Geistesgegenwart und imaginative Erkenntnis

Man kann sagen, zur Auffassung einer Wirklichkeit, welche der imaginativen Erkenntnis sich offenbart, gehört es, den Augenblick zu erfassen. Denn, indem sie im Bewußtsein aufleuchtet, ist sie auch wieder aus demselben ausgetreten. Es ist in dieser Welt eben alles in fortwährender Bewegung. Aus dem gewöhnlichen Leben ist die Menschenseele aber daran gewöhnt, eine Vorstellung, die für sie eine Bedeutung haben soll, durch die eigene Willkür so lange festzuhalten, als es ihr zum Ergreifen dieser Bedeutung notwendig erscheint. Das kann sie mit dem Inhalte der imaginativen Erkenntnis nicht. Sie muß sich vielmehr darauf einrichten, ihn in seinem Werden zu ergreifen. Erst wenn sie ihn erfaßt und umgewandelt hat in eine gewöhnliche Vorstellung, kann er festgehalten werden. Man kann immer nur ein in das gewöhnliche Vorstellen gekleidetes Nachbild einer übersinnlichen Anschauung so in der Seele gegenwärtig haben, daß eine Erinnerung an sie möglich wird. Noch in einer anderen Beziehung ist die Menschenseele der imaginativen Erkenntnis nicht angepaßt. Sie bedarf nämlich zu dieser Erkenntnis einer besonderen Ausbildung derjenigen Gefühlskräfte, welche sich im gewöhnlichen Leben nur in solchen Fällen äußern, in denen ihr etwas sie Überraschendes, völlig Unerwartetes gegenübertritt. Mit einer solchen Erfahrung ist im gewöhnlichen Leben mehr oder weniger das Gefühl des Erschreckens verknüpft. Im Gleichgewichte kann dieses Gefühl durch die Erwerbung jener Seelenstimmung gehalten werden, welche die Geistesgegenwart bringt, um auch Unerwartetes mit Seelenruhe über sich ergehen zu lassen. Obwohl sich die übersinnlichen Erfahrungen der imaginativen Erkenntnis nicht so verhalten, wie das Sinnlich-Überraschende, so ist doch notwendig, daß die Seele alle solche Erfahrungen in diesem Seelen-Gleichgewichte empfängt. Die Ausbildung dieser Seelenstimmung ist notwendig, wenn diese Erfahrungen nicht entweder dem Unbewußten anheimfallen sollen, oder durch Einflüsse getrübt, verfälscht werden sollen, die aus dem gewöhnlichen Seelenleben in Form von Illusionen, Träumereien, Suggestionen, Erinnerungen usw. kommen. [1]

Zitate:

[1]  GA 35, Seite 292ff   (Ausgabe 1965, 484 Seiten)

Quellen:

GA 35:  Philosophie und Anthroposophie (1904-1923)