Gut und Böse

Was hier in der sinnlichen Welt getan wird, was hier der sittlichen Beurteilung von Gut und Böse unterliegt, das sind hinter den Kulissen des Daseins Erscheinungen, die vorwärtswirkend-aufbauend oder niedergehend-zerstörend sind. [1] Die Impulse des Bösen entwickeln sich dadurch, daß gewisse Kräfte, die eigentlich in die höhere geistige Welt gehören, hier unten in der physischen Welt mißbraucht werden. Würden die Diebe ihre Diebesinstinkte, die Mörder ihre Mordinstinkte, die Lügner ihre Lügeninstinkte, statt sie auf dem physischen Plane auszuleben, dazu verwenden, höhere Kräfte zu entwickeln, so würden sie sehr bedeutende höhere Kräfte ausbilden. [2] Man kann das Gute nicht erfassen, ohne sich klar darüber zu sein, daß das Gute in demjenigen lebt, was menschlicher Astralleib beziehungsweise was vom Ich durchsetzt ist. [3]

Der Mensch hatte nicht die Möglichkeit, bevor der Christus-Impuls gekommen war, aus seinem innersten Wesen heraus über das Gute und das Böse zu entscheiden, sie konnte nur dadurch getroffen werden, daß einzelne Individualitäten, wie die Bodhisattvas, mit einem Teil ihres Wesens im Laufe der Zeit hinaufreichten in göttlich-geistige Welten, also die Entscheidung über Gut und Böse nicht eigentlich aus dem Innersten der Menschennatur holten, sondern aus den göttlichen Welten. Durch ihren Verkehr mit göttlich-geistigen Wesenheiten bekamen sie es und flößten es dann wie suggestiv der Menschenseele ein. Ohne solche Führer hätten die Menschen in den vorchristlichen Zeiten immer nur mangelhafte Entscheidungen treffen können über Gut und Böse. [4]

Wir leben eigentlich heute in einem Bewußtsein, das eine Art von Fortsetzung des alten urpersischen Weltenbewußtseins ist, das ja lebte in Ahriman und Ormuzd (siehe: Ahura Mazdao). Es sieht in Ahriman den bösen Gott, der widerstrebt dem Ormuzd, und in dem Ormuzd den guten Gott, der die Werke des Ahriman zunichte macht. Man weiß nicht, daß der Urperser das Bewußtsein hatte, daß man weder dem Ahriman noch dem Ormuzd [allein] folgen darf, sondern ihrem Zusammenwirken. Und ihr Zusammenwirken äußert sich in einer solchen Gestalt, wie es der Mithras war. Ormuzd ist eine luziferartige Gestalt, die uns welt-los macht, wenn wir uns ihr hingeben, die uns der Schwere entreißen und uns im Lichte verbrennen lassen möchte. Der Mensch muß den Weg finden zwischen dem Lichte und der Schwere, zwischen Luzifer und Ahriman, und deshalb müssen wir die Möglichkeit haben, nicht in irgendeinem Dualismus zu denken, sondern in der Trinität zu denken. Wir müssen die Möglichkeit haben zu sagen: Die persische Dualität Ormuzd und Ahriman ist heute Luzifer und Ahriman, und der Christus steht in der Mitte drinnen, der Christus ist derjenige, der das Gleichgewicht bewirkt. – Nun hat alle religiöse Entwickelung bisher, insbesondere die theologische, eine sehr verderbliche Gleichung aufgestellt, sie hat die Christus-Figur so nahe als möglich an die Luzifers herangebracht. Es ist fast ein Wiederauferstehen des altpersischen Ormuzd, wenn man erlebt, wie heute von Christus gesprochen wird. Man denkt nur immer die Dualität, also das Böse im Gegensatz zum Guten. Durch keine Dualität wird das Weltproblem gelöst, sondern einzig und allein durch die Trinität. Denn sobald man die Zweiheit hat, hat man nicht nur das Gute und das Böse, sondern man hat den Kampf zwischen dem Licht und der Finsternis, den Kampf, der nicht enden darf mit dem Sieg des einen über das andere, sondern der enden muß mit der Harmonisierung der beiden. Das ist eigentlich dasjenige, was man in den Christus-Begriff hineinbringen muß. Christus setzt sich nicht umsonst zu den Zöllnern und Sündern. [5] (Siehe auch: das Böse; das Wahre).

Zitate:

[1]  GA 199, Seite 22   (Ausgabe 1985, 318 Seiten)
[2]  GA 174, Seite 22   (Ausgabe 1966, 320 Seiten)
[3]  GA 176, Seite 116   (Ausgabe 1982, 392 Seiten)
[4]  GA 116, Seite 64   (Ausgabe 1982, 174 Seiten)
[5]  GA 342, Seite 160f   (Ausgabe 1993, 164 Seiten)

Quellen:

GA 116:  Der Christus-Impuls und die Entwickelung des Ich-Bewußtseins (1909/1910)
GA 174:  Zeitgeschichtliche Betrachtungen. Das Karma der Unwahrhaftigkeit – Zweiter Teil (1917)
GA 176:  Menschliche und menschheitliche Entwicklungswahrheiten. Das Karma des Materialismus (1917)
GA 199:  Geisteswissenschaft als Erkenntnis der Grundimpulse sozialer Gestaltung (1920)
GA 342:  Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, I. Anthroposophische Grundlagen für ein erneuertes christlich-religiöses Wirken (1921)