Gesicht zweites

Wenn irgend etwas sich vor die menschliche Seele hinstellt in einer deutlichen Wahrnehmung, nicht bloß als eine Vision, die unter Umständen auch falsch sein kann, sondern als eine deutliche Wahrnehmung – sei es irgendein Vorgang in der Sinneswelt, aber so daß man mit gewöhnlichen Sinnen die Sache nicht sehen kann, sei es ein Vorgang der übersinnlichen Welt –, so bezeichnet man eine solche Erscheinung im Okkultismus als Deuteroskopie oder dem zweiten Gesicht. [1] Jakob Böhme war so geartet als ganzer Mensch, daß er wie durch ein natürliches Schicksal, Karma, in gewissen Momenten seines Lebens vor sich haben konnte in völlig wachendem Zustande statt der sonnendurchhellten Welt die finstere Räumlichkeit. Dabei handelt es nicht bloß um die Finsternis in Bezug auf das Licht, sondern in bezug auf das Schweigen aller Sinnesqualitäten. Solche Menschen, die das erleben können, ohne daß sie sich dessen bewußt werden, so daß sie in einem leisen Schlafe durchaus noch sich fühlen innerhalb der sonnendurchhellten Welt, solche Menschen haben dasjenige, was man die Deuteroskopie oder second sight nennt. Und Jakob Böhme hatte das eben im höchsten Maße, das war bei ihm nur so ausgebildet, daß er es weniger auf einzelnes Irdisches bezog, sondern mehr auf die Konstitution der ganzen Erde. Jakob Böhme hatte – und zwar gerade von demjenigen Punkte aus, wo sonst die Sehstrahlen der Augen sich kreuzen, indem sie auf einen Gegenstand, der nahe oder ferne ist, hinschauen hinter diesem Punkte des Treffens der Sehstrahlen der Augen oder auch hinter dem Punkte, wo, wenn man die rechte Hand über die linke legt, nicht ein äußeres Fühlen, sondern das Fühlen des eigenen Selbstes eintritt, so daß hier es ist wie eine Wand –, Jakob Böhme hatte also dort vor sich die Finsternis, das Schweigen der Sinne. Stellen Sie sich das lebhaft vor, man habe vor sich die Finsternis. Es entspricht das ganz genau einem sinnlichen Bilde. Wenn Sie einen Spiegel vor sich haben – Sie sehen nicht, was hinter dem Spiegel ist, Sie sehen nur, was vor dem Spiegel ist. So ist es geistig bei jemandem, der so sieht wie Jakob Böhme. Da entsteht vorne dadurch, daß die Finsternis dahinter ist, etwas wie eine Spiegelwand, und man sieht das, was geistig dahinter ist, die Erdenwelt in ihrer Geistigkeit, sich spiegeln. Sie schauen also, wenn Sie dem Jakob Böhme-Typus angehören würden, in gewissen Augenblicken Ihres Lebens hinein in die Finsternis, und dadurch, daß die Finsternis Ihnen zurückstrahlt dasjenige, was geistig im Erdendasein lebt, sehen Sie die geistige Konstitution der Erde, dasjenige, was im Erdendasein vorkommt. Es ist bei Jakob Böhme ein mächtiges zweites Gesicht. Es kann bei einem anderen Menschen so sein, daß er für gewisse Augenblicke des Lebens vor sich die Finsternis hat, die ihm das physische Licht verbirgt, was ihm dann die Möglichkeit bietet, ins Geistige hineinzuschauen. Da kann er, wenn er diesen geistigen Spiegel, der einfach in dem Dasein der Finsternis besteht, sagen wir, in der richtigen Weise zu handhaben versteht, durch die inneren Kommunikationen, die zwischen allem Irdischen sind, meinetwillen die Taten oder selbst die Gedanken, wenn er in Europa ist, seines in Amerika weilenden Freundes wahrnehmen. Denn das, was man mit dem physischen Auge, mit den physischen Sinnen wahrnimmt, das sind vor allem die Sonnenwirkungen. Aber es gibt verborgene Sonnenwirkungen. Diese verborgenen Sonnenwirkungen leben in allen Dingen, leben in Mineralien, Pflanzen, Tieren, leben auch in den Menschen. Und während Sie in Europa sind, sind Sie durch die verborgenen Sonnenwirkungen, die in Ihnen sind, mit dem, was der meinetwillen selbst in Amerika lebende Freund eben auch durch diese verborgenen Sonnenwirkungen erlebt, in Kommunikation. Diese Kommunika-tionen, sie wirken im Karma. Gar manchen hat schon sein Schicksal mit irgend jemandem, den er gar nicht kennt, der während einer bestimmten Zeit in Amerika ist, zusammengeführt in der Ehe, in der Freundschaft, in der Liebe; in karmischen Wirkungen auf der Erde wirken die verborgenen Sonnenwirkungen. Hier werden die verborgenen Sonnenwirkungen wie in einem Spiegel sichtbar. Daß das ganz insbesondere dann der Fall ist, wenn man es mit Menschen zu tun hat, die abgeschlossen leben auf Inseln, in Gebirgstälern oder sonst in dieser Hinsicht günstigen Gegenden, daß da besonders das zweite Gesicht, man möchte sagen, wie alle Menschen einer solchen Gegend erfüllend auftritt, das rührt davon her, daß solche Menschen, die in einem gewissen Dasein abgeschlossen leben, leichter die innere Kommunikation wahrnehmen und dadurch partiell diese Finsternis in ihrem Leben um sich verbreiten können; daher das schottländische second sight, das westfälische zweite Gesicht, das second sight, das so schön beschrieben hat Oberlin aus dem in sich geschlossenen Steintal im Elsaß und so weiter; da treten diese Dinge auf in besonderen Lokalitäten der Erde. [2]

Das, was heute abnorm ist, das Leben in den verborgenen Sonnenwirkungen, war einstmals in einer älteren Epoche der Erdentwickelung normal und wird wiederum normal sein. Normal war es in jener Epoche der Erdenentwickelung, die als Sonnenentwickelung der Erdentwickelung vorange-gangen ist. In der war es normal, daß die Menschen überall in die Finsternis hinein wie in einen Spiegel gesehen haben, so daß sich ihnen alles Geistige zurückgestrahlt hat. Die ganze Erde hat durchgemacht jene Entwickelung, die aus ihren Kräften heraus den Menschen dazumal zum Sonnenmenschen in seiner leichten, flüchtigen Materie machte. Das war in herabgestimmtem, ganz herabgestimmtem Bewußtseinszustande. Es wird einstmals wiederkommen. Dann wird der Mensch es bei völlig wachem Zustande so halten können, daß er mit völligem Bewußtsein hineinstrahlt die Finsternis in seine Umgebung, dadurch sich selber das Spiegelbild der ganzen Welt entwirft. In älteren Zeiten hat man in gewissen Zusammenhängen ganz systematisch dieses zweite Gesicht hervorgerufen. Und jene Erzählungen, die von diesem Hervorrufen des zweiten Gesichts handeln, die sprechen von dem sogenannten Zauberspiegel. Zauberspiegel sind Instrumente gewesen zum Hervorrufen einer Faszination, eines Abdämpfens der äußeren Sensation und dadurch eines Hervorrufens der inneren Sensation als Gegenwirkung. Man hat also durch das Instrument des physischen; Spiegels die geistige Spiegelung hervorgerufen. Das, worauf es ankam, war nicht, was man im physischen Spiegel gesehen hat, sondern der physische Spiegel hat bloß die äußere Sensation abgedämpft, und man hat die innere Sensation mit diesem Zauberspiegel hervorgerufen. Dadurch ist der Glaube entstanden, daß man im Zauberspiegel selber die Empfindungen, die Gedanken der fernen Freunde und so weiter sieht. In Wirklichkeit hat man in sich den durch den äußeren sinnlich-physischen Spiegel bewirkten Seelenzustand gesehen. [3]

Zitate:

[1]  GA 143, Seite 102   (Ausgabe 1970, 248 Seiten)
[2]  GA 227, Seite 172ff   (Ausgabe 1982, 270 Seiten)
[3]  GA 227, Seite 175f   (Ausgabe 1982, 270 Seiten)

Quellen:

GA 143:  Erfahrungen des Übersinnlichen. Die drei Wege der Seele zu Christus. (1912)
GA 227:  Initiations-Erkenntnis. Die geistige und physische Welt- und Menschheitsentwickelung in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, vom Gesichtspunkt der Anthroposophie (1923)