Erkenntnisgrenzen

Wenn man das Erkennen isoliert und als Tätigkeit eines abseits stehenden Weltbetrachters auffaßt, dann entstehen alle die irreführenden philosophischen Fragen: Wie ist Erkenntnis möglich? Können wir die Dinge an sich erkennen? Gibt es Grenzen der Erkenntnis? Und so weiter. Alle diese Fragen verlieren ihre Bedeutung, wenn man das Erkennen als innerhalb des Lebensprozesses stehend auffaßt. Wie sich das Leben in der Pflanze als Blätter, Blüten und Früchte erzeugend äußert, so in dem Menschen als Erkennen. Es hat gerade so wenig Sinn zu fragen: welches sind die Grenzen des Erkennens?, wie es keinen Sinn hat zu fragen: welches sind die Grenzen des Blühens? Der Gehalt des Erkennens ist ein Produkt des Weltprozesses, wie die Blüte der Pflanze. Das Bild der Welt, das sich der Mensch entwirft, ist ein Phantasieinhalt und toto genere von dem verschieden, was es abbildet, wenn es bloß seiner Bildnatur nach betrachtet wird. Spricht der Mensch vom «Wesen der Welt», vom «Ding an sich» und so weiter, so spricht er von einem Bedürfnis von ihm. Wir sind durch nichts Äußeres genötigt, vom «Wesen der Welt» zu sprechen. Wir sind dazu nur durch unsere Natur gedrängt. Spreche ich von dem «Wesen der Welt» und behaupte ich seine Unerkennbarkeit, so rede ich ins Blaue hinein. Es kann für kein anderes Wesen etwas geben, was mit dem Erkennen gleichzustellen wäre. Von dem Vorhandensein eines Etwas zu sprechen, das «jenseits des Erkennens» liegt, ist so töricht, wie von etwas zu sprechen, das jenseits des Pflanzenwachstums liegt. Das Erkennen muß innerhalb seiner selbst bleiben, wenn es einen Sinn haben soll. Die Kantsche Philosophie ist der Ausfluß einer Persönlichkeit, die nicht weiß, was sie will. Kant sucht etwas und weiß nicht, was. Er redet im Grunde nur von der Unerkennbarkeit eines Etwas, das er sich als unbestimmtes Ziel im Blauen vorgaukelt. Es ist bezeichnend für die grenzenlose Schwäche der deutschen Philosophie, daß sie die Kantschen Torheiten nicht ausscheiden kann. Weltverneinung, Jenseits und so weiter sind erst vorhanden, wenn der Mensch sie erfindet. Aber es ist die leerste, törichteste Erfindung, die es gibt. Bei [1]

Man spricht heute viel von Grenzen unseres Erkennens. Unsere Fähigkeit, das Bestehende zu erklären, soll nur bis zu einem gewissen Punkte reichen, bei dem sollen wir haltmachen. Wir glauben in Bezug auf diese Frage das Richtige zu treffen, wenn wir sie richtig stellen. Denn es kommt ja so vielfach nur auf eine richtige Fragestellung an. Durch eine solche wird ein ganzes Heer von Irrtümern zerstreut. Wenn wir bedenken, daß der Gegenstand, in Bezug auf welchen sich in uns ein Erklärungsbedürfnis geltend macht, gegeben sein muß, so ist es klar, daß das Gegebene selbst uns eine Grenze nicht setzen kann. Denn um überhaupt den Anspruch zu erheben, erklärt, begriffen zu werden, muß es uns innerhalb der gegebenen Wirklichkeit gegenübertreten. Was nicht in den Horizont des Gegebenen eintritt, braucht nicht erklärt zu werden. Die Grenze könnte also nur darinnen liegen, daß uns einem gegebenen Wirklichen gegenüber die Mittel fehlen, es zu erklären. Nun kommt unser Erklärungsbedürfnis aber gerade daher, daß das, als was wir ein Gegebenes ansehen wollen, durch was wir es erklären wollen, sich in den Horizont des uns gedanklich Gegebenen eindrängt. Weit entfernt, daß das erklärende Wesen eines Dinges uns unbekannt wäre, ist es vielmehr selbst das, was durch sein Auftreten im Geiste die Erklärung notwendig macht. Was erklärt werden soll und durch was dieses erklärt werden soll, liegen vor. Es handelt sich nur um die Verbindung beider. Das Erklären ist kein Suchen eines Unbekannten, nur eine Auseinandersetzung über den gegenseitigen Bezug zweier Bekannter. Durch irgend etwas ein Gegebenes zu erklären, von dem wir kein Wissen haben, sollte uns nie der Einfall kommen. Es kann also von prinzipiellen Grenzen des Erklärens gar nicht die Rede sein. Nun kommt da freilich etwas in Betracht, was der Theorie einer Erkenntnisgrenze einen Schein von Recht gibt. Es kann sein, daß wir von einem Wirklichen zwar ahnen, daß es da ist, daß es aber doch unserer Wahrnehmung entrückt ist. Wir können irgendwelche Spuren, Wirkungen eines Dinges wahrnehmen und dann die Annahme machen, daß dies Ding vorhanden ist. Und hier kann etwa von einer Grenze des Wissens gesprochen werden. Das, was wir als nicht erreichbar voraussetzen, ist hier aber kein solches, aus dem irgend etwas prinzipiell zu erklären wäre; es ist ein Wahrzunehmendes, wenn auch kein Wahrgenommenes. Die Hindernisse, warum ich es nicht wahrnehme, sind keine prinzipiellen Erkenntnisgrenzen, sondern rein zufällige, äußere. Ja sie können wohl gar überwunden werden. Was ich heute bloß ahne, kann ich morgen erfahren. Das ist aber mit einem Prinzip nicht so; da gibt es keine äußeren Hindernisse, die ja zumeist nur in Ort und Zeit liegen; das Prinzip ist mir innerlich gegeben. Ich ahne es nicht aus einem andern, wenn ich es nicht selbst erschaue. [2]

Zitate:

[1]  GA 6, Seite 7   (Ausgabe 1990, 246 Seiten)
[2]  GA 1, Seite 193f   (Ausgabe 1987, 350 Seiten)

Quellen:

GA 1:  Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften. Zugleich eine Grundlegung der Geisteswissenschaft (Anthroposophie) (1884-1897)
GA 6:  Goethes Weltanschauung (1897)