Geistesforscher

Alles, was der Geistesforscher erkennt, das heißt ins Bewußtsein heraufhebt gerade von solchen Dingen, die in der Entwickelung der Menschheit liegen, das geht, auch wenn es nicht erkannt wird, bei den Menschen im Unterbewußten vor sich. [1]

Der Geistesforscher bringt es dahin, daß er sein Leibesleben willkürlich so gestalten kann, wie es unwillkürlich beim Einschlafen sich gestaltet. Er gebietet den Sinnen, dem gewöhnlichen Verstande Stillstand. Er erreicht dies durch Entwickelung des Willens. Und dann tritt das ein, daß man gewissermaßen willkürlich denselben Zustand hervorruft, den man sonst unwillkürlich als Schlafzustand hat. Dadurch, daß man den Willen in der angedeuteten Art entwickelt hat, tritt man bewußt aus seinem Leibe heraus; man schaut den Leib außer sich, so wie man sonst einen äußeren Gegenstand außer sich wahrnimmt. Da merkt man: In dem Menschen lebt ein wesenhafter Zuschauer seines Denkens und Tuns. In unserem Willen lebt etwas, was fortwährend uns innerlich beobachtet. Man kann diesen inneren Zuschauer leicht wie etwas bildhaft Gemeintes ansehen; der Geistesforscher kennt ihn als eine Wirklichkeit. Und wenn man diese zwei hat: den beweglichen Denkmenschen, den Äthermenschen, und diesen inneren Zuschauer, dann hat man sich in eine geistige Welt hineingestellt. Was das entwickelte Denken erreicht, sind nicht Visionen sondern geistige Anschauungen von Wirklichkeiten; was man durch den entwickelten Willen erreicht, sind nicht gewöhnliche Seelenerlebnisse, sondern es ist die Entdeckung eines anderen Bewußtseins, als das gewöhnliche ist. [2] Man lernt das ewige Wesen des Menschen so kennen, daß man es gleichsam herausgebildet hat aus dem gewöhnlichen sterblichen Menschen. [3] Bei der wirklichen Geistesforschung ist es so, daß der Mensch zu einem veränderten Bewußtsein kommt, daß er aber als normaler Mensch fortwährend neben sich steht. Der Zustand, in dem der geistige Forscher ist, der entwickelt sich nicht aus dem gewöhnlichen normalen Seelenleben heraus, wenn er richtig ist, sondern nebenher. Wenn jemand ein richtiger Geistesforscher ist, dann lebt er während seines Forschens außerhalb seines Leibes; aber sein Leib mit allen normalen Seelenverrichtungen, mit dem gewöhnlichen Verstande, der ganz und gar normal bleibt, wirkt ungestört weiter. Der Mensch bleibt, wenn er ein wahrer Geistesforscher ist, trotzdem er mit dem, was er in sich entwickelt hat, aus seinem Leibe herausgetreten ist, ein normaler Mensch, dem derjenige, der nicht selber in eine Geistesforschung eintreten kann, wahrhaftig nicht anzusehen braucht, daß er in einer anderen Welt lebt. Das ist gerade das Charakteristische, daß während des geistigen Forschens der normale Zustand des Menschen vollständig bestehen bleibt. [4]

Arbeitend erringt man sich (in der äußeren Wissenschaft) das, was man wissen soll. So ist es bei der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis nicht. Zwar ist es nicht so, daß irgend jemand glauben sollte: Ja, geisteswissenschaftliches Wissen erringt man so, daß einmal die Erleuchtung über die Seele kommt; dann sieht sie in das ganze Gebiet des Geistes hinein. So stellen es sich zwar manche Menschen vor: daß geisteswissenschaftliches Wissen errungen wird ohne alle Anstrengung. So ist es aber nicht. Was man als geisteswissenschaftlicher Forscher tun kann, ist eigentlich nicht das, was einen zur Erkenntnis führt, sondern ist nur die Vorbereitung dazu. Vorbereitung, nicht Erarbeitung wie in der äußeren Wissenschaft, ist das, was der Geistesforscher zunächst vorzunehmen hat. [5]

Wenn der Geistesforscher wirklich dahin gelangt, seinen geistig-seelischen Kern aus der physischen Leiblichkeit herauszuhülsen, dann geht mit seinem Ich-Erlebnis eine große Verwandelung vor, für die man vorbereitet sein muß, damit man nicht durch sie bestürzt wird.

Man darf nicht glauben, daß das so nett und niedlich ist, daß man außerhalb seiner Leiblichkeit schwebt und seinen Leib im Bette liegen hat, unversehrt und beruhigend. So ist es nicht. Sondern was man wahrnimmt sind die Todeskräfte, die durch das ganze Leben hindurch am Leibe an dessen Zerstörung arbeiten. Man lernt den im Leibe latenten Tod kennen. Überall lernt man die Tendenzen des Leibes kennen, auseinanderzusprühen, sich den Elementen der Erde einzugliedern; man lernt den Leib kennen, wie er sich auflösen will. [6]

Daß wir die Tendenz des Todes in uns haben, das gibt uns für das Leben zwischen Geburt und Tod die Möglichkeit des Ichbewußtseins. Man merkt das an einem ganz bestimmten inneren Vorgange, daß man im Ich, wenn man jetzt als Geistesforscher heraus ist aus dem physischen Leibe, in der Tat eine Verwandlung vor sich gehen fühlt. Aus einem Gedanken, der einen sonst im Leben immer begleitet, ohne den man wach gar nicht da ist, wird das Ich zu einer Erinnerung. Das ist der bedeutsame Übergang von dem außer-geistigen Erkennen zum geistigen Erkennen. So lernt man geisteswissenschaftlich den Tod und seine Verknüpfung mit dem Ich, so wie es im normalen Menschenleben ist, kennen. [7]

Die Eindrücke, die von der Außenwelt kommen, können weder in das Schlafleben noch in das geistesforscherische Erleben hineingenommen werden. Das bedingt für den, der Geistesforscher wird, etwas ungemein Bedrückendes, bedingt etwas, wodurch er sich getrennt fühlt von allem, woran man im äußeren Leben hängt, was man im äußeren Leben als das Wertvolle betrachtet. Man erlebt zunächst, was der Schlaf macht. Das ist schon ein bedeutsames Erlebnis. Man lernt nunmehr sogar in recht bescheidener Weise selbst dem materialistischen Denker recht geben, welcher sagt: Zum Denken ist das Gehirn notwendig, und einem Gedanken müssen gewisse Bewegungen in unserem Gehirn zugrunde liegen. Und ein jeder Einwand, der dem Materialismus gegenüber sagen würde, daß die Gedanken auch ohne das Gehirn da sein können, ist von der Hand zu weisen. Denn das Denken ist nicht das, wodurch wir uns in die geistige Welt einleben, wenn wir als Geistesforscher uns in die geistigen Gebiete begeben. Die Gedanken finden wir dort nicht. Aber das andere finden wir, wodurch der Gedanke im Gehirn erst entsteht. Hinter dem Denken nicht im Denken arbeiten die geistig-seelischen Kräfte, welche der Geistesforscher findet. Wir kommen als Geistesforscher wirklich hinter das Alltagsleben in das schöpferische Gebiet der Welt hinein. Daher lernen wir dann auch das Schlafleben verstehen, werden Teilnehmer, wie das, was hinter dem Schlafe ist, in der Nacht die abgenutzten Teile unseres Gehirnes ausbessert. Bei dieser Regenerationsarbeit an dem Leibe werden wir Zuschauer. [8]

So lebt sich der Geistesforscher in einen Zustand hinein, wo er sich in den Leib, der ihm das bewunderungswürdige Geisteswerkzeug des Denkens ist, wie in eine Kammer, wie in ein Gefängnis eingesperrt fühlt. Und er fühlt sich davon so berührt, daß er sich sagt: jetzt könntest du aus deiner inneren Tätigkeit Gedanken bilden, wenn dein Gehirn nicht wie eine schwere Substanz daläge und sich nicht aufrütteln lassen wollte zu dem, was die Seele will.

Es wird oft davon gesprochen, daß die Methoden, welche der Geistesforscher durchzumachen hat, zu einem gewissen Leiden führen. Leiden besteht immer darin, daß etwas, was man in der Seele ausüben möchte, verhindert wird. Sogar die körperlichen Schmerzen bestehen darin. Als Leiden lebt sich aus, was der Geistesforscher in seinem Werden ergreift und was Gedanke werden will, aber nicht Gedanke werden kann; denn das Gehirn taugt nur für die Gedanken, die im normalen Leben errungen werden. Vielleicht wird man gerade an dieser Stelle verstehen, daß die Erforschung des Todesproblemes doch zu einem inneren Martyrium der Seele wird, daß sie nur angestellt werden kann, weil der Mensch den notwendigen Erkenntnisdrang in sich hat, hinter die Geheimnisse des Lebens zu kommen. [9] Man lernt verzichten aus dem, was man so erlebt, durch den Leib Gedanken bilden zu wollen. Es ist ein Verzicht, den man nur durch gewisse Bitternisse erringt, die sich nur dadurch rechtfertigen, daß sie eben zu Erkenntnissen führen. – Hat man das erlebt: in bezug auf das, was man erreicht hat, keinen Ausdruck im Gedanken finden zu können, dann erlebt man es erst innerlich. Man erlebt das, was geeignet ist, zwar jetzt nicht in den Leib einzugreifen, weil der Leib es verhindert, aber was einen Keim bildet für eine neue Leiblichkeit, die wir uns auferbauen für ein nächstes Erdenleben. [10]

Noch anders stellen sich die Dinge in bezug auf den Willen. Willensimpulse empfinden wir immer im Zusammenhange mit dem Leibe. Jetzt ist aber die Seele, die in die geistige Welt eindringen will, jenseits des Leibes. Man empfindet den Willen in seiner Insichgeschlossenheit, aber wie überall anstoßend an Wände, durch die er nicht durch kann. Jetzt, wo man sich von der äußeren Welt zurückgezogen hat, bleibt einem der Wille in einer ganz ähnlichen Weise, wie einem vorhin das Ich gewesen ist: was man gewollt hat, das bleibt einem wie eine Erinnerung. Ich schildere wie sich die Erlebnisse ergeben. Man muß in diesem Falle die imaginative Anschauung schildern. Dann erlebt man in seinem gepreßten Willen etwas wie eine in diesem Willen selber drinnen steckende Moral. Eine Handlung, die uns für das äußere sinnliche Bewußtsein als böse gelten muß, erlebt man in diesem Willen so, daß sie zu dem gehört, was man selbst auszugleichen hat. Man erlebt so den Willen in der Erinnerung, daß die Kraft des Ausgleiches, was geschehen muß, weil die unmoralische Handlung das fordert, drinnen steckt in dem Willen. Man kann gar nicht anders als sagen: Was du an Unrecht getan hast, das muß sich neben dich hinstellen wie ein gespenstischer Feind, der solange neben dir stehen bleibt, bis du ihn durch ausgleichende Taten (hin)weggeschafft hast. Man erlebt das innere Wirken des Karma. Und nun tritt das Leidvolle ein: daß wir erkennen müssen, daß es viele, selbstverständlich allzuviele Taten in unserem gegenwärtigen Leben gibt, für die uns die Möglichkeiten des Ausgleiches fehlen! Von denen wissen wir nun, da wir sie in ihrer Realität erschauen, daß sie mitgehen in unser nächstes Erdenleben und dort zu unserem Schicksal beitragen. 63.136ffAus dem Grunde hüllt sich das Geheimnis des Todes in solches Dunkel, weil wir für das gewöhnliche Seelenleben zwischen Geburt und Tod von diesem Dunkel leben. Wir müssen für das gewöhnliche Tagesleben im Bewußtsein unser Unsterbliches auslöschen, damit wir im Leibe leben, mit der äußeren Sinneswelt leben, diese äußere Sinneswelt liebgewinnen und auf ihr unsere Mission ausführen können. So brauchen wir uns nicht zu wundern, daß wir das, was uns über den Tod aufklären kann, nicht innerhalb des Alltagslebens finden, für das ja gerade das Geheimnis des Todes zugedeckt sein muß. [11]

Der Geistesforscher macht ja das Seelenleben zu nichts anderem, als es schon ist. Was er erreicht, ist nur, daß er geistig anschauen, sehen kann, was sonst im alltäglichen Leben geschieht. [12] Die äußere physisch-sinnliche Welt verschwindet aus dem Horizonte des Bewußtseins in demselben Augenblick, wo der Geistesforscher wirklich das Geistig-Seelische aus dem Leiblichen heraushebt. Er kehrt immer wieder, solange es ihm vergönnt ist zurückzukehren, gestärkt und gekräftigt durch seinen Aufenthalt in der geistigen Welt; er entwickelt ein um so größeres Interesse für alles Schöne in der physischen Welt. [13]

Beim Geistesforscher tritt das ein, daß das, was man sonst in der Erinnerung hat, wie aus einer Hülle aus ihm herausschlüpft. Das, womit man sonst eins ist, und wovon man sich sagt: du hast es erlebt, das fühlt man jetzt wie ein äußeres Traumbild, wie eine Fata Morgana vor sich hingestellt. Man fühlt wie vergrößert aus einem heraustretend das, woran sich das Geistig-Seelische spiegelt. Da kommt man darauf, daß man im geistig-seelischen Erleben, in der Initiation – nicht indem man durch die Pforte des Todes geschritten ist –, es ertragen muß, statt der äußeren physischen Eindrücke, statt dem, was uns die Sinne geben, wie eine substantielle Grundlage des Erlebens sein eigenes Leben zu haben. Auf diesem hebt sich, wie auf einer Spiegelscheibe, das ab, was man geistig wahrnehmen kann. Da lernt man sich kennen, inwiefern man ein guter oder schlechter Spiegel für die geistige Welt geworden ist. Da lernt man vor allen Dingen kennen, was es heißt: wirklich vor sich zu haben, was man durchlebt hat. Denn das ist jetzt die spiegelnde Fläche, von der sich alles übrige abhebt, was sich in der geistigen Welt darbietet. In diesem Augenblick stellt sich dieses Innere wie eine ätherische Wesenheit dar, die immer größer und größer wird, weil sie innerlich verwandt ist mit dem gesamten geistigen Kosmos. Man fühlt sich wie aufgesogen werdend von dem geistigen Kosmos. In dem Augenblicke, wo man in der Initiation den physischen Leib verlassen hat, wird das von den Kräften des physischen Leibes zusammengehaltene Etwas als der ätherische Leib frei. Das aber, was frei geworden ist, hat dann das Bestreben, sich in die geistige Welt zu verbreiten, wird dadurch immer unwahrnehmbarer und unwahrnehmbarer – und man steht immer vor der Gefahr, wenn man so geistig wahrnimmt, daß das eigene Selbst, das Gedanken-Selbst, sich auflöst im geistigen Kosmos, und daß man dadurch seinen Anblick verliert, weil nach der Auflösung das Spiegelbild nicht mehr da ist. Dem wirkt entgegen, solange das Physische eben währt, der physische Leib. Denn in dem Augenblicke, wo man bedroht wäre von der Gefahr, daß das feinere Ätherische eines gewissermaßen geistigeren Leibes sich verlieren würde, macht der physische Leib seine verstärkten Kräfte geltend – und man muß wieder zurück in den physischen Leib. Das ist dann gerade so, als wenn man durch die Gewalt des physischen Leibes zurückgezwungen würde in das alltägliche Wahrnehmen, in das gewöhnliche Schauen und in die physische Art. So sehen wir, wie der Geistesforscher durch seine Erlebnisse jenen Zustand hervorruft, der sich mit dem Menschen abspielen muß, wenn er durch die Pforte des Todes schreitet. Als erstes lernt man kennen, indem man elementar den Vorgang des Todes erlebt, was sich nach dem Tode unmittelbar vollzieht. [14]

Je länger es einem gelingt, bei dem zu verweilen, was sich wie eine geistige Spiegelscheibe darstellt, und je länger man da hineinschaut, desto intensiver treten die rein gefühlsmäßigen Erlebnisse auf, welche sagen: Du mußt auf das hinschauen, was du als Unrecht getan hast, bis du es ausgelöscht hast. Das ist es in der Tat, wodurch der Geistesforscher durchgehen muß. Er muß, nachdem er die Fata Morgana des verflossenen Lebens vor seinem Blick sich ausbreitend geschaut hat, was ihn gleichgültig lassen kann, dasjenige dann erblicken, was sich davon abhebt und zu einer Summe von unzähligen Selbstvorwürfen wird, was ihm ganz anschaulich seinen Wert zeigt, wie weit er ist, und was er zu tun hat nach dem, was er verrichtet hat, um sich zum wahren Menschen erst zu machen. Selbsterkenntnis wird immer tragischer und tragischer, je weiter man in ihr fortschreitet, und daß man insbesondere alles, was man hätte nicht tun sollen, als Selbstvorwürfe vor sich hat, so daß man daran gebannt ist, daß man nicht wieder den geistigen Blick davon abwenden kann, bevor es ausgelöscht ist. [15] Man schaut hin auf die Unvollkommenheiten, die einem anhaften. Aber man erblickt auch immer mehr und mehr, wie man es machen muß, damit das Unvollkommene schwindet, damit das Unrecht getilgt wird. [16] Alles dasjenige, was man tun kann, um zu solchen Erkenntnissen zu kommen, das ist: man kann sich dazu vorbereiten; aber dann hat der Mensch zu warten. Die Art der Geisteswissenschaft bezieht sich nicht darauf, daß man losgehen kann und Erkenntnisse sammeln; sondern man kann nur die eigene Seele bereit machen; dann muß sie warten. Dann muß man, ich möchte sagen, auf den Moment warten, den man empfindet wie eine Gnadenwirkung aus der geistigen Welt heraus; man muß warten, bis die Erleuchtung kommt. Man muß verzichten gelernt haben auf das gewaltsame Erobern der geistigen Welt, man muß gearbeitet haben nur an der Entwickelung der Seele, um sich bereit zu machen zum Empfangen der Wahrheiten. Dann kommen sie im geeigneten Moment. Man muß sich darauf beschränken, sie als solche einzelne Wahrheiten hinzunehmen. Man muß sich nur klar sein darüber: wenn man Konsequenzen daraus ziehen will, so wie einzelne Menschen, dann bringt man nur Karikaturen der geistigen Welt. Die Menschen sind nicht zufrieden, solche einzelne geistige Erfahrungen zu machen, sondern ziehen weiterhin ihre Konsequenzen, bauen Systeme darüber auf. Derjenige, der erfahren ist in der geistigen Welt, der arbeitet nur an seiner geistigen Entwickelung, daß er bereit ist, zu empfangen, was sich ihm offenbart. Dann nimmt er wiederum eine solche einzelne Erfahrung hin, wartet wiederum, bis sich ihm eine andere ergibt. Wie in der äußeren sinnenfälligen Wirklichkeit auch die neue Erfahrung herankommt, so muß man warten, so muß man immer innerlich von Resignation erfüllt sein, durch die man warten kann, bis sich die einzelnen inneren Erkenntnisse ergeben. Sonst bringt man oftmals Gebilde der Phantasie zustande. Es kann allerdings der Mensch, wenn ihm sein Schicksal, ich möchte sagen, nach dieser Richtung hin günstig ist, und er warten lernt, selber zu Entdeckungen kommen. Aber er kann vor allen Dingen dahin kommen, daß er dasjenige, was geistige Entdecker ihm sagen, als Wahrheit anerkennen kann, und daß er sich die Urteile aneignet durch eine solche innerliche Entwickelung, um auch dasjenige, was ihm der andere gibt, in seiner Wahrheit einzusehen. [17]

Das Hineindringen in geistige Welten setzt ja voraus, wenn man wirklich bewußt jenseits der Schwelle kommen will, daß man in einem gewissen Sinne furchtlos werde gegenüber den Erlebnissen der geistigen Welt. Die (normale) Sinneswelt, die läßt uns, ich möchte sagen, in einer gewissen Weise in Sicherheit eingewiegt sein. Derjenige, der von dieser Sinneswelt über die Schwelle der geistigen Welt hinübergelangt in die wirklichen geistigen Welten, die zugrunde liegen unserer Sinneswelt, der macht die Erfahrung, daß gewissermaßen der bequeme, feste Erdboden nicht mehr unter ihm ist. Die geistige Welt hat nicht dieselben Kräfte der Schwere und dergleichen, die diese Sinneswelt hat. Innerhalb der geistigen Welt fühlt sich der Mensch wie auf einem wogenden Meere, und diejenige Sicherheit, die man sonst durch einen festen Standpunkt in der äußeren Sinneswelt hat durch das gewöhnliche Leben, diese Festigkeit, die muß gegeben werden durch innere Kraft, durch die man durchsteuert die geistige Welt. Außerdem müssen Sie bedenken, daß, wenn man hineingelangt in diese geistige Welt, man zunächst an diese geistige Welt nicht angepaßt ist. Man fühlt das oftmals als brennenden Schmerz, möchte ich sagen. Davor schrecken viele zurück. Nur wenn man sich gut vorbereitet, um das eine wie das andere zu erfahren, kann man über sich selbst hinauswachsen, kann sich hinauswagen auf das offene Meer der geistigen Erkenntisse, auf dem man den Führer, den geistigen Führer in sich selber haben muß. [18]

Gerade dadurch, daß das Geistige für die Menschen eine Wirklichkeit werden wird, gerade dadurch werden die Menschen einander näher kommen. Man muß nur bedenken, ob der eine Mensch dies oder jenes in der geistigen Welt entdeckt; das hängt ab von der Art und Weise, wie sein Leben ist. Nicht wahr, von der äußeren Sinneswelt weiß der Mensch anderes, je nachdem er in Europa oder in Amerika oder in Asien geboren ist. So weiß jeder Mensch auch, wenn er ein geistiger Entdecker, ein Seher ist, von der geistigen Welt etwas anderes. Das andere, das er weiß, das ist wiederum dem anderen Menschen, der wiederum etwas anderes weiß, eine Ergänzung zu seinem eigenen Wissen. Man muß, gerade wenn man in die geistige Welt eindringen will, sich zuerst dasjenige gar sehr in der entsprechenden hohen Kraft aneignen, was ich intellektuelle Bescheidenheit genannt habe, und man weiß sehr gut, gerade dann, wenn man beginnt, etwas von der geistigen Welt zu wissen, wie wenig man eigentlich weiß. Diejenigen, die von der geistigen Welt in Phrasen reden, die von dem Geiste reden, ohne daß sie etwas von ihm wissen, die von ihm reden durch bloße philosophische Schlüsse, die mögen hochmütig werden. Aber diejenigen, die in die geistigen Welten eindringen, die wissen außerdem, wie klein sie sind als Menschen gegenüber dieser geistigen Welt, die sich durch sie verwirklichen will, und sie wissen wahrhaftig, daß sie weder hochmütig noch rechthaberisch werden sollen.

Das ist das Merkwürdige, daß man gerade durch das Sehertum, ein ganz neues Verhältnis zu seinen Mitmenschen gewinnt. Man muß sich sagen, daß auch in einer einfachen, elementaren Lebensart Dinge sich offenbaren können. Wir erfahren sie, wir haben den Sinn, einzudringen in dasjenige, was als geheimnisvolle seelisch-geistige Tiefen sich zum Beispiel auch durch ein Kind offenbart. Und jeder große, wirkliche Geist-Erkenner wird Ihnen erzählen können von denjenigen Momenten, wo nicht durch Auslegung desjenigen, was er eben gesehen hat, sondern wie wirklich gerade dann, wenn in ihm diese Kraft ausgelöst worden ist, er hinterher an irgendeinem Menschen etwas anderes erfahren hat, indem er den Geist zu seinem Führer erkor. Man lernt einen Menschen kennen. Dasjenige, was er einem mitteilt aus seinen Erlebnissen, aus seinen Erfahrungen heraus, vielleicht als einfachster, primitivster Mensch, führt einen in seelische Tiefen hinein, wenn man richtig zu erkennen vermag, den richtigen Zusammenhang zu finden vermag. [19] Man macht die Entdeckung, daß, was die Menschen erleben, was die Menschen erfahren, daß das bei jedem Menschen zu einer Offenbarung führen kann. Es kann in uns zur Offenbarung kommen etwas, was man zu seiner weiteren Entwickelung durchaus nötig hat. Sieht man hinein in die Tiefen der Menschenseele, so kann man auch gerade als Geistesforscher so viel gewinnen in der neueren Naturwissenschaft, durch die Art, wie die Naturwissenschaft in den Kliniken, auf den Sternwarten, in chemischen und physikalischen Laboratorien arbeitet, dann enthüllen sich uns tiefe Naturgeheimnisse. [20]

Das ist gerade das Eigentümliche des wirklichen Erkenntnisstrebens, daß dasjenige, was vielfach Alltägliches ist, für den Menschen gerade als dasjenige aufgefaßt werden muß, dem gegenüber die wichtigsten, die bedeutungsvollsten Fragen aufgeworfen werden müssen. Über die Erinnerungskraft, dieses Gedächtnis des Menschen geht der Mensch so leicht hinweg, weil sie ihm etwas so Alltägliches (ist). [21] Die gewöhnliche Erinnerungskraft wird allerdings in solchen Augenblicken nicht da sein, in denen man das Geistige unmittelbar erforschen will, denn diese Erinnerungskraft hat selbst eine Metamorphose durchgemacht. Sie ist zu einem Geistauge geworden, das den Geist wahrnehmen kann. [22] Die Menschen dringen ja so ungern in die geistige Welt ein aus dem Grunde, weil sie eigentlich Furcht haben vor dem Unbekannten. Furchtlos muß der Geistesforscher werden. Und auf der anderen Seite muß er sich die Eigenschaft der Leidfähigkeit, der Schmerzfähigkeit aneignen; denn eine wirkliche Entdeckung aus der geistigen Welt heraus, sie kann nicht erreicht werden ohne einen gewissen Schmerz, ohne ein gewisses Leid. Man dringt ein in eine Welt, die da schneidet, die da brennt. [23]

Dasjenige, was man im Geiste erfährt, das muß immer wieder von neuem erfahren werden, so wie man einer äußeren physischen Wirklichkeit, wenn man sich nicht bloß an sie erinnern, sondern sie vor sich haben will, immer wieder von neuem gegenübertreten muß. Wer glaubt, wirkliche geistige Erfahrung mit solchen Vorstellungen zu haben, an die er sich erinnern kann wie an gewöhnliche Vorstellungen des alltäglichen Lebens, der kennt nicht das wirklich Geistige. Wenn man sich, wie das selbstverständlich möglich ist, doch später erinnert an geistige Erlebnisse, so rührt das davon her, daß man in der Lage ist, solche Erlebnisse in das gewöhnliche Bewußtsein hineinbringen zu können, wie man die Anschauungen einer äußeren physischen Wirklichkeit hineinbringen kann. Dann kann man sich an die Vorstellung erinnern. Das also ist ein besonderes Charakteristikum des leibfreien Erlebens, daß dieses Erleben nicht unmittelbar in das Gedächtnis eingreift. Je öfter man ein gleiches geistiges Erleben hat, desto schwieriger wird es der Seele, sich in eine solche Lage zu versetzen, um dieses geistige Erlebnis gerade so wieder zu haben. Man muß auch die Methode kennenlernen, durch die ein geistiges Erlebnis wiederholt gemacht werden kann, weil es auf dieselbe Art sich nicht erneuern läßt.

Die eigentlichen geistigen Erlebnisse huschen so schnell vor der Seele vorüber, daß man Geistesgegenwart braucht, um sie festzuhalten. Sonst huscht das Ereignis so schnell vorüber, daß es schon vorbei ist, wenn man nur die Aufmerksamkeit darauf lenkt. [24]

Dasjenige, was besonders geeignet macht, in die wirkliche geistige Welt einzudringen, das ist Regsamkeit des Geistes, das ist Aktivität des Geistes, das ist ein gewisser Eifer in dem Verfolgen wirklicher Gedanken, in dem Sichüben an Herstellung von Verbindungen entfernt liegender Gedanken, das ist eine gewisse Regsamkeit in schnellem Ergreifen von Gedankenzusammenhängen, das ist eine gewisse Liebe zur inneren geistigen Aktivität. Zwischen einer medialen Veranlagung und der Veranlagung für wirkliches geistiges Erkennen ist ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht. Das ist die eine Bedingung, die besonders erfüllt werden muß, wenn wirkliches geistiges Forschen möglich sein soll. Eine andere Bedingung ist die, daß die Seele eines wirklichen Geistesforschers möglichst wenig zugänglich sein darf für Suggerierbarkeit, daß sie möglichst skeptisch, möglichst kritisch gegenüberstehen muß auch den Dingen des äußeren Lebens. Der wirkliche Geistesforscher wird es mit Freude erleben, daß gerade diejenigen, die ihm nahetreten, über kurz oder lang auch ihm gegenüber zu einem selbständigen Urteil, zu einer gewissen inneren Freiheit kommen, und daß sie nicht durch blinde Anhängerschaft, durch Suggerierfähigkeit sich zu ihm halten, sondern durch die gemeinsamen Interessen gegenüber der geistigen Welt. [25]

Man wird (als Geistesforscher) sehr häufig die folgende Erfahrung machen: Man bekommt zunächst eine Art geistigen Erlebens, man glaubt eine Wahrheit zu erkennen über irgend etwas in der geistigen Welt; man wird aber in der Regel finden, daß dieses erste Erlebnis, das man hat, falsch ist. Daher eignet sich der Geistesforscher jene Vorsicht an, die ihn dazu führt, schon vorauszusetzen, daß das erste Erlebnis falsch ist. Indem er dann immer weiter und weiter schürft, stellt sich ihm heraus, warum er auf dem falschen Wege war, und in dem Vergleichen des späteren Richtigen mit dem vorherigen Falschen ergibt sich ihm etwas, wodurch er erst recht erkennt worauf es ankommt. Daher wird der Geistesforscher in der Regel erst sehr lange, nachdem er über irgendein Gebiet Forschungen angestellt hat, seinen Mitmenschen die Ergebnisse mitteilen. [26]

Zitate:

[1]  GA 188, Seite 22   (Ausgabe 1982, 262 Seiten)
[2]  GA 35, Seite 188f   (Ausgabe 1965, 484 Seiten)
[3]  GA 35, Seite 190   (Ausgabe 1965, 484 Seiten)
[4]  GA 35, Seite 193f   (Ausgabe 1965, 484 Seiten)
[5]  GA 63, Seite 124f   (Ausgabe 1959, 439 Seiten)
[6]  GA 63, Seite 127f   (Ausgabe 1959, 439 Seiten)
[7]  GA 63, Seite 129f   (Ausgabe 1959, 439 Seiten)
[8]  GA 63, Seite 131f   (Ausgabe 1959, 439 Seiten)
[9]  GA 63, Seite 133f   (Ausgabe 1959, 439 Seiten)
[10]  GA 63, Seite 135   (Ausgabe 1959, 439 Seiten)
[11]  GA 63, Seite 139f   (Ausgabe 1959, 439 Seiten)
[12]  GA 63, Seite 151f   (Ausgabe 1959, 439 Seiten)
[13]  GA 63, Seite 155f   (Ausgabe 1959, 439 Seiten)
[14]  GA 63, Seite 157ff   (Ausgabe 1959, 439 Seiten)
[15]  GA 63, Seite 162   (Ausgabe 1959, 439 Seiten)
[16]  GA 63, Seite 164   (Ausgabe 1959, 439 Seiten)
[17]  GA 329, Seite 274ff   (Ausgabe 1985, 348 Seiten)
[18]  GA 329, Seite 276f   (Ausgabe 1985, 348 Seiten)
[19]  GA 329, Seite 278ff   (Ausgabe 1985, 348 Seiten)
[20]  GA 329, Seite 280   (Ausgabe 1985, 348 Seiten)
[21]  GA 329, Seite 292   (Ausgabe 1985, 348 Seiten)
[22]  GA 329, Seite 295   (Ausgabe 1985, 348 Seiten)
[23]  GA 329, Seite 306   (Ausgabe 1985, 348 Seiten)
[24]  GA 67, Seite 217f   (Ausgabe 1962, 367 Seiten)
[25]  GA 67, Seite 219ff   (Ausgabe 1962, 367 Seiten)
[26]  GA 67, Seite 222   (Ausgabe 1962, 367 Seiten)

Quellen:

GA 35:  Philosophie und Anthroposophie (1904-1923)
GA 63:  Geisteswissenschaft als Lebensgut (1913/1914)
GA 67:  Das Ewige in der Menschenseele. Unsterblichkeit und Freiheit (1918)
GA 188:  Der Goetheanismus, ein Umwandlungsimpuls und Auferstehungsgedanke. Menschenwissenschaft und Sozialwissenschaft (1919)
GA 329:  Die Befreiung des Menschenwesens als Grundlage für eine soziale Neugestaltung. Altes Denken und neues soziales Wollen (1919)