Wahrheit

Was wir glauben, ist unsere persönliche Angelegenheit. Überpersönlich ist das, was durch die Welt der Tatsachen zu uns spricht. Dem haben wir uns zu fügen, dem haben wir nachzugehen. [1] Eignen wir uns nicht in der physischen Welt eine Gesinnung für Tatsächlichkeiten an, so werden wir sie nicht finden können für die geistige Welt. Deshalb sind wir in die physische Welt hereingestellt, wo wir angewiesen sind, die Übereinstimmung der Vorstellung mit der Objektivität zu suchen, damit wir dieses uns aneignen, damit dieses eine Gewohnheit werde, und wir dieses hineintragen können in die geistige Welt. [2] Die Menschheit braucht fortwährend Wahrheiten, die nicht zu jeder Zeit vollständig verstanden werden können. Wahrheiten in sich aufnehmen, bedeutet nämlich nicht nur etwas für die Erkenntnis, sondern Wahrheiten als solche enthalten Lebenskraft. Und indem wir uns mit der Wahrheit durchdringen, durchdringen wir uns in unserem Seelischen mit einem Elemente der Welt, wie wir uns durchdringen müssen in unserem Leiblichen fortwährend mit der von außen aufgenommenen Luft, damit wir leben können. Das ist der Grund, warum in den religiösen Urkunden tiefe Wahrheiten ausgesprochen werden, aber in solcher Form, daß die Menschen sie oftmals ihrer eigentlichen inneren Bedeutung nach erst viel später erkennen können, als sie geoffenbart werden. [3]

Indem die Wahrheit in Form der Gedanken im Menschen lebt, lebt sie im ätherischen Leib. Wahrheit erfaßt unmittelbar den Ätherteil des Kopfes und überträgt sich da natürlich als Wahrheit auf den physischen Teil des Kopfes. [4] Das Wahre nimmt man eigentlich erst dann wahr, wenn es einem gelingt, die Urteile so zu erfassen, daß man sie losbekommt vom physischen Leibe, daß man den Ätherleib losbekommt vom physischen Leibe. Das erste Hellsehen ist schon das wirklich reine Denken. Derjenige, der einen reinen Gedanken faßt, ist schon hellsehend. Nur ist das gewöhnliche menschliche Denken eben kein reines Denken, sondern ein von sinnlichen Vorstellungen, von Phantasmen erfülltes Denken. Aber derjenige, der einen reinen Gedanken faßt, ist eigentlich schon hellsehend, denn der reine Gedanke kann nur im Ätherleibe gefaßt werden. [5]

Jeder hat seine eigene Wahrheit: weil jeder ein individuelles, besonderes Wesen neben und mit anderen ist. Diese anderen Wesen wirken auf ihn durch seine Organe. Von dem individuellen Standpunkte aus, auf den er gestellt ist, und je nach der Beschaffenheit seines Wahrnehmungsvermögens bildet er sich im Verkehr mit den Dingen seine eigene Wahrheit. Er gewinnt sein Verhältnis zu den Dingen. Tritt er dann in die Selbsterkenntnis ein, lernt er sein Verhältnis zu sich selbst kennen, dann löst sich seine besondere Wahrheit in die allgemeine Wahrheit auf; diese allgemeine Wahrheit ist in allen dieselbige. [6] Der Orient und der Okzident haben auch ganz verschiedene Arten der Einweihung, entsprechend dem tieferen Charakter der Völker. Wichtiger als der orientalische Weg ist für uns hier natürlich der europäische, indessen führen alle diese Wege zu ein und demselben Ziel, denn die Wahrheit ist hier und dort, heute und gestern und in alle Ewigkeit dieselbe. [7] (Doch) wenn wir wiederkommen werden (in einem nächsten Erdenleben) wird in anderer Form gesprochen werden, in einer höheren Form. Die (Aufnahmefähigkeit für die) Wahrheit entwickelt sich wie alles andere in der Welt. [8]

Dasjenige, was in dem gewöhnlichen Sinne des physischen Planes als wahr gilt, das kann sich im Grunde genommen, wenn wir unter Wahrheit verstehen, die Übereinstimmung mit dem, was schon ist, nur auf das Vergangene, das heißt auf das Notwendige beziehen. Was im lebendigen Entstehen ist, das müssen wir immer produzieren. Darinnen müssen wir leben. Darinnen müssen wir uns gerade aus dem Notwendigen herausfließende, lebendige Begriffe aneignen gegenüber dem Lebendigen. Da können wir nicht auf etwas, womit der Begriff übereinstimmt, hinschauen, sondern nur in dem Begriff selber leben. [9]

Weil der Mensch mit seinem Bewußtsein nicht so untertaucht in seinen Ätherleib, kommt ihm die Wahrheit als etwas Fertiges vor. Das ist gerade das Bestürzende, das Überraschende der Initiation, daß man beginnt, die Wahrheit, wie sie da hineinpulst in den Ätherleib, als etwas ebenso Freies zu empfinden, wie man sonst das Hereinpulsieren der Moralität empfindet oder der Schönheit in den astralischen Leib. Das ist dieses Bestürzende, Überraschende aus dem Grunde, weil es den Menschen, der irgendeine Initiation durchgemacht hat, in ein viel freieres Verhältnis zur Wahrheit bringt, und dadurch in ein viel verantwortungsvolleres Verhältnis zur Wahrheit. Tritt die Wahrheit ganz unbewußt in uns herein, dann ist sie fertig, und dann sagen wir einfach mit der gewöhnlichen Logik: das ist wahr, das ist unwahr. Dann hat man ein viel geringeres Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber der Wahrheit, als wenn man weiß, daß die Wahrheit geradeso im Grunde abhängig ist von tiefliegenden Sympathie- und Antipathiegefühlen wie die Moralität und wie die Schönheit, so daß man ein gewisses freies Verhältnis zur Wahrheit hat. Hier liegt ein subjektives Mysterium vor, das sich darin äußert, daß manche, die nicht in richtiger, würdiger Weise sich dem Erlebnis der Initiation nähern, an ihrem Wahrheitsgefühl nicht so gewinnen, daß sie ein größeres Verantwortlichkeitsgefühl, das sie gegenüber der aufgezwungenen Wahrheit haben, verlieren und in ein gewisses unwahres Element hineinkommen. [10]

Was in der Wahrheit lebt, die sich zur Weisheit läutert, nimmt eigentlich schon während der Sonnenentwickelung seinen ersten Anfang, hat dann in einer gewissen Weise seinen Höhepunkt in der Mondenentwickelung, lebt sich weiter ein in der Erdentwickelung, und wird im wesentlichen schon vollendet sein bei dem, was wir als Jupiterentwickelung kennen. Da wird das menschliche Wesen mit Bezug auf den Inhalt der Weisheit einen gewissen vollen Abschluß erlangt haben. [11] Man kann die Wahrheit in irgendeinem Zeitalter zurückdrängen, aber die Wahrheit kann nicht vollständig unterdrückt werden, aus dem Grunde, weil sie – und das ist jetzt bildlich ausgesprochen gewissermaßen die Schwester der menschlichen Seele ist. [12]

Die Weisheit vom Kosmos, die ist im Grunde genommen in allen guten und schlechten Mysterien ja immer dem Wortlaute nach dieselbe, weil die Wahrheit dieselbe ist. Es handelt sich nur darum, sie in solcher Weise zu bekommen, daß sie entweder in gutem oder in schlechtem Sinne gewendet wird. [13] Man mag noch so viel zusammenlügen in bezug auf spirituelle Dinge, diese Dinge haben recht kurze Beine. Fruchtbar auf spirituellem Gebiet ist allein die Wahrheit. Das beginnt bereits da, wo wir mit unserer eigenen spirituellen Entwickelung beginnen, wo wir anfangen sollten, uns wahr einzugestehen, wie wir eigentlich sind. Das ist etwas, was zugleich als Impuls in allen spirituellen, in allen okkulten Bewegungen leben muß: daß nur das Wahre ein Fruchtbares, ein Wirksames sein kann. Wahrheit ist durchaus etwas in der Welt, was sich durch seine Fruchtbarkeit, durch seinen Segen für die Menschheit selber rechtfertigt. [14]

Kein menschliches Verhältnis läßt sich herstellen, ohne daß bis ins Innerste hinein Aufrichtigkeit und nicht Lügenhaftigkeit herrsche. Und Wahrheit muß herrschen zwischen den Menschen in allen Verhältnissen. Sehen Sie nicht überall in der Welt die Unwahrhaftigkeit wirken, ja sogar den Hang, die Sehnsucht zur Unwahrhaftigkeit wirken. [15]

Auf dem Wege, wodurch das, was wir innerlich in der Seele als Wahrheit wirklich erleben, zur Sprache wird, stumpft es sich bereits ab. Es ertötet sich in der Sprache noch nicht vollständig aber es stumpft sich bereits ab. Und der, der die Sprache kennt, der weiß, daß nichts anderes als die Eigennamen, die nur ein Ding immer bezeichnen, rechte Bezeichnungen für dieses Ding sind. Sobald wir generalisierte Namen haben, seien sie Haupt- oder Zeit- oder Eigenschaftswörter, sprechen wir nicht mehr voll die Wahrheit. Da besteht dann die Wahrheit darinnen daß wir uns dessen bewußt sind, daß wir im Grunde genommen mit jedem Satze von der Wahrheit abweichen müssen. Derjenige, der nämlich glaubt, daß die Worte selbst etwas anderes sind als eine Eurythmie, der irrt sich gar sehr. Die Worte sind nur eine vom Kehlkopf ausgeführte, von der Luft mitbewirkte Eurythmie. Sie sind bloß Gebärden, nur daß sie nicht mit den Händen und Füßen gemacht werden, die Gebärden, sondern daß sie mit dem Kehlkopf gemacht werden. [16]

Für den, der darauf aus ist, wirklich in die Wahrheit der Welt einzudringen, ist es wichtig zu wissen, daß Allseitigkeit notwendig ist, die sich darin ausspricht, daß dem menschlichen Geist wirklich 12 typische Weltanschauungen möglich sind. Will man wirklich zur Wahrheit kommen, dann muß man den Versuch machen, sich die Bedeutung dieser Weltanschauungen einmal klarzumachen, muß den Versuch machen, zu erkennen, auf welchen Gebieten des Daseins die eine oder die andere dieser Weltanschauungen den besseren Schlüssel bildet. [17] (Mehr siehe unter: Weltanschauungen). Wahr sind viele Sachen, aber bloß zu wissen, daß eine Sache wahr ist, das genügt noch nicht!– Es ist gar kein Zweifel, daß es wahr ist, was zum Beispiel die neuere Naturwissenschaft über die Verwandtschaft des Menschen mit den Affen sagt. Aber es kommt bei einer Wahrheit nicht bloß darauf an, daß man sie als Wahrheit hat, sondern daß man weiß, wie wichtig man die betreffende Wahrheit nehmen muß für die Gesamterklärung des Daseins. [18]

Zitate:

[1]  GA 54, Seite 256   (Ausgabe 1966, 540 Seiten)
[2]  GA 170, Seite 236   (Ausgabe 1964, 276 Seiten)
[3]  GA 155, Seite 195   (Ausgabe 1982, 252 Seiten)
[4]  GA 170, Seite 72   (Ausgabe 1964, 276 Seiten)
[5]  GA 176, Seite 116   (Ausgabe 1982, 392 Seiten)
[6]  GA 7, Seite 34   (Ausgabe 1960, 150 Seiten)
[7]  GA 97, Seite 181f   (Ausgabe 1981, 340 Seiten)
[8]  GA 95, Seite 106   (Ausgabe 1978, 164 Seiten)
[9]  GA 163, Seite 88   (Ausgabe 1975, 152 Seiten)
[10]  GA 170, Seite 72f   (Ausgabe 1964, 276 Seiten)
[11]  GA 170, Seite 74   (Ausgabe 1964, 276 Seiten)
[12]  GA 65, Seite 313   (Ausgabe 1962, 704 Seiten)
[13]  GA 171, Seite 58f   (Ausgabe 1964, 376 Seiten)
[14]  GA 124, Seite 27   (Ausgabe 1963, 254 Seiten)
[15]  GA 192, Seite 193   (Ausgabe 1964, 403 Seiten)
[16]  GA 182, Seite 179f   (Ausgabe 1976, 190 Seiten)
[17]  GA 151, Seite 47   (Ausgabe 1980, 92 Seiten)
[18]  GA 118, Seite 96   (Ausgabe 1977, 234 Seiten)

Quellen:

GA 7:  Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung (1901)
GA 54:  Die Welträtsel und die Anthroposophie (1905/1906)
GA 65:  Aus dem mitteleuropäischen Geistesleben (1915/1916)
GA 95:  Vor dem Tore der Theosophie (1906)
GA 97:  Das christliche Mysterium (1906/1907)
GA 118:  Das Ereignis der Christus-Erscheinung in der ätherischen Welt (1910)
GA 124:  Exkurse in das Gebiet des Markus-Evangeliums (1910/1911)
GA 151:  Der menschliche und der kosmische Gedanke (1914)
GA 155:  Christus und die menschliche Seele. Über den Sinn des Lebens. Theosophische Moral. Anthroposophie und Christentum (1912/1914)
GA 163:  Zufall, Notwendigkeit und Vorsehung. Imaginative Erkenntnis und Vorgänge nach dem Tode (1915)
GA 170:  Das Rätsel des Menschen. Die geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte (1916)
GA 171:  Innere Entwicklungsimpulse der Menschheit. Goethe und die Krisis des neunzehnten Jahrhunderts (1916)
GA 176:  Menschliche und menschheitliche Entwicklungswahrheiten. Das Karma des Materialismus (1917)
GA 182:  Der Tod als Lebenswandlung (1917/1918)
GA 192:  Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen (1919)