Schilderung von Teilen der übersinnlichen Welt
► Inkarnations-Vorbereitung in der Welt des Geistes

Die Bildung des Geistes im Geisterland geschieht dadurch, daß der Mensch sich in die verschiedenen Regionen dieses Landes einlebt. Sein eigenes Leben verschmilzt in entsprechender Aufeinanderfolge mit diesen Regionen; er nimmt vorübergehend ihre Eigenschaften an. Sie durchdringen dadurch sein Wesen mit ihrem Wesen, auf daß ersteres dann mit dem letzteren gestärkt im Irdischen wirken könne. – In der ersten Region ist der Mensch umgeben von den geistigen Urbildern der irdischen Dinge. Während des Erdenlebens lernt er ja nur die Schatten dieser Urbilder kennen, die er in seinen Gedanken erfaßt. Was auf der Erde bloß gedacht wird, das wird in dieser Region erlebt. Der Mensch wandelt unter Gedanken, aber diese Gedanken sind wirkliche Wesenheiten. Was er während des Erdenlebens mit seinen Sinnen wahrgenommen hat, das wirkt auf ihn jetzt in seiner Gedankenform. Aber der Gedanke erscheint nicht als der Schatten, der sich hinter den Dingen verbirgt, sondern er ist lebensvolle Wirklichkeit, welche die Dinge erzeugt. Der Mensch ist gleichsam in der Gedankenwerkstätte, in der die irdischen Dinge geformt und gebildet werden. Denn im Lande des Geistes ist alles lebensvolle Tätigkeit und Regsamkeit. Hier ist die Gedankenwelt am Werke als Welt lebendiger Wesen, schöpferisch und bildend. Man sieht da, wie das gebildet wird, was man im Erdendasein erlebt hat. Wie man im physischen Leibe die sinnlichen Dinge als Wirklichkeit erlebt, so erlebt man jetzt als Geist die geistigen Bildungskräfte als wirklich. Unter den Gedankenwesen, die da vorhanden sind, ist auch der Gedanke der eigenen physischen Leiblichkeit. Dieser fühlt man sich entrückt. Nur die geistige Wesenheit empfindet man als zu sich gehörig. Und wenn man den abgelegten Leib, wie in der Erinnerung, nicht mehr als physisch, sondern als Gedankenwesen gewahr wird, dann tritt schon in der Anschauung seine Zugehörigkeit zur äußeren Welt hervor. Man lernt ihn als etwas zur Außenwelt Gehöriges betrachten, als ein Glied dieser Außenwelt. Man trennt folglich nicht mehr seine Leiblichkeit von der anderen Außenwelt als etwas dem eigenen Selbst näher Verwandtes ab. Man fühlt in der gesamten Außenwelt mit Einschluß der eigenen leiblichen Verkörperungen eine Einheit. So blickt man hier auf die Urbilder der physisch-körperlichen Wirklichkeit als auf eine Einheit, zu der man selbst gehört hat. Man lernt deshalb nach und nach seine Verwandtschaft, seine Einheit mit der Umwelt durch Beobachtung kennen. Man lernt zu ihr sagen: Das, was sich hier um dich ausbreitet, das warst du selbst. – Das aber ist einer der Grundgedanken der alten indischen Vedanta-Weisheit. Der «Weise» eignet sich schon während des Erdenlebens das an, was der andere nach dem Tode erlebt, nämlich den Gedanken zu fassen, daß er selbst mit allen Dingen verwandt ist, den Gedanken: «Das bis du.» (Tat Tvam Asi der Vedantisten ). Im irdischen Leben ist das ein Ideal, dem sich das Gedankenleben hingeben kann; im Lande der Geister ist es eine unmittelbare Tatsache, die uns durch die geistige Erfahrung immer klarer wird. Und der Mensch selbst wird in diesem Lande sich immer mehr bewußt, daß er, seinem eigentlichen Wesen nach, der Geisterwelt angehört. Er nimmt sich als Geist unter Geistern, als ein Glied der Urgeister wahr, und er wird in sich selbst des Urgeistes Wort fühlen: «Ich bin der Urgeist.» Die Weisheit des Vedanta sagt: «Ich bin Brahman» das heißt ich gehöre als ein Glied dem Urwesen an, aus dem alle Wesen stammen. – Man sieht: was im Erdenleben als schattenhafter Gedanke erfaßt wird und wohin alle Weisheit abzielt, das wird im Geisterland unmittelbar erlebt. Ja es wird während des Erdenlebens nur deswegen gedacht, weil es im geistigen Dasein eine Tatsache ist. [1]

So sieht der Mensch während seines geistigen Daseins die Verhältnisse und Tatsachen, in denen er während des Erdenlebens mitten drinnen steht, von einer höheren Warte aus, gleichsam von außen. Und in der untersten Region des Geisterlandes lebt er auf solche Art gegenüber den irdischen Verhältnissen, die unmittelbar mit der physischen körperlichen Wirklichkeit zusammenhängen. – Der Mensch ist auf der Erde in eine Familie, in ein Volk hineingeboren; er lebt in einem gewissen Lande. Durch alle diese Verhältnisse wird sein irdisches Dasein bestimmt. Er findet, weil es die Verhältnisse in der physischen Welt mit sich bringen, diesen oder jenen Freund. Er treibt diese oder jene Geschäfte. Alles das bestimmt seine irdischen Lebensverhältnisse. Alles das tritt ihm nun während seines Lebens in der ersten Region des Geisterlandes als lebendige Gedankenwesenheit entgegen. Er durchlebt das alles in einer gewissen Art noch einmal. Aber er durchlebt es von der tätig-geistigen Seite aus. Die Familienliebe, die er geübt hat, die Freundschaft, die er entgegengebracht hat, werden in ihm von innen aus lebendig, und seine Fähigkeiten werden in dieser Richtung gesteigert. Dasjenige im Menschengeist, was als Kraft der Familien-, der Freundesliebe wirkt, wird gestärkt. Er tritt in dieser Beziehung später als ein vollkommenerer Mensch wieder ins irdische Dasein. Es sind gewissermaßen die alltäglichen Verhältnisse des Erdenlebens, die in dieser untersten Region des Geisterlandes als Früchte reifen. Und dasjenige im Menschen, das mit seinen Interessen ganz in diesen alltäglichen Verhältnissen aufgeht, wird den längsten Teil des geistigen Lebens zwischen zwei Verkörperungen mit dieser Region sich verwandt fühlen. – Die Menschen, mit welchen man in der physischen Welt zusammengelebt hat, findet man in der geistigen Welt wieder. Gleich wie von der Seele alles abfällt, was ihr durch den physischen Leib eigen war, so löst sich auch das Band, das im physischen Leben Seele und Seele verknüpft, von den Bedingungen los, welche nur in der physischen Welt Bedeutung und Wirksamkeit haben. Doch setzt sich über den Tod hinaus alles – in die geistige Welt hinein – fort, was im physischen Leben Seele der Seele war. Es ist naturgemäß, daß Worte, welche für physische Verhältnisse geprägt sind, nur ungenau wiedergeben können, was in der geistigen Welt vorgeht. Sofern aber dieses in Betracht gezogen wird, so darf es durchaus als richtig bezeichnet werden, wenn gesagt wird: die im physischen Leben zusammengehörigen Seelen finden sich in der geistigen WeIt wieder, um ihr Zusammenleben da in entsprechender Weise fortzusetzen. – Die nächste Region ist diejenige, in welcher das gemeinsame Leben der irdischen Welt als Gedankenwesenheit, gleichsam als das flüssige Element des Geisterlandes, strömt. Solange man in physischer Verkörperung die Welt beobachtet, erscheint das Leben an einzelne Lebewesen gebunden. Im Geisterland ist es davon losgelöst und durchfließt als Lebensblut gleichsam das ganze Land. Es ist da die lebendige Einheit, die in allem vorhanden ist. Während des irdischen Lebens erscheint dem Menschen auch davon nur ein Abglanz. Und dieser spricht sich in jeder Form von Verehrung aus, die der Mensch dem Ganzen, der Einheit und Harmonie der Welt, entgegenbringt. Das religiöse Leben der Menschen schreibt sich von diesem Abglanze her. Der Mensch wird gewahr, inwiefern nicht im Vergänglichen, im einzelnen, der umfassende Sinn des Daseins liegt. Er betrachtet dieses Vergängliche als ein «Gleichnis» und Abbild eines Ewigen, einer harmonischen Einheit. Er bringt ihr religiöse Kultushandlungen dar. – Im Geisterland erscheint nicht der Abglanz, sondern die wirkliche Gestalt als lebendige Gedankenwesenheit. Hier kann sich der Mensch mit der Einheit, die er auf Erden verehrt hat, wirklich vereinigen. Die Früchte des religiösen Lebens und alles dessen, was damit zusammenhängt, treten in dieser Region hervor. Die Fähigkeit, sich als ein Glied eines Ganzen zu erkennen, bildet sich hier aus. Die religiösen Empfindungen, alles, was schon im Leben nach einer reinen, edlen Moral gestrebt hat, wird während eines großen Teiles des geistigen Zwischenzustandes Kraft aus dieser Region schöpfen. Und der Mensch wird mit einer Erhöhung seiner Fähigkeiten nach dieser Richtung hin wiederverkörpert werden. [2]

Zitate:

[1]  GA 9, Seite 132ff   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[2]  GA 9, Seite 134ff   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)

Quellen:

GA 9:  Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung (1904)