Ich
► Erleben des Ich

Das Selbstbewußtsein, das im Ich sich zusammenfaßt, steigt aus dem Bewußtsein auf. Dieses entsteht, wenn das Geistige in den Menschen dadurch eintritt, daß die Kräfte des physischen und des ätherischen Leibes diese abbauen. Im Abbau dieser Leiber wird der Boden geschaffen, auf dem das Bewußtsein sein Leben entfaltet. Dem Abbau muß aber, wenn die Organisation nicht zerstört werden soll, ein Wiederaufbau folgen. In der Wahrnehmung dieses Aufbaues liegt das Erleben des Selbstbewußtseins. Man kann in innerer Anschauung diesen Vorgang verfolgen. Man kann empfinden, wie das Bewußte in das Selbstbewußte dadurch übergeführt wird, daß man aus sich ein Nachbild des bloß Bewußten schafft. Das bloß Bewußte hat sein Bild in dem durch den Abbau gewissermaßen leer Gewordenen des Organismus. Es ist in das Selbstbewußtsein eingezogen, wenn die Leerheit von innen wieder erfüllt worden ist. Das Wesenhafte, das zu dieser Erfüllung fähig ist, wird als Ich erlebt.

Die Wirklichkeit des Ich wird gefunden, wenn man die innere Anschauung, durch die der Astralleib erkennend ergriffen wird, dadurch weiter fortbildet, daß man das erlebte Denken in der Meditation mit dem Willen durchdringt. Man hat sich diesem Denken zuerst willenslos hingegeben. Man hat es dadurch dazu gebracht, daß ein Geistiges in dieses Denken eintritt, wie die Farbe bei der sinnlichen Wahrnehmung in das Auge, der Ton in das Ohr eintritt. Hat man sich in die Lage gebracht, dasjenige, das man auf diese Art, durch passive Hingabe, im Bewußtsein verlebendigt hat, durch einen Willensakt nachzubilden, so tritt in diesen Willensakt die Wahrnehmung des eigenen Ich ein.

Man kann auf dem Wege der Meditation zu der Gestalt, in der das Ich im gewöhnlichen Bewußtsein auftritt, drei weitere Formen finden: 1. In dem Bewußtsein, das den Ätherleib erfaßt, erscheint das Ich als Bild, das aber zugleich tätige Wesenheit ist und als solche dem Menschen Gestalt, Wachstum, Bildekräfte verleiht. 2. In dem Bewußtsein, das den Astralleib erfaßt, offenbart sich das Ich als Glied einer geistigen Welt, von der es seine Kräfte erhält. 3. In dem Bewußtsein, (das durch einen dem Willensakt nachgebildetes Denkerlebnis errungen ist), zeigt sich das Ich als eine von der geistigen Umwelt relativ unabhängige, selbständige geistige Wesenheit. [1]

Zum vollen Bewußtsein seines Ich kann der Mensch nur dadurch kommen, daß er im höchsten Maße innerhalb seines physischen Leibes jenes Leichnam-Phantom (durch die sinnlichen Wahrnehmungen) ausbildet. Es muß sozusagen unser physischer Leib als (geistig) durchsichtige Wesenheit ganz belegt werden mit Spiegelbelag, und erst, wenn er ganz belegt ist, dann können wir uns ganz so fühlen, daß wir sagen: Ich bin ein Ich. [2] Das Ich aber bleibt leer, keine Außenwelt erfüllt es mit Inhalt, wenn dieser nicht aus dem Inneren kommt. Die Erkenntnis «Ich bin» kann daher niemals etwas anderes sein, als des Menschen intimstes Innen-Erlebnis. Es spricht also in diesem Satze etwas innerhalb der Seele, das nur von innen sprechen kann. Aber so, wie diese scheinbar ganz leere Bejahung des eigenen Selbst auftritt, so spielen sich alle höheren okkulten Erlebnisse ab. Sie werden inhalt- und lebensvoller, aber sie haben dieselbe Form. [3]

Die orientalische Weisheit ging darauf hinaus, das Ich nur ja nicht zu erleben, sondern es zu überwinden, auszulöschen. Die Selbstsucht, die Ichsucht (welche die Orientalen überwinden wollen), liegt nämlich vor dem Finden des Ich. Hat man es gefunden, dann kann man nicht mehr von der Selbstsucht, von der Ichsucht gequält werden. In dem Finden des Ich liegt die einzig wirkliche Überwindung der Selbstsucht. Und wer heute, nach dem Mysterium von Golgatha, noch fliehen will das Ich, wer heute noch dasselbe sagt, wie man im alten Indien gesagt hat, der wird zurückgeworfen aus dem Ich in die Sucht nach dem Ich, der pflegt gerade die Selbstsucht. [4]

Das Ich ist das, was wir zwar suchen können zu erreichen, aber es ist etwas höchst Variables und Flüchtiges, Flackerndes. Man kommt nur dahinter, was man in der Realität ist, wenn man sich den Erinnerungen hingibt und diese so vor sich bringt, daß man sie, während man sie sonst hinter sich hat, vor sich bekommt. Das ist ein außerordentlich wichtiger Vorgang. Im Grunde genommen ist der Mensch immer das Ergebnis seiner verflossenen Erlebnisse, die in den Erinnerungen weiterleben. Wenn er das, was er als Erlebnisse hinter sich hat, vor sich bringt, indem er es nach rückwärts der Reihe nach durchgeht, dann bringt er es vor sich und ist dann hinter der Sache. Wenn er das ernsthaft macht, nicht schematisch und geschäftsmäßig, sondern wenn er wirklich in den Dingen weiter ganz lebendig drinnen lebt, dann tritt für die Seele etwas ein, wenn diese Seele genügend auf sich achtzugeben vermag: nämlich eine Art von Grundton, als den man sich selber vorkommt. Und wenn man – was wiederum von der Entwickelung abhängt – recht sorgfältig mit sich zu Werke geht, wird man sich durch einen solchen Vorgang selten als ein süßes Wesen finden, sondern man wird sich in der Regel als ein recht bitteres Wesen vorkommen. Denn man gelangt auf diese Weise, wenn man die gehörige Aufmerksamkeit auf sich verwenden kann, in der Tat nach und nach zu dem, was man eine inspirierte Erkenntnis von sich selber nennen kann. Durch das Bittere geht es hindurch. Aber dann wird es tatsächlich so, daß man sich recht sehr als ein verstimmtes Instrument vorkommt. In der Welt der Sphärenharmonien gibt man zunächst gewöhnlich nur einen disharmonischen Ton ab. [5]

Wer das Ich in seiner Welt kennenlernen will, der muß sich eine solche Welt vor Augen stellen können, wie die alte Saturnwelt war. Diese Welt ist verdeckt, ist eine übersinnliche Welt für den Menschen. Der Mensch könnte sie auch in dem heutigen Grade seiner Entwickelung durchaus nicht ertragen. Sie ist ihm durch den Hüter der Schwelle zugedeckt, damit sie zunächst vor ihm verborgen bleibe, und es gehört ein gewisser Grad spiritueller Entwickelung dazu, um einen solchen Anblick aushalten zu können. Ohne die zwei Gemütsstimmungen, Schauder und Furcht vor der unendlichen Leere des Daseins und der Überwindung dieser Furcht, kann man überhaupt gar keine Ahnung empfinden von dem, was unserem Weltendasein als das alte Saturndasein zugrunde liegt. [6]

In dem Augenblick, wo der Mensch zu der Erkenntnis der übersinnlichen Welten hinauf sich entwickelt, tritt sofort das ein, daß der Mensch seinen physischen Leib nicht als etwas betrachtet, in dem er mit seinem Ich steckt, sondern als etwas, was er von außen anschaut, zu dem er gleichsam hingeordnet ist, und mit seinem Ich fühlt sich der Mensch ergossen in den Weltenraum. Der Mensch ist in der Tat außer sich, ist verbunden mit den Wesenheiten der Umwelt, die er sonst nur anschaut, und in gewisser Beziehung ist eine jede Seele ausgedehnt über den Makrokosmos, steht in der großen Welt da drinnen. Wiederum, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes geht und sich sein eigentliches Seelenhaftes von dem Leiblichen trennt, tritt auch sofort das auf, was man nennen kann: der Mensch fühlt sich, nachdem der Tod eingetreten ist, wie ausgegossen in den Makrokosmos, eins mit dem Makrokosmos, weil dann eben in das menschliche Bewußtsein hereintritt, was die Wirklichkeit und nicht die Maya ist. [7]

Und das ist das schwer zu fassende Geheimnis, daß das Ich eigentlich in dem Zeitpunkte, bis zu dem wir uns zurückerinnern, stehen bleibt. Es wird nicht mit dem Leibe geändert, es bleibt stehen. Gerade dadurch haben wir es immer vor uns, daß es uns, indem wir hinschauen, unsere Erlebnisse entgegenspiegelt. Das Ich macht unsere Erdenwanderung nicht mit. Erst wenn wir durch die Pforte des Todes gegangen sind, müssen wir den Weg, den wir Kamaloka nennen, wiederum zurück machen bis zu unserer Geburt, um unser Ich wieder anzutreffen, und es dann auf unserer weiteren Wanderung mitzunehmen. Der Körper schiebt sich in den Jahren vor – das Ich bleibt zurück, das Ich bleibt stehen. Das Ich bleibt aus dem Grunde stehen, weil dieses Ich eigentlich sich nicht verbindet mit dem, was vom Erdendasein an den Menschen herankommt, sondern weil es verbunden bleibt mit denjenigen Kräften, die wir in der geistigen Welt die unsrigen nennen. Das Ich bleibt da im Grunde in der Form, wie es uns verliehen ist von den Geistern der Form, Exusiai. Das Ich wartet, wartet mit alledem, was in ihm ist, die ganze Zeit, die der Mensch auf der Erde durchmacht, sieht nur hin auf die weitere Entwickelung des Menschen – wie der Mensch es sich wieder holt, wenn er durch die Pforte des Todes gegangen ist, indem er den Weg zurück macht. Das heißt, wir bleiben – in einem gewissen Sinne ist das gemeint – mit unserem Ich gewissermaßen in der geistigen Welt zurück. Dessen soll sich die Menschheit bewußt werden, dadurch, daß in einer gewissen Zeit aus jenen Welten, denen der Mensch angehört, aus den geistigen Welten, der Christus herunterkam. Wenn wir uns recht verstehen, so schauen wir durch unser ganzes Erdenleben hindurch immer auf unsere Kindheit hin, da ist zurückgeblieben das, was gerade unser Geistiges ist. [8]

Zitate:

[1]  GA 26, Seite 19ff   (Ausgabe 1976, 270 Seiten)
[2]  GA 153, Seite 120   (Ausgabe 1978, 190 Seiten)
[3]  GA 35, Seite 57f   (Ausgabe 1965, 484 Seiten)
[4]  GA 167, Seite 281f   (Ausgabe 1962, 312 Seiten)
[5]  GA 115, Seite 294f   (Ausgabe 1965, 318 Seiten)
[6]  GA 132, Seite 12   (Ausgabe 1979, 102 Seiten)
[7]  GA 129, Seite 104f   (Ausgabe 1960, 254 Seiten)
[8]  GA 165, Seite 16f   (Ausgabe 1981, 240 Seiten)

Quellen:

GA 26:  Anthroposophische Leitsätze. Der Erkenntnisweg der Anthroposophie – Das Michael-Mysterium (1924/1925)
GA 35:  Philosophie und Anthroposophie (1904-1923)
GA 115:  Anthroposophie – Psychosophie – Pneumatosophie (1909/1911)
GA 129:  Weltenwunder, Seelenprüfungen und Geistesoffenbarungen (1911)
GA 132:  Die Evolution vom Gesichtspunkte des Wahrhaftigen (1911)
GA 153:  Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt (1914)
GA 165:  Die geistige Vereinigung der Menschheit durch den Christus-Impuls (1915/1916)
GA 167:  Gegenwärtiges und Vergangenes im Menschengeiste (1916)