Vorstellungen

Die Sprachwelt, die der Archangelos beherrscht, schattet sich nach innen zu ab zu einer Welt, die zwischen Gefühl und Gedanken mitten drinnen lebt: zu der Welt der Vorstellungen. [1] Die Vorstellung ist ein nach innen gewendetes Sinneser-lebnis. [2] Ich sehe nicht bloß einen Baum, sondern ich weiß auch, daß ich es bin, der ihn sieht. Ich erkenne auch, daß in mir etwas vorgeht, während ich den Baum beobachte. Wenn der Baum aus meinem Gesichtskreise verschwindet, bleibt für mein Bewußtsein ein Rückstand von diesem Vorgange: ein Bild des Baumes. Dieses Bild hat sich während meiner Beobachtung mit meinem Selbst verbunden. Mein Selbst hat sich bereichert; sein Inhalt hat ein neues Element in sich aufgenommen. Dieses Element nenne ich meine Vorstellung von dem Baume. Ich käme nie in die Lage, von Vorstellungen zu sprechen, wenn ich diese nicht in der Wahrnehmung meines Selbst erlebte. Wahrnehmungen würden kommen und gehen; ich ließe sie vorüberziehen. Nur dadurch, daß ich mein Selbst wahrnehme und merke, daß mit jeder Wahrnehmung sich auch dessen Inhalt ändert, sehe ich mich gezwungen, die Beobachtung des Gegenstandes mit meiner eigenen Zustandsveränderung in Zusammenhang zu bringen und von meiner Vorstellung zu sprechen. Die Vorstellung nehme ich an meinem Selbst wahr, in dem Sinne, wie Farbe, Ton und so weiter an andern Gegenständen. Ich kann jetzt auch den Unterschied machen, daß ich diese andern Gegenstände, die sich mir gegenüberstellen, Außenwelt nenne, während ich den Inhalt meiner Selbstwahrnehmung als Innenwelt bezeichne. Die Verkennung des Verhältnisses von Vorstellung und Gegenstand hat die größten Mißverständnisse in der neueren Philosophie herbeigeführt. [3] Was weiß heutige Wissenschaft zum Beispiel von einem außerordentlich Wichtigen: Worauf rein materialistisch das Vorstellen beruht? – Solche Dinge spreche ich heute aus, weil ich 30 bis 35 Jahre meines Lebens über diese Dinge Forschung getrieben habe. Die Vorstellung beruht darauf, daß der Mensch in sich im Verlaufe des Blutkreislaufes zum Beispiel innerlich Kohlensäure hat, die noch nicht ausgeatmet ist. Wenn innerlich Kohlensäure zirkuliert, die noch nicht ausgeatmet ist, so ist das das materielle Gegenstück, das materielle Korrelat des Gedankens. [4]

Dadurch, daß der Mensch mit dem Ätherleib der astralischen Welt (siehe: Astralplan) angehört, lebt er in seinen Vorstellungen als in etwas, was der physischen Welt gar nicht eigen ist. Die physische Welt gibt uns Wahrnehmungen. Aber von ihnen müssen wir uns abwenden, und dann bleibt uns noch etwas: Vorstellungen. Sie sind schon etwas Übersinnliches. Diese Vorstellungen hat der Mensch dadurch, daß die Kräfte der Astralwelt in seinen Ätherleib hineinreichen, so daß der Mensch durch seine Vorstellungen in einem gewissen Zusammenhang mit der Astralwelt steht. Vorstellungen über die Sinneswelt sterben im Kamaloka ab, nur die von Übersinnlichem kann der Mensch mitnehmen. [5] Der heutige Bauer denkt mehr, als der griechische Philosoph gedacht hat. Dagegen wurde dazumal das Wahrnehmungsvermögen viel mehr ausgebildet. Daher können wir zwei Epochen unterscheiden: Eine Epoche der Wahrnehmungen und eine der Vorstellungen. [6] Der Kopf, welcher der hauptsächlichste Sitz des Nerven-Sinnesorganismus ist, der ist fortwährend ruhig sitzend auf unserem übrigen Organismus. Es interessiert ihn nicht einmal, wenn ich zum Beispiel mit den Armen fuchtele. Da bewirkt das Fuchteln mit meinem linken Arm eine ruhige Tendenz in meiner rechten Kopfhälfte, wenn ich mit dem rechten Arme fuchtele, bewirkt das eine ruhige Tendenz in meiner linken Kopfhälfte. Und durch diese ruhige Tendenz ist es möglich, daß wir unsere Bewegungen mit Gedanken, mit Vorstellungen begleiten. Es ist ganz unrichtig, wenn etwa eine materialistische Weltanschauung meint, Vorstellungen beruhen auf Nervenbewegungen. Sie beruhen im Gegenteil, wenn sie Vorstellungen von irgendeiner Bewegung im Raume sind, auf ruhigen Tendenzen des Nervensystems. In demselben Maße wirken die Gedanken regsam und tätig als geist-seelische Substanz, in dem gerade die Nerven ruhig werden und sogar an Lebensintensität verlieren, sogar abgelähmt werden. [7] Die äußeren Sinneseindrücke wirken auf das Gehirn und dieses wirft die Bilder zurück, setzt also seine eigene Wesenheit den äußeren Bildern entgegen. Es entsteht also die Vorstellung der Außenwelt als zurückgeworfenes Bild des Gehirns. Wenn nun der Mensch überhaupt hellseherisch wird, so werden ihm nicht nur von den äußeren Gegenständen Eindrücke auf das Gehirn gemacht, sondern es werden Eindrücke gemacht auch von dem mittleren Menschen, die dann von dem Gehirn zurückgeworfen werden. [8]

Wir können nicht sagen, daß wir in demselben Sinne ein starkes Ich-Bewußtsein haben, wenn wir bloß vorstellen; im Gegenteil, es spielt beim bloßen Vorstellen immerfort das herein, daß dieses Ich-Erlebnis sich verdunkeln will, was eben in dem Übergang in einen träumerischen Zustand oder gar in eine Art schlaftrunkenen Zustand beim bloßen Vorstellen sich äußert. Wir tauchen tiefer in unser Inneres hinein, wenn wir bloß vorstellen, als wenn wir im Zusammenhange mit der Außenwelt in der Sinneswahrnehmung leben. Es muß da verwiesen werden auf die Selbstbeobachtung jedes einzelnen. Wir dringen dann eben vor, wenn wir an das Sinneserlebnis die Vorstellung anknüpfen, von unserem Ich in unseren astralischen Leib hinein. So daß wir sagen können: Ebenso wie das Leben in der Sinneswahrnehmung zusammengehört mit dem Ich-Erlebnis, so gehört das Vorstellungserleben zusammen mit dem astralischen Leibe. [9] Die Seele ist männlich und weiblich zugleich. Sie trägt in sich diese beiden Naturen. Ihr männliches Element ist dem verwandt, was man Willen nennt, ihr weibliches dem, was als Vorstellung bezeichnet wird. [10]

Es schattet sich die Sprachwelt, die der Archangelos beherrscht, nach innen ab zu einer Welt, die zwischen Gefühl und Gedanken mitten drinnen lebt: zu der Welt der Vorstellungen. [11]

Idealisten stehen immer vor der Gefahr, daß sie mit ihren Vorstellungen in luziferische Regionen hineinkommen, daß sie Schwärmer, Phantasten, Schwarmgeister werden, ohne wirklichen Boden unter den Füßen; (dagegen) mit ihrem Willen können sie leicht ahrimanisch werden, despotisch, tyrannisch. Die Materialisten werden in ihren Vorstellungen leicht ahrimanisch, werden nüchtern, philiströs, trocken, bürgerlich; in ihrem Willen können die Materialisten luziferisch werden; animalisch, begierlich, nervös, sensitiv, hysterisch. [12]

Zitate:

[1]  GA 208, Seite 38   (Ausgabe 1981, 220 Seiten)
[2]  GA 60, Seite 58   (Ausgabe 1983, 496 Seiten)
[3]  GA 4, Seite 68   (Ausgabe 1973, 278 Seiten)
[4]  GA 186, Seite 266   (Ausgabe 1979, 330 Seiten)
[5]  GA 143, Seite 35f   (Ausgabe 1970, 248 Seiten)
[6]  GA 143, Seite 38   (Ausgabe 1970, 248 Seiten)
[7]  GA 219, Seite 180f   (Ausgabe 1966, 212 Seiten)
[8]  GA 137, Seite 138   (Ausgabe 1973, 216 Seiten)
[9]  GA 206, Seite 120   (Ausgabe 1967, 208 Seiten)
[10]  GA 11, Seite 75   (Ausgabe 1955, 252 Seiten)
[11]  GA 208, Seite 39f   (Ausgabe 1981, 220 Seiten)
[12]  GA 190, Seite 74   (Ausgabe 1980, 238 Seiten)

Quellen:

GA 4:  Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung – Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode (1894)
GA 11:  Aus der Akasha-Chronik (1904/1908)
GA 60:  Antworten der Geisteswissenschaft auf die großen Fragen des Daseins (1910/1911)
GA 137:  Der Mensch im Lichte von Okkultismus, Theosophie und Philosophie (1912)
GA 143:  Erfahrungen des Übersinnlichen. Die drei Wege der Seele zu Christus. (1912)
GA 186:  Die soziale Grundforderung unserer Zeit – In geänderter Zeitlage (1918)
GA 190:  Vergangenheits- und Zukunftsimpulse im sozialen Geschehen (1919)
GA 206:  Menschenwerden, Weltenseele und Weltengeist – Zweiter Teil:. Der Mensch als geistiges Wesen im historischen Werdegang (1921)
GA 208:  Anthroposophie als Kosmosophie – Zweiter Teil:. Die Gestaltung des Menschen als Ergebnis kosmischer Wirkungen (1921)
GA 219:  Das Verhältnis der Sternenwelt zum Menschen und des Menschen zur Sternenwelt. Die geistige Kommunion der Menschheit (1922)