Grundlegendes zur Geisteswissenschaft

Die Anthroposophie muß sich richten an Erkenntniskräfte, die zwar durchaus im gewöhnlichen Leben und in der gewöhnlichen Wissenschaft vorhanden sind, aber vorhanden sind nur für die Ausgangspunkte ihrer Entwickelung, nicht aber für die weiteren Schritte. Und diese weiteren Schritte müssen gemacht werden, um gerade vom Gesichtspunkte einer wirklichen Erkenntnis aus, nicht von dem einer nebulosen Mystik, in die geistigen Gebiete des Lebens einzudringen. Der Ausgangspunkt muß dabei sein, was ich nennen möchte eine Vereinigung intellektueller Bescheidenheit auf der einen Seite und dem unbedingten Vertrauen in die Vervollkommnung der menschlichen Erkenntniskräfte auf der anderen Seite. Indem Anthroposophie zu einer Vereinigung dieser beiden Seelenimpulse führen will, kommt sie eben dazu, mit derselben Sicherheit über das sogenannte übersinnliche Gebiet etwas erforschen zu können, wie mit Hilfe der Sinne und der Naturwissenschaften heute mit so großem Glück und so sicherem Erfolg in das Gebiet der Sinnenwelt, des physischen Daseins, eingedrungen wird. Was soll nun in diesem Zusammenhange intellektuelle Bescheidenheit genannt werden? Anthroposophie macht geltend, daß (man) ja vielleicht über das, was man sich an Seelenkräften als erwachsener Mensch errungen hat, ebenso hinausschreiten (kann), wie über die Erkenntnisfähigkeiten der träumerischen Seelenverfassung des kleinen Kindes. Natürlich kommt es ganz darauf an, ob ein solches Hinausschreiten wirklich gelingt, andererseits hat aber Anthroposophie ein volles intensives Vertrauen eben dazu, daß die jeweilig vom Menschen errungenen Erkenntniskräfte immer mehr und mehr vervollkommnet werden können. [1] Dieser Erkenntnisweg zeigt aber auch, daß in Denken, Fühlen und Wollen etwas verborgen liegt, das im Verlaufe des gewöhnlichen Lebens nicht bewußt wird, das aber durch innere Seelenübungen zum Bewußtsein gebracht werden kann. In diesem dem gewöhnlichen Seelenleben verborgenen Geistwesen der Seele offenbart sich dasjenige, was in ihr unabhängig vom Leibesleben ist und an dem die Beziehungen des Menschen zur geistigen Welt beobachtet werden können. Für den Geistesforscher erscheint es ebenso unmöglich, durch Beobachtung des gewöhnlichen Denkens, Fühlens und Wollens die «Hoffnungen des Platon und Aristoteles» über das vom Leibesleben unabhängige Seelendasein zu erfüllen, wie es unmöglich ist, im Wasser die Eigenschaften des Wasserstoffes zu erforschen. Will man diese kennen lernen, so muß man durch ein entsprechendes Verfahren erst den Wasserstoff aus dem Wasser herausholen. So aber ist auch nötig, aus dem alltäglichen durch den Zusammenhang mit dem Leibe geführten Seelenleben dasjenige Wesen abzusondern, das in der Geisteswelt durch seine ihm ureigenen Kräfte wurzelt, wenn dieses Wesen beobachtet werden soll. Zu allermeist glaubt man, wenn über die höheren Fragen des Seelenlebens etwas erkannt werden soll, so müsse sich dieses aus den Seelentatsachen ergeben, die im gewöhnlichen Leben bereits vorliegen. Aus diesen Tatsachen ergeben sich aber keine anderen Erkenntnisse als diejenigen, zu denen das im gegenwärtigen Sinne naturwissenschaftlich gehaltene Forschen führen kann. Deshalb kann wahre Geisteswissenschaft nicht unmittelbar Betrachtung des von vorneherein vorliegenden Seelenlebens sein. Sie muß durch innere Verrichtungen im Seelenleben erst die Tatsachenwelt bloßlegen, die ihrer Betrachtung unterworfen werden kann. Zu diesem ihrem Ziel wendet die Geistesforschung Seelenvorgänge an, die im inneren Erleben erarbeitet werden. Ihr Forschungsfeld ist ein ganz im Innern des seelischen Daseins Gelegenes. Sie kann ihre Ergebnisse nicht äußerlich veranschaulichen. Aber diese sind deshalb nicht weniger von jeder persönlichen Willkür unabhängig wie die wahren naturwissenschaftlichen Ergebnisse. Sie haben mit den mathematischen Wahrheiten zwar nichts anderes, aber dieses gemeinschaftlich, daß sie nicht durch äußere Tatsachen bewiesen werden können, aber – gleich diesen – bewiesen sind für jeden, der sie im inneren Anschauen erfaßt. Und ebenso wie diese können sie äußerlich höchstens verbildlicht, nicht aber in ihrem sie beweisenden Inhalte dargestellt werden. [2]

Anthroposophische Schulung allgemein

Das Wesentliche, das leicht mißverstanden werden kann, ist, daß man auf dem Wege, den die Geistesforschung geht, den Seelenerlebnissen durch innere Anstöße eine gewisse Richtung gibt, und ihnen dann, wenn sie diese Richtung verfolgen, Kräfte entlockt, die sonst in ihnen, wie in einer Art von Seelenschlaf, unbewußt liegen. Die Seelenverrichtungen, die zu diesem Ziele führen, findet man (unter Schulung) ausführlich beschrieben. Hier soll nur gekennzeichnet werden, was in der Seele vorgeht, wenn sie sich solchen Verrichtungen unterzieht. Verfährt die Seele in dieser Art, so schiebt sie gewissermaßen ihr inneres Erleben in das Gebiet der geistigen Wirklichkeit hinein. Sie öffnet ihre dadurch sich bildenden rein geistigen Wahrnehmungsorgane der geistigen Welt, wie sich die Sinne nach außen der physischen Wirklichkeit öffnen. [3] Eine Art dieser Seelenverrichtungen besteht in einer kraftvollen Hingabe an den Vorgang des Denkens. Man treibt diese Hingabe an die Denkvorgänge so weit, daß man die Fähigkeit erlangt, die Aufmerksamkeit nicht mehr auf die im Denken vorhandenen Gedanken zu lenken, sondern allein auf die Tätigkeit des Denkens. Für das Bewußtsein verschwindet dann jeglicher Gedankeninhalt, und die Seele erlebt sich wissend in der Verrichtung des Denkens. Das Denken verwandelt sich so in eine feine innerliche Willenshandlung, die ganz vom Bewußtsein durchleuchtet ist. Das herbeigeführte Erlebnis ist ein Weben in einer inneren Willenstätigkeit, die ihre Wirklichkeit in sich selbst trägt. Es handelt sich (nun) darum, daß durch fortgesetztes inneres Erleben in dieser Richtung die Seele sich dahin bringe, mit der rein geistigen Wirklichkeit, in der sie webt, so vertraut zu werden, wie die Sinnesbeobachtung es mit der physischen Wirklichkeit ist. – Daß etwas wirklich ist, kann bei dieser innen erfahrenen Wirklichkeit ebenso nur erlebt werden, wie bei der äußeren Wirklichkeit. Wer (dagegen) den Einwand erhebt, daß das innerlich Wirkliche doch nicht bewiesen werden könne, der zeigt nur, daß er auch noch nicht begriffen hat, wie auch von der äußeren Wirklichkeit nicht anders eine Überzeugung gewonnen werden kann, als allein dadurch, daß man das Wirkliche durch das erlebte Zusammensein mit ihm gewahr wird. Ein gesundes Sinnenleben kann die echte (sinnliche) Wahrnehmung von der Vision oder Halluzination auf äußerem Gebiete durch unmittelbares Erleben unterscheiden; ein gesund entwickeltes Seelenleben kann die geistige Wirklichkeit, der sie sich entgegenträgt, in ähnlicher Art von der Phantastik und Träumerei unterscheiden.

Ein in der angegebenen Art entwickeltes Denken wird gewahr, daß es sich von jener Seelenkraft losgelöst hat, die im gewöhnlichen Vorstellen zur Erinnerung führt. Was in dem Denken, das innerlich erlebte Willenswirklichkeit geworden ist, erfahren wird, das ist so unmittelbar, wie es auftritt, nicht geeignet, erinnert zu werden, wie dasjenige, was als gewöhnliches Denken erlebt wird. Nicht gemeint ist damit, daß diese Wirklichkeit nicht mittelbar dem gewöhnlichen Gedächtnisse einverleibt werden könnte. Das muß sogar geschehen, wenn der Weg der Geistesforschung ein gesunder sein soll. Aber, was von der geistigen Wirklichkeit im Gedächtnis verbleibt, das ist nur die Vorstellung von dieser Wirklichkeit, wie dasjenige, was man heute erinnert von einem gestrigen Erlebnis nur eine Vorstellung ist. Begriffe, Ideen kann man gedächtnismäßig behalten; die geistige Wirklichkeit muß immer neu erlebt werden. Indem man diesen Unterschied der durch die Entwickelung der Denktätigkeit erreichten geistigen Wirklichkeit von dem Hegen bloßer Gedanken lebendig erfaßt, gelangt man dazu, sich mit dieser Wirklichkeit außerhalb des physischen Leibes zu erleben. [4]

Der Geistesforscher erlangt in dem Augenblicke, da ihm das «Erleben außerhalb des Leibes» Wirklichkeit wird, durch dieses Erleben Aufschluß darüber, wie das gewöhnliche Denken an die körperhaften Vorgänge des Leibes gebunden ist. Seine im Erleben gewonnene Erkenntnis führt ihn dazu, einzusehen, wie der im äußeren Erleben gewonnene Gedanke seiner Wesenheit nach so entsteht, daß er erinnert werden kann. Diese Art des Entstehens aber, die zur Erinnerung wird, beruht darauf, daß der Gedanke nicht bloß ein geistiges Leben in der Seele führt, sondern daß sein Leben von dem Leibe mitgemacht wird. [5]

Schulung allgemeine des Willens

Wie gewisse Anstöße, die man den Seelenerlebnissen gibt, zu dem Erfassen der Willenswirklichkeit im Denken führen, so führen andere Richtungen, in die man die Seelenvorgänge lenkt, dazu, in der Willenstätigkeit verborgene Kräfte zu erleben. Im gewöhnlichen Leben wird eine Willensentfaltung der eigenen Seele nicht so wahrgenommen wie ein äußerer Vorgang. Selbst dasjenige, was man zumeist Selbstbeobachtung auf diesem Gebiete nennt, bringt den Menschen durchaus nicht in eine Lage, in der er etwa das eigene Wollen so ansehe, wie er einen äußeren Naturvorgang ansieht. Daß man diesem Wollen sich so gegenüber finden könne, wie man als Zuschauer eine äußere Tatsache gegenüber hat, dazu sind wieder kraftvolle, durch Willkür hervorgerufene Seelenvorgänge notwendig. (Beispielsweise das Vorstellen eines bekannten Tatsachenverlaufes in umgekehrter Folge auch in den Einzelheiten). Werden diese aber in der entsprechenden Art herbeigeführt, dann tritt etwas völlig anderes ein, als etwa ein Anschauen des eigenen Wollens in derselben Weise, wie eine äußere Tatsache angeschaut wird. In diesem Anschauen taucht im Seelenleben eine Vorstellung auf, die gewissermaßen ein inneres Abbild der äußeren Tatsache ist. Beim Beobachten des eigenen Wollens erlischt die gewohnte vorstellende Kraft. Man hört auf, in der nach außen gerichteten Art vorzustellen; dafür aber entbindet sich aus den Untergründen des Wollens ein wesenhaftes Vorstellen. Es bricht durch die Oberfläche der Willensbetätigung ein solches wesenhaftes Vorstellen hervor; ein Vorstellen, das mit sich lebendige geistige Wirklichkeit bringt. Zunächst tritt innerhalb dieser geistigen Wirklichkeit die eigene verborgene Geistwesenheit hervor. Man wird gewahr, wie man einen verborgenen Geist-Menschen in sich trägt. Man hat diesen nicht wie ein Gedankenbild in sich, sondern als ein wirkliches Wesen; wirklich in einem höheren Sinne, als es der äußere Leibesmensch ist. Nur tritt dieser Geist-Mensch nicht so auf, wie äußere sinnlich wahrnehmbare Wesen, die dem Beobachter sich in ihren nach außen sich offenbarenden Eigenschaften darbieten. Er stellt sich vielmehr durch sein Inneres dar, durch Entfalten der Bewußtseins-vorgänge in der eigenen Seele. Nur ist das so entdeckte Bewußtseinswesen nicht wie die im Menschenleibe lebende Seele auf Sinnesdinge gerichtet, sondern auf geistige Vorgänge, zunächst auf die Vorgänge des eigenen bisher entwickelten Seelenlebens. Man entdeckt wahrhaftig in sich einen zweiten Menschen, der als Geistwesen ein bewußter Zuschauer des gewöhnlichen Seelen-Erlebens ist. – So phantastisch diese Schilderung eines geistigen Menschen im leiblichen erscheinen mag: sie wird für das entsprechend geschulte Seelenleben nüchterne Wirklichkeitsschilderung, Darstellung eines geistig Wesenhaften, das von allem Vision- oder Illusionartigen so verschieden ist, wie der Tag von der Nacht. – Wie im verwandelten Denken eine Willenswirklichkeit entdeckt wird, so im Willen ein im Geistigen webendes wesenhaftes Bewußtsein. – Und die beiden erweisen sich nun für das weitere Seelen-Erleben als zusammengehörig. Sie werden gewissermaßen auf nach entgegengesetzten Richtungen laufenden Wegen gefunden; ergeben sich aber als eine Einheit. Und durch diese Verbindung wird der Mensch erst vor die allseitig wirkliche Geistwelt gestellt. Indem diese Verbindung eintritt, hat der Mensch nicht nur das eigene Selbst sich geistig gegenüber, sondern auch Wesenheiten und Vorgänge der geistigen Welt, die außerhalb seines Selbst liegen. [6]

Der Weg in die geistige Welt wird also zurückgelegt durch die Bloßlegung dessen, was im Denken und im Wollen enthalten ist. Es kann nicht in ähnlicher Art das Gefühlsleben durch einen inneren Seelenanstoß entwickelt werden. Was im Fühlen inerhalb der physischen Welt erlebt wird, dafür kann auf dem Felde des geistigen Wahrnehmens nicht durch Umwandlung einer inneren Kraft wie bei Denken und Wollen etwas entwickelt werden. Das dem Gefühl in der geistigen Welt Entsprechende tritt vielmehr ganz von selbst auf, sobald die geistige Wahrnehmung in der geschilderten Art errungen ist. Nur stellt sich ein Gefühls-Erleben mit ganz anderem Charakter ein, als ihn das Fühlen in der physischen Welt trägt. Man fühlt nicht in sich, sondern in den Wesenheiten und Vorgängen, die man wahrnimmt. [7]

Eine geistige Anschauung gleicht ganz und gar denen der Erinnerungen

Die anthroposophischen Ideen sind keine Erinnerungsvorstellungen; aber sie treten in der Seele so auf wie Erinnerungsvorstellungen. Dies ist für viele Menschen, die sich gerne in einer gröberen Art Vorstellungen über die geistige Welt verschaffen möchten, eine Enttäuschung. Aber man kann die geistige Welt auf keine derbere Weise erleben als in der (Dichte) der Erinnerung eines in der Sinneswelt vor Zeiten erfahrenes, nicht mehr vor Augen stehendes Ereignis. Die Menschenseele steht der geistigen Welt so gegenüber wie der Mensch im allgemeinen einem vergessenen Dasein gegenübersteht; und sie kommt zur Erkenntnis dieser Welt, wenn sie in sich Kräfte zum Erwachen bringt, welche jenen Leibeskräften ähnlich sind, die der Erinnerung dienen. [8] Man muß achtgeben, wie sich allmählich – ich möchte sagen – einnistet in das gewöhnliche Vorstellungsleben dieses Leben, das sehr ähnlich den Träumen aussieht, aber gerade durch seinen sinnvollen Verlauf, wenn man nicht auf die einzelnen Bilder schaut, sondern auf den sinnvollen Verlauf der Bilder, hineingeleitend ist in die geistige Welt. [9]

Die Art des Anschauens, des Wahrnehmens ist eine ganz andere, wenn man hinausdringt aus der Welt seines bloß sinnlichen Wahrnehmens und des Bloß-über-die-Sinnenwelt-Denkens zu diesem schauenden denkerischen Erleben; denn es ist kein bloßes Denken mehr, es ist ein denkerisches Erleben. Man muß zu einer anderen Art des Sichverhaltens zu sich in der Seele kommen, um Fortschritte zu machen. Man muß gewissermaßen in die Lage kommen, den Augenblick zu erfassen – so möchte ich es nennen. Im gewöhnlichen Bewußtsein haben wir Zeit, den Gedanken da zu lassen im Bewußtsein, wenn wir dieses oder jenes auffassen wollen. Wenn wir aber zum denkerischen Erleben, zum Erleben des anschauenden Denkens aufrücken, müssen wir in die Lage kommen, dasjenige, was herauserglänzt, heraus sich offenbart aus der geistigen Welt – also zunächst aus dieser Welt des Ätherleibes, – rasch im Augenblick zu erfassen. Ich möchte sagen, jene Auffassungsweise, die wir sonst als die Auffassungsweise der Reflexakte bezeichnen, die muß, sich vergeistigend, unseres Seelenlebens bemächtigen. Wir brauchen nicht erst lange einen Gedanken zu fassen im Bewußtsein, wenn zum Beispiel eine Fliege uns ins Auge fliegen will, sondern wir schließen das Auge rasch. Wie wir da die Geistesgegenwart haben, im Augenblick das Richtige zu treffen, so müssen wir innerlich mit der Seele im Augenblick dasjenige erfassen, was aus der geistigen Welt herausblitzt und nur dadurch in die persönlichen Gedanken hereingebracht werden kann, daß er stark erfaßt wird, aber im Augenblick erfaßt wird. Dieses Üben der Geistesgegenwart für das Erfassen, das gehört zu dem Wichtigsten, das sich der Geistesforscher aneignen muß. Eignet er es sich nicht an, so kann es kommen, daß die Dinge, die er beobachtet – wie es vielen geht, die Versuche machen auf diesem Gebiet – in dem Augenblick, wo er aufmerksam wird, wo er sie gewahr wird, auch schon wiederum verflogen sind, so daß sie wie nicht dagewesen sind. [10]

Das Allerwichtigste und Wesentlichste im Erleben tritt an die Seele aus der geistigen Welt so heran, daß es ganz schnell auftritt – und vorüberhuscht, ohne daß man es beobachten kann. Deshalb entgehen dem Menschen die Geheimnisse der geistigen Welt, weil er nicht Geistesgegenwart genug hat. Eine der besten Übungen, um sich in der geistigen Welt zurechtzufinden, ist, daß man sich schon im äußeren Leben daran gewöhnt, Geistesgegenwart zu entwickeln, daß man sich gewöhnt, in einer Situation nicht lange zu zögern. Je mehr Geistesgegenwart man hat und besonders in Situationen, die ein rasches Denken erfordern, desto mehr schult man sich, um das zu erhaschen, was die geistige Welt bietet. [11]

Werden statt Sein ist das Gesetz der geistigen Welt

Gegenüber dem Leben im Leib hat das geistige Erleben insoferne etwas völlig Ungewohntes, als für dieses Erleben die Idee des Seins, wie sie innerhalb der physischen Welt erworben wird, alle Bedeutung verliert. Es gibt im Geistigen nichts Seiendes wie in der physischen Welt. Im Geiste ist alles Werden. Das Einleben in eine geistige Umwelt ist ein Einleben in ein immerwährendes Werden. Dieser Unruhe des Werdens der geistigen Außenwelt steht aber gegenüber das Erleben des Inneren, das sich als ruhendes Bewußtsein innerhalb der nie ruhenden Bewegung, in die es versetzt ist, wahrnimmt. Das erwachte geistige Bewußtsein muß sich in diese Umkehrung des inneren Erlebens gegenüber dem Bewußtsein, das im Leibe lebt, hineinfinden. Dadurch kann es sich ein wirkliches Wissen von einem leibfreien Erleben erringen. Und nur ein solches Wissen kann (beispielsweise) die Zustände zwischen Tod und neuer Geburt in seinen Bereich aufnehmen. [12]

Das Denken als der Ausgangspunkt der geistigen Erkenntnis

Der Mensch ist ein Gedankenwesen. Und er kann seinen Erkenntnispfad nur finden, wenn er vom Denken ausgeht. Wer sich behufs höherer Erkenntnis, unter Verschmähung der Gedankenarbeit, an andere Kräfte im Menschen wenden wollte, der berücksichtigt nicht, daß das Denken eben die höchste der Fähigkeiten ist, die der Mensch in der Sinnenwelt besitzt. [13] Es wäre allerdings viel bequemer, wenn man zu der höheren Sehergabe unter Vermeidung der Gedankenarbeit kommen könnte. Das möchten eben viele. Es ist aber dazu eine innere Festigkeit, eine seelische Sicherheit nötig, zu der nur das Denken führen kann. Sonst kommt doch nur ein wesenloses Hin- und Herflackern in Bildern, ein verwirrendes Seelenspiel zustande, das zwar manchem Lust macht, das aber mit einem wirklichen Eindringen in höhere Welten nichts zu tun hat. [14]

Wenn wir denken, sind wir scheinbar ganz allein in uns, dennoch wirken Wesen geistiger Art in unseren Gedanken mit. Betrachten wir einen Gedanken in uns. Hinter diesem Gedanken steht eine geistige Wesenheit. Wenn wir uns ein-geschlossen denken von allen Seiten vom «Leibe» einer geistigen Wesenheit, so ist der Gedanke nur ein Ausdruck des «Leibes» der geistigen Wesenheit, die in uns hineinwirkt. Jedesmal wenn ein Gedanke durch unsere Seele zuckt, ist das ein Abdruck, eine Art Fußspur einer höheren geistigen Wesenheit. Diese geistige Wesenheit ist aus demselben Stoffe gebildet, aus dem der Gedanke besteht. [15]

Die Leute sind heute im allgemeinen auf Gedanken wirklich nicht eingeschult, weil sie das Sich-Bewegen in den Projektionen der Sprache lieber für Gedanken halten. Die Menschen überlassen sich diesen sogenannten Gedanken, sie geben sich passiv hin, nehmen auch jeden sogenannten Gedanken an, der ihnen durch den Kopf rollt. Und die Folge davon ist, daß der Gedankenwille, das Willkürliche, das aktiv Arbeitende im Gedanken, daß das heute in den Menschenseelen zu dem Allerseltensten gehört. [16]

Die Gedanken sind die in den Dingen waltenden Kräfte. Und unser Denkorgan ist eben nur etwas, was aus dem kosmischen Reservoir der Gedankenkräfte schöpft, was die Gedanken in sich hereinnimmt. Wir müssen von Gedanken so sprechen, daß wir uns bewußt sind: Gedanken sind die weltbeherrschenden Kräfte, die überall im Kosmos ausgebreitet sind. Aber diese Gedanken fliegen deshalb doch nicht frei herum, sondern sie sind immer getragen, bearbeitet von irgendwelchen Wesenheiten. [17]

Denken, Begriffe und Ideen

Durch das Denken entstehen Begriffe und Ideen. Wenn jemand einen Baum sieht, so reagiert sein Denken auf seine Beobachtung, zu dem Gegenstande tritt ein ideelles Gegenstück hinzu, und er betrachtet den Gegenstand und das ideelle Gegenstück als zusammengehörig. Wenn der Gegenstand aus seinem Beobachtungsfelde verschwindet, so bleibt nur das ideelle Gegenstück davon zurück. Das letztere ist der Begriff des Gegenstandes. Die Begriffe stehen aber durchaus nicht vereinzelt da. Sie schließen sich zu einem gesetzmäßigen Ganzen zusammen. [18] Heute betrachten wir eine Uhr und bilden uns einen Begriff davon. Aber wir könnten uns den Begriff «Uhr» nicht bilden, wenn nicht einmal jemand diesen Begriff, bevor es Uhren gab, gebildet und danach eine Uhr konstruiert hätte. Geradeso ist es mit den Begriffen aller Dinge. Die Begriffe, die wir uns über die Dinge der Welt bilden, existierten als Wirklichkeiten in urferner Vergangenheit. Damals wurden sie in die Dinge hineingelegt. Alles entsteht nach solchen Begriffen, wie es die Menschen mit ihren Schöpfungen heute auch machen. [19] Sie können sich das Gefüge, das Netz von Begriffen, das der Mensch hat – von den mathematischen Größen und Zahlenbegriffen angefangen bis zu den kompliziertesten Begriffen, mit denen Goethe in seiner «Metamorphose» einen Anfang gemacht hat, die aber in unserer abendländischen Kultur noch ganz in den Anfängen ruhen, – Sie können sich dieses ganze Begriffsnetz wie eine Tafel vorstellen, die die Grenze bildet zwischen der sinnlichen Welt auf der einen und der geistigen Welt auf der anderen Seite. So also können wir uns gerade durch das Begriffsnetz begrenzt denken: auf der einen Seite die Sphäre der übersinnlichen und auf der anderen Seite die Sphäre der sinnlichen Wirklichkeit. Wenn der Mensch so an die sinnliche Wirklichkeit herantritt, wird er finden, daß diese sinnliche Wirklichkeit übereinstimmt mit dem, was er sich als Begriff konstruiert hat. Er kann zum Beispiel finden, daß sein innerlich konstruierter Begriff des Kreises (als Ort aller Punkte, die von einem Mittelpunkt den gleichen Abstand haben) zusammenfällt mit dem Kreis (dem Horizont), der sich der sinnlichen Beobachtung ergibt durch das Hinausfahren aufs Meer. Er fängt dann an zu verstehen, was sich ihm in der Wahrnehmung darbietet im Vergleich zu dem, was er sich selbst als Begriff gebildet hat. Begriffe werden also nicht durch Wahrnehmung (und nachfolgende Abstraktionen) gewonnen. Das ist ein Vorurteil, das heute sehr verbreitet ist. Begriffe werden gewonnen durch innerliche Konstruktion. Der Begriff ist sozusagen dasjenige, wozu der Mensch kommt, gerade wenn er absieht von aller äußeren, sinnlichen Wirklichkeit. Und nun kann er zusammenwirken lassen, was er innerlich konstruiert hat, mit dem, was sich ihm äußerlich als sinnliche Wirklichkeit darstellt. Damit hätten wir fixiert die Stellung des Begriffsnetzes zu der äußeren, sinnlichen Wirklichkeit.

Wie ist die Stellung unseres Begriffsnetzes zu der übersinnlichen Wirklichkeit? Zunächst ist es nicht anders als bei der sinnlichen Wirklichkeit. Wenn jemand sich die übersinnliche Wirklichkeit eröffnet und nun mit seinen Begriffen an diese Wirklichkeit herantritt, so wird er ebenso dieses Begriffsnetz zusammen-fallend finden mit der übersinnlichen Wirklichkeit. Genau ebenso werden die übersinnlichen Tatsachen und Wesen, nur von der anderen Seite her, auf sein Begriffsnetz wirken, und er wird es damit zusammenfallend finden. So daß wir sagen können: Es werfen gewissermaßen die übersinnlichen Wirklichkeiten ihre Strahlen auf das Begriffsnetz, wie auf der anderen Seite die sinnliche Wirklichkeit dies tut. Am Begriffsnetz treffen sich sinnliche und übersinnliche Wirklichkeit. [20]

Das Netz der Begriffe hat einen rein geistigen Ursprung

Woher stammt dieses Begriffsnetz eigentlich? Wir können es uns am besten dadurch klarmachen, wenn wir uns das Bild eines Schattens, der an die Wand geworfen wird, vorstellen. Wenn Sie sehen, daß die Hand ein Schattenbild an die Wand wirft, so werden Sie sagen: Wenn die Hand nicht da wäre, so würde auch das Schattenbild nicht entstehen. Das Schattenbild ist seinem Urbilde ähnlich, aber es hat eine besondere Eigentümlichkeit, es ist eigentlich – nichts. Denn gerade weil die Hand das Licht abhält, dadurch, daß an die Stelle des Lichtes das Nicht-Licht tritt, dadurch entsteht das Schattenbild. Also durch Auslöschung des Lichtes durch die Hand entsteht das Schattenbild. Genau ebenso entstehen unsere Begriffe in Wirklichkeit. Wir meinen nur, daß wir sie aus uns herausspinnen. Sie entstehen dadurch, daß hinter unserer denkenden Seele die übersinnliche Wirklichkeit steht und auf diese Seele ihre Schattenbilder wirft. Und der Begriff ist eigentlich nichts anderes als das Auslöschen der übersinnlichen Wirklichkeit auf der Wand unserer Seele. Und weil unsere Begriffe den Urbildern der übersinnlichen Welt ähnlich sind – wie das Schattenbild der Hand seinem Urbilde (der wirklichen Hand) ähnlich ist, – darum sind die Begriffe etwas, was im Menschen eine Ahnung hervorrufen kann von den übersinnlichen Wirklichkeiten. Daß der Mensch meint, das Begriffsnetz aus sich herauzuspinnen, kommt daher, weil er zunächst keine Anschauung hat von dieser übersinnlichen Welt. Aber sie ist da und wirft ihre Schattenbilder. Wo sie auftrifft auf die Wahrnehmungen des Sinnlichen, da entstehen diese Schattenbilder. Wir haben also in den Begriffen keine übersinnliche Wirklichkeit, ebensowenig, wie wir im Schattenbilde der Hand die Hand selbst haben, aber wir haben sozusagen Schattenbilder davon.

Damit haben wir das Begriffsnetz sozusagen als die Grenze zwischen sinnlicher und übersinnlicher Wirklichkeit definiert, dabei aber erkannt, daß die Begriffe nicht aus der sinnlichen, sondern aus der übersinnlichen Welt in die Seele einströmen. [21]

Zitate:

[1]  GA 84, Seite 154ff   (Ausgabe 1961, 291 Seiten)
[2]  GA 35, Seite 274f   (Ausgabe 1965, 484 Seiten)
[3]  GA 35, Seite 275f   (Ausgabe 1965, 484 Seiten)
[4]  GA 35, Seite 276f   (Ausgabe 1965, 484 Seiten)
[5]  GA 35, Seite 279   (Ausgabe 1965, 484 Seiten)
[6]  GA 35, Seite 280ff   (Ausgabe 1965, 484 Seiten)
[7]  GA 35, Seite 283   (Ausgabe 1965, 484 Seiten)
[8]  GA 21, Seite 130f   (Ausgabe 1960, 182 Seiten)
[9]  GA 273, Seite 153   (Ausgabe 1981, 286 Seiten)
[10]  GA 66, Seite 49f   (Ausgabe 1961, 269 Seiten)
[11]  GA 67, Seite 23f   (Ausgabe 1962, 367 Seiten)
[12]  GA 35, Seite 287   (Ausgabe 1965, 484 Seiten)
[13]  GA 9, Seite 172   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[14]  GA 9, Seite 175   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[15]  GA 93a, Seite 128f   (Ausgabe 1972, 286 Seiten)
[16]  GA 190, Seite 158   (Ausgabe 1980, 238 Seiten)
[17]  GA 283, Seite 151f   (Ausgabe 1975, 186 Seiten)
[18]  GA 4, Seite 57   (Ausgabe 1973, 278 Seiten)
[19]  GA 97, Seite 88   (Ausgabe 1981, 340 Seiten)
[20]  GA 108, Seite 238ff   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[21]  GA 108, Seite 240f   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)

Quellen:

GA 4:  Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung – Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode (1894)
GA 9:  Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung (1904)
GA 21:  Von Seelenrätseln (1917)
GA 35:  Philosophie und Anthroposophie (1904-1923)
GA 66:  Geist und Stoff, Leben und Tod (1917)
GA 67:  Das Ewige in der Menschenseele. Unsterblichkeit und Freiheit (1918)
GA 84:  Was wollte das Goetheanum und was soll die Anthroposophie? (1923/1924)
GA 93a:  Grundelemente der Esoterik (1905)
GA 97:  Das christliche Mysterium (1906/1907)
GA 108:  Die Beantwortung von Welt- und Lebensfragen durch Anthroposophie (1908/1909)
GA 190:  Vergangenheits- und Zukunftsimpulse im sozialen Geschehen (1919)
GA 273:  Geisteswissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes «Faust» Band II: Das Faust-Problem. Die romantische und die klassische Walpurgisnacht (1916-1919)
GA 283:  Das Wesen des Musikalischen und das Tonerlebnis im Menschen (1906/1920)