Christus Leben
► Johannes der Täufer

Wir müssen die Charakteristik des Christus Jesus (als den verkörperten Logos), wie sie uns entgegentritt in den ersten Kapiteln des Johannes-Evangeliums bis zum Schluß des zehnten Kapitels, zurückführen auf die Erkenntnis, die sozusagen auch einer haben konnte, der nicht im tiefsten Sinne schon eingeweiht war durch den Christus Jesus selber (nämlich Johannes der Täufer). Das ist nicht weiter verwunderlich, daß die tiefen Worte über den Christus Jesus schon in den ersten Kapiteln ausgesprochen werden. Denn in den alten Mysterien war der Christus, der in der Zukunft erscheinen sollte in der Welt, nicht etwa eine unbekannte Wesenheit. Und alle Mysterien wiesen hin auf Einen, der da kommen sollte. Daher nennt man die alten Eingeweihten «Propheten», weil sie über ein Künftiges zu prophezeien hatten. So ging aus dem, was er damals schon wissen konnte, für den Täufer die Wahrheit hervor, die ihn prophezeien lassen konnte, daß derjenige, von dem gesprochen worden ist in den Mysterien, vor ihm stehe in dem Christus Jesus. [1]

Johannes leg(te) Zeugnis für ihn ab und verkündet deutlich: Dieser war es, von dem ich sagte: Nach mir wird derjenige kommen, der vor mir gewesen ist. Priester und Leviten kommen, die Johannes den Täufer fragen sollen, wer er (selber) sei. Er sprach: Ich bin die Stimme eines Rufers in der Einsamkeit! In der Einsamkeit steht da – ganz wörtlich ευ τη ερημψ. Im Griechischen bedeutet das Wort «Eremit» «der Einsame». Es ist richtiger zu sagen: «Ich bin die Stimme eines Rufers in der Einsamkeit» – als: «Ich bin die Stimme eines Predigers in der Wüste.» [2] Durch das Johannes-Evangelium soll uns gesagt werden, daß der Christus der große Impulsgeber ist für dasjenige, was der Mensch braucht, um sich ewig in seinem einzelnen, individuellen Ich zu fühlen. Das ist der Umschwung von dem alten Bunde zu dem neuen Bunde, daß der alte Bund immer etwas von Gruppenseelenhaftigkeit hat, wo das eine Ich sich zugesellt fühlt zu den anderen Ichen und weder sich noch die anderen Iche recht fühlt, dafür aber das, worin sie gemeinsam geborgen sind, das Volks-Ich oder Stammes-Ich mitempfindet. Der Vorgänger des Christus mußte sagen: Ich bin ein Ich, das sich herausgeschält hat, sich einsam fühlt. Und gerade weil ich gelernt habe, mich einsam zu fühlen, fühle ich mich als ein Prophet, dem das Ich in der Einsamkeit die richtige Geistes-Nahrung gibt. – Deshalb mußte sich der Verkünder als ein Rufer in der Einsamkeit bezeichnen, das heißt als das schon von der Gruppenseele vereinsamte Ich, das da schreit nach dem, wodurch das Einzel-Ich Nahrung bekommen kann. [3]

Zitate:

[1]  GA 103, Seite 74   (Ausgabe 1962, 224 Seiten)
[2]  GA 103, Seite 76f   (Ausgabe 1962, 224 Seiten)
[3]  GA 103, Seite 80   (Ausgabe 1962, 224 Seiten)

Quellen:

GA 103:  Das Johannes-Evangelium (1908)