Goetheanismus

Das, was Platonismus im Griechentum ist, das ist Goetheanismus für den fünften nachatlantischen Zeitraum. Die Länge eines Kulturzeitraums, das sind 2160 Jahre, das ist ungefähr auch die Zeit, die verfließt zwischen Plato und Goethe. [1] Da wo Plato im Griechentum steht, da steht Goethe innerhalb des fünften nachatlantischen Zeitraums. Wie Plato mit seiner Definition des Göttlichen als des Guten hinwies für die Auffassung des vierten nachatlantischen Zeitraums auf das Mysterium von Golgatha, so wies Goethe mit den Aussprüchen, die herausklingen aus dem «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie» hin zu einer erneuerten Auffassung des Mysteriums von Golgatha, die da kommen muß. [2]

Erst im Zeitalter Goethes ist das Zeitalter Platos mit Bezug auf eine spätere Stufe erreicht worden. Mit Goetheanismus selber war für die 5. nachatlantische Zeit der Platonismus des Griechentums, der für die 4. nachatlantische Zeit da war, wiedergekommen. [3] Der deutsche Idealismus, er muß in einer gewissen Hinsicht betrachtet werden als eine sehr schöne, großartige Abendröte. [4] Daher ist heute Goetheanismus nicht ein Goethekult, nicht eine Verehrung desjenigen, was Goethe unmittelbar geschaffen hat, sondern Goetheanismus ist die umgestaltete Fortsetzung desjenigen, was man, an Goethe sich schulend, sich innerlich durchdringend, heranentwickeln kann. [5] Aber nicht dann ist man im rechten Sinne ein Bekenner des Goetheanismus, Bekenner derjenigen Weltanschauung, die durch Goethe geworden ist, die Goethe erkraftet hat, wenn man historisch oder äußerlich biographisch das betrachtet, was Goethe selber hingeschrieben hat; sondern dann ist man im rechten Sinne ein Bekenner der Goetheschen Weltanschauung, wenn man lebendig sich in diese Weltanschauung hineinzuversetzen und weiter und weiter sie fortzusetzen vermag. [6]

Für das Verständnis des Mysteriums von Golgatha muß der Verstand erst ausgebildet werden. Er muß sich einen Ruck geben. Wenn Sie aber die Möglichkeit in sich entwickeln, die Seelenkräfte so umzugestalten, daß sie anfangen, als eine naturgemäße innere Sprache den Übergang zu der Bildhaftigkeit, nach der Goethe gestrebt hat, zu finden, dann schulen Sie Ihre Seelenkräfte so, daß sie den Weg zu der neuen Erfassung des Mysteriums von Golgatha finden. Goethe ist nicht nur wichtig durch das, was er hervorgebracht hat, Goethe ist wichtig vor allen Dingen durch dasjenige, was er aus unserer Seele macht, wenn wir uns ganz hingebungsvoll in sein innerstes Wesen vertiefen. Dann kann die Menschheit nach und nach auch bewußt jenen Weg finden vorbei an dem Hüter der Schwelle, den Goethe noch zum guten Glück unbewußt gegangen ist, daher er gerade diejenigen Werke nicht vollenden konnte, in denen er sich am tiefsten aussprechen wollte. Wenn wir alle die Dinge, die Goethe nicht vollendet hat, auf uns wirken lassen, dann haben wir das Gefühl: In dieser Nichtvollendung liegt etwas, was sich loslösen muß in der Seele der Nachfahren Goethes, und was als großes Geistgebilde vollendet werden muß. [7]

(Allerdings) wir können nicht mehr so sein, wie Schiller und Goethe waren. Wir betreiben am wenigsten richtig Goetheanismus, wenn wir Goethe nicht weiterbilden wollen, sondern ihn nur nachäffen wollen. Wenn man sich mit innerem Verständnis einläßt sowohl auf Schillers Ästhetische Briefe wie auf Goethes «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie», so merkt man, daß da etwas von einer ungeheuren Geistigkeit drinnen ist, die seither die Menschheit verlassen hat, die seither nicht mehr da ist. Das spricht nicht unmittelbar zum heutigen Menschen, das kann nur eigentlich sprechen durch das Medium der Geisteswissenschaft, die den Gesichtskreis erweitert, und die sich auch in Früheres wirklich einlassen kann. Und es wäre eigentlich am besten, wenn sich die Menschen gestehen würden: Ohne Geisteswissenschaft verstehen sie Schiller und Goethe gar nicht. Jede Faust-Szene kann Ihnen das beweisen. Bei Schiller und Goethe, bei ihren Zeitgenossen ebenso, waltet noch etwas von Nachklängen der alten, man darf sagen atavistischen Geistigkeit. [8]

Der Mensch erwartet heute das, was Schiller von der Selbsterziehung erwartet, von der Umgestaltung der äußeren Verhältnisse. So hat sich im Verlaufe von kurzer Zeit die ganze Empfindungsweise, die Form der Empfindungsweise wirklich umgedreht. [9] Bis in die Einzelheiten hinein ist es so, daß Goetheanismus in richtiger Fortsetzung unbedingt zur Anthroposophie führt. [10]

Zitate:

[1]  GA 188, Seite 118   (Ausgabe 1982, 262 Seiten)
[2]  GA 188, Seite 120   (Ausgabe 1982, 262 Seiten)
[3]  GA 188, Seite 127   (Ausgabe 1982, 262 Seiten)
[4]  GA 192, Seite 234   (Ausgabe 1964, 403 Seiten)
[5]  GA 192, Seite 236   (Ausgabe 1964, 403 Seiten)
[6]  GA 72, Seite 105   (Ausgabe 1990, 438 Seiten)
[7]  GA 188, Seite 140   (Ausgabe 1982, 262 Seiten)
[8]  GA 188, Seite 153f   (Ausgabe 1982, 262 Seiten)
[9]  GA 188, Seite 155   (Ausgabe 1982, 262 Seiten)
[10]  GA 211, Seite 91   (Ausgabe 1986, 223 Seiten)

Quellen:

GA 72:  Freiheit – Unsterblichkeit – Soziales Leben. Vom Zusammenhang des Seelisch-Geistigen mit dem Leiblichen des Menschen (1917-1918)
GA 188:  Der Goetheanismus, ein Umwandlungsimpuls und Auferstehungsgedanke. Menschenwissenschaft und Sozialwissenschaft (1919)
GA 192:  Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen (1919)
GA 211:  Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung. Exoterisches und esoterisches Christentum (1922)