, daß für die nächsten Inkarnationen die Notwendigkeit eintritt, sich an die früheren Inkarnationen zu erinnern. Das ist das eine, was wir uns sagen müssen aus dem ganzen Charakter des großen Umschwunges heraus, der jetzt stattfindet (Ablauf des finsteren Zeitalters, siehe: Kali Yuga). Das andere ist aber, daß eben das Ich dieses alles durchgemacht hat, um immer mehr und mehr auf sich selber zu bauen, selbständiger und selbständiger zu werden. Dieses Bauen auf sich selber von Seiten des Ichs ist wiederum etwas, was eintreten wird, was kommen wird für alle Seelen, was aber wiederum zum Verderben sein wird für diejenigen Seelen, welche nicht Bekanntschaft machen mit den spirituellen Weistümer (als Orientierungshilfen den neuartigen Erscheinungen gegenüber). Denn diese Seelen werden das Individueller- und Individueller-Werden empfinden wie eine Vereinsamung. Diejenigen dagegen, die sich bekannt machen werden mit den großen Geheimnissen der geistigen Welten, werden dadurch die Möglichkeit finden, im Geistigen immer mehr und mehr Bande zu schließen von Seele zu Seele. Die alten Banden werden sich immer mehr auflösen und neue werden geschlossen werden müssen. [3]

Im Grunde genommen ist erst gegen das Ende der atlantischen Zeit der noch weit außer dem physischen Leib befindliche Teil des Ätherleibes nach und nach hineingezogen in den physischen Leib. Und erst indem diese eigentümliche Organisation sich herausgebildet hat, die wir jetzt als die normale mit dem hellseherischen Bewußtsein erkennen, daß nämlich der physische Leib und der Ätherleib sich ungefähr decken, erst dann ist die Möglichkeit für den Menschen gegeben worden, das Ich-Bewußtsein zu entfalten. [4] Daß wir uns auf der Erde das Ich-Bewußtsein aneignen können, dazu muß unser physischer Leib mit der Gehirnorganisation ein Spiegelapparat sein. [5]

Innerhalb des Eigenwesens des Denkens liegt wohl das wirkliche Ich, nicht aber das Ich-Bewußtsein. Dieses tritt dadurch auf, daß im allgemeinen Bewußtsein sich die Spuren der Denktätigkeit eingraben. Durch die Leibesorganisation entsteht also das Ich-Bewußtsein. Man verwechsle das aber nicht etwa mit der Behauptung, daß das einmal entstandene Ich-Bewußtsein von der Leibesorganisation abhängig bleibe. Einmal entstanden, wird es in das Denken aufgenommen und teilt fortan dessen geistige Wesenheit. [6] Das Ich ist eine ganz andere Gegenständlichkeit als alles andere, was wir erfahren können, nämlich als Subjekt und Objekt zusammenfallend. Das haben auch die Mystiker aller Zeiten, die in symbolischer Sprache gesprochen haben, immer angedeutet in dem Bild der sich selbst erfassenden, sich in ihren Schwanz beißenden Schlange. Diejenigen, die dieses Symbol gebrauchten, waren sich klar, daß sie in dem Gegenstand, den sie vor sich hatten, gleichwohl sich selber anschauten. [7]

An der Außenwelt lernt das Kind sich selbst kennen, und das ganze Leben besteht eigentlich in den ersten Jahren darin, daß das Kind sich von der Außenwelt unterscheiden und an der Außenwelt sich selber kennenlernt. Wenn das Kind genügend viele solcher Stöße mit der Außenwelt erlebt hat, ergibt sich das als Resultat, daß es sich «Ich» nennt. Es kann aber dieses Ich-Bewußtsein durch nichts anderes aufrecht und rege erhalten werden als dadurch, daß Kollisionen stattfinden. Aus einer unbefangenen Betrachtung zum Beispiel des Momentes des Aufwachens schon kann der Mensch erfahren, wie das Ich-Bewußtsein doch nur rege erhalten werden kann durch Kollisionen. [8]

Daß wir unser Ich jeden Morgen mit aller Deutlichkeit wieder in unser Bewußtsein hereinkommen sehen, das rührt davon her, daß wir jeden Morgen in denselben Leib untertauchen. Der erweckt uns durch die Kollision, in die wir mit ihm kommen, jeden Morgen unser Ich-Bewußtsein von neuem. Wir sind den ganzen wachen Tageszustand hindurch in das eigene Innere hineingeschoben, und an dem Gegendruck unseres Leibes entzündet sich unser Ich-Bewußtsein. Unser Ich steckt eben im physischen Leib, Ätherleib und im Astralleib und hat fortwährend Kollisionen mit diesen. Durch die Kollisionen des Ich mit der Leiblichkeit werden fortwährend Beschädigungen, gewissermaßen kleine Zerstörungen in unserer Leiblichkeit hervorgerufen. Unser ganzes Ich-Bewußtsein könnte sich nicht entwickeln, wenn wir nicht mit der Leiblichkeit zusammenstoßen würden und diese dadurch zerstörten. Und die Summe dieser Zerstörungen ist auch in Wahrheit nichts anderes als das, was den Tod in der physischen Welt hervorruft. [9] Es bleibt das, was der Mensch fortwährend an Zerstörung leistet, in seinem Astralleib, Ätherleib und physischen Leib bestehen. Er zerstört sie fortwährend, ist aber nicht in der Lage, irgend etwas zu deren Ausbesserung zu tun. Auf der Erde gibt es für den Menschen nur die Möglichkeit, die Kräfte zu immerwährender Wiederherstellung des Ich zu gewinnen; die anderen Glieder der Menschennatur müssen ihre Kräfte aus anderen Welten holen, als die Erde ist. [10] (Siehe: Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt). Wir stoßen gewissermaßen an dasjenige, was uns die Raumeswelt gibt, und gewinnen dadurch unser Ich-Bewußtsein für das Leben zwischen Geburt und Tod. Wir stoßen an das, was wir selbst erlebt haben zwischen Geburt und Tod im letzten Leben, und haben dadurch unser Ich-Bewußtsein für das Leben zwischen Tod und neuer Geburt. [11] Von der Außenwelt werden die Sinneswahrnehmungen angeregt, aber in diesen drinnen lebt das Ich. Wir erfahren das Ich von außen herein. Wir atmen gewissermaßen das Ich mit den Sinneswahrnehmungen ein. Das Ich ist eigentlich im Verhältnis zu diesem physischen Organismus in der Außenwelt gelegen und streckt gewissermaßen seine Fangarme nach unserem Inneren vor, zunächst im Vorstellen, nach dem astralischen Leibe oder bis zum astralischen Leibe. Durch die sorgfältige Erkenntnis desjenigen, was im Menschen vorgeht, ist es möglich, sich eine Vorstellung zu verschaffen von der Eingliederung dieses Ich, wie es auf der einen Seite in der Außenwelt ist, auf der anderen Seite im Inneren. Denken Sie sich einmal, Sie treffen einen Menschen auf der Straße, da haben Sie die Sinneswahrnehmung des Menschen. Ihr Ich ist darinnen, aber gleichzeitig tritt die Erinnerung auf von innen heraus: Sie erkennen den Menschen wieder. Die Erinnerung ist da von innen kommend, und von außen kommen die Sinneswahrnehmungen. Die greifen ineinander. [12] Dieses Phänomen des Ineinandergreifens, das haben nun schon die alten instinktiv befähigten Geistesforscher gekannt; sie waren gewöhnt solche Dinge in Bildern aufzuzeichnen – als Schlange, die sich selber in den Schwanz beißt. Das Ich ist in der Außenwelt, und es ist sogar im physischen Leibe, aber es wird Ihnen zurückgestrahlt. Der Mensch nimmt nicht sein wirkliches Ich wahr, sondern die Rückstrahlung. Er nimmt schon die Rückstrahlung wahr, indem er die Sinnesempfindung hat. Dies sind Spiegelbilder. Das Ich lebt eigentlich in der Außenwelt und erlebt sich im Bewußtsein, indem dasjenige, was er als unbewußtes Ich hineinerregt in den Leib, ihm zurückgestrahlt wird. Stellen wir uns vor, daß wir Wahrnehmen und Vorstellen haben, so schauen wir in eine Richtung. Wenn wir Erinnerungen bilden und all dasjenige, was zu ihnen gehört, dann drehen wir uns gewissermaßen seelisch um. Es ist in der Tat, wenn wir vorschreiten von der Sinneswahrnehmung zur Erinnerung, dieser Begriff des seelischen Umdrehens ein wichtiger Begriff: seelisches Umwenden; denn wenn Sie sich solch ein seelisches Umwenden vorstellen, so bekommen Sie ja einen inneren Begriff von Beweglichkeit. [13] Das Ich strahlt (also) durch die Sinneswahrnehmungen herein; indem es umgewendet ist (als Erinnerung) strahlt es herauf vom physischen Leib. Das Ich lebt ebenso in der Außenwelt, wie es im eigenen physischen Leibe lebt. Da hört der Unterschied zwischen Subjektiv und Objektiv ganz auf. Er tritt erst ein, wenn wir im Vorstellen sind, weil wir es nur mit Bildern zu tun haben, die sind aber an sich nichts Wirkliches. Das fühlen wir, indem wir Bilder erleben. [14] Wir reden daher von den Bildern als etwas Subjektivem, von den Vorgängen, die den Bildern zugrunde liegen, als etwas Objektivem. Aber das können wir bei den Eindrücken der Außenwelt nicht, denn die Vorgänge, in denen das Ich lebt, sind natürlich hier objektiv, ebenso die Vorgänge, durch die das Ich wirkt, indem es die Erinnerungsbilder im physischen Leibe abgibt. Das ist alles objektiv, und wenn Sie wollen, alles subjektiv. [15]

Das Ich-Bewußtsein darf nicht verwechselt werden mit dem Ich. Das Ich bleibt zunächst im Unterbewußtsein, könnte man sagen, unvollständig. Wie das Ich wirklich ist, wird der Mensch erst während der Vulkanzeit erfahren. Aber das Ich erlangt das Erdenbewußtsein dadurch, daß es mit dem Astralleib untertaucht in den Ätherleib und physischen Leib, zusammenstößt mit diesen. Dadurch entsteht das Ich-Bewußtsein von dem Moment an, wo eben wirklich der physische Leib so verhärtet ist, daß dieses Zusammenstoßen stark genug ist, das heißt von einem gewissen Zeitpunkt der zarten Kindheit an, bis zu dem wir uns zurückerinnern. Nun muß auch die Seele im Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt mit etwas zusammenstoßen. Nach dem Tode stößt die Seele, um also zu ihrem nunmehr geistigen Ich-Bewußtsein zu kommen, mit dem eigenen Leben zusammen, das sie in den (3) Tagen, nachdem sie durch die Todespforte geschritten ist, eben geschaut hat (siehe: Lebenstableau) und auf das sie immer wieder zurückblickt. Erst stellte sich das Leben schauend dar, dann wird es Rückblick, der immer da ist. Es ist anders, dieses Ich-Bewußtsein nach dem Tode, aber es ist keineswegs etwa schwächer. [16]

Zitate:

[1]  GA 266/3, Seite 176   (Ausgabe 1998, 545 Seiten)
[2]  GA 130, Seite 182   (Ausgabe 1962, 354 Seiten)
[3]  GA 130, Seite 189uf   (Ausgabe 1962, 354 Seiten)
[4]  GA 131, Seite 159   (Ausgabe 1958, 244 Seiten)
[5]  GA 131, Seite 163   (Ausgabe 1958, 244 Seiten)
[6]  GA 4, Seite 148   (Ausgabe 1973, 278 Seiten)
[7]  GA 59, Seite 221   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)
[8]  GA 141, Seite 34f   (Ausgabe 1983, 200 Seiten)
[9]  GA 141, Seite 36   (Ausgabe 1983, 200 Seiten)
[10]  GA 141, Seite 38f   (Ausgabe 1983, 200 Seiten)
[11]  GA 157a, Seite 43   (Ausgabe 1981, 192 Seiten)
[12]  GA 206, Seite 135ff   (Ausgabe 1967, 208 Seiten)
[13]  GA 206, Seite 138ff   (Ausgabe 1967, 208 Seiten)
[14]  GA 206, Seite 141f   (Ausgabe 1967, 208 Seiten)
[15]  GA 206, Seite 142f   (Ausgabe 1967, 208 Seiten)
[16]  GA 174a, Seite 86f   (Ausgabe 1982, 308 Seiten)

Quellen:

GA 4:  Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung – Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode (1894)
GA 59:  Metamorphosen des Seelenlebens – Pfade der Seelenerlebnisse. Zweiter Teil (1910)
GA 130:  Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit (1911/1912)
GA 131:  Von Jesus zu Christus (1911)
GA 141:  Das Leben zwischen dem Tode und der neuen Geburt im Verhältnis zu den kosmischen Tatsachen (1912/1913)
GA 157a:  Schicksalsbildung und Leben nach dem Tode (1915)
GA 174a:  Mitteleuropa zwischen Ost und West (1914-1918)
GA 206:  Menschenwerden, Weltenseele und Weltengeist – Zweiter Teil:. Der Mensch als geistiges Wesen im historischen Werdegang (1921)
GA 266/3:  Aus den Inhalten der esoterischen Stunden. Band III (1913-1923)