Goethes vier Ehrfurchten

Goethe versuchte in seiner Art, die Symbolik für das äußere Leben fruchtbar zu machen, indem er sich sagte: Man kann dadurch, daß man in die Symbolik sich einlebt, viel haben, man kann wirklich dadurch seinen inneren Menschen weiterbringen. – Daher will er – Sie können das in seinem «Wilhelm Meister» nachlesen –, daß die Erziehung so geleitet werde, daß der Mensch in einer gewissen Symbolik aufwachse. Er will, daß sie da vor allen Dingen in den Symbolen das lernen, was er nennt die «vier Ehrfurchten» des Menschen: die Ehrfurcht vor der geistigen Welt; die Ehrfurcht vor der physischen Welt; die Ehrfurcht vor jeglicher Seele; und die Ehrfurcht, die dann erst sich aufbauen kann auf diesen drei Ehrfurchten: vor sich selber. Die letztere würden ja die meisten heutigen aufgeklärten Menschen zur Not gleich von Anfang an verstehen, nicht wahr, aber nach Goethes Anschauung soll diese Ehrfurcht erst auf Grundlage der drei anderen Ehrfurchten sich aufbauen.

Wie will Goethe, daß zunächst die Ehrfurcht vor dem Geistigen, das oben ist, in den Menschen sich einwächst? Er will, daß die Menschen eine gewisse Gebärde lernen: gekreuzte Arme über der Brust, den Blick nach oben gewendet. In einem gewissen noch sehr jugendlichen Lebensalter soll man, so meint Goethe, diese Gebärde verbinden mit dem Aneignen des Gefühls, der Ehrfurcht vor dem, was oben ist. Warum hat das eine gewisse Bedeutung? Wenn der Mensch wirklich Ehrfurcht vor dem Geistigen empfindet, er gar nicht anders kann, als dieses Gefühl bekunden. Und wenn er selbst seine Hände hinten auf dem Rücken zusammenlegte als physische Hände, es würden sich die Ätherhände vorne kreuzen, und sein Blick, wenn er ihn auch noch so sehr nach abwärts wendete als physischen Blick, sein Blick würde sich mit den Ätheraugen nach oben wenden; es ist eine Selbstverständlichkeit, daß der Ätherleib diese Gebärde annimmt. Im vierten nachatlantischen Zeitraum wußten dies die Leute, weil sie die Bewegungen des Ätherleibes an sich verspürten.

Ebenso wollte Goethe, daß der Mensch, wenn er die Ehrfurcht vor dem Leiblichen, vor allem Irdischen sich aneignet, die Hände hinten am Rücken kreuzt und den Blick nach unten wendet. Das sollte er sich an zweiter Stelle aneignen. Zum dritten verhält sich die Sache so: Die ausgebreiteten Hände mit dem nach links und rechts gewendeten Blick sollten ihm die Ehrfurcht vor jeder gleichgearteten Seele beibringen. Dieses unmittelbare Wissen davon, daß diese Gebärden, wenn sie richtig sind, nicht etwas Willkürliches sind, sondern daß sie zusammenhängen mit der geistigen Organisation des Menschen, ist seit dem 14. Jahrhundert den Menschen weitgehend verloren gegangen. Daraus folgt, daß man vorher den Menschen, denen man derartige und auch kompliziertere Gebärden beibrachte, nur das beibrachte, was sie leicht zu innerem Leben erwecken konnten. [1]

Zitate:

[1]  GA 167, Seite 85ff   (Ausgabe 1962, 312 Seiten)

Quellen:

GA 167:  Gegenwärtiges und Vergangenes im Menschengeiste (1916)