Vergessen

Wenn Sie eine Rose betrachten und die Vorstellung davon im Gedächtnis haben, beziehen Sie die Rosen-Vorstellung auf den äußeren Gegenstand. Dadurch ist die Vorstellung an den äußeren Gegenstand gefesselt und muß zu ihm ihre innere Kraft senden. In dem Augenblick aber, wo die Vorstellung von Ihnen vergessen wird, ist sie innerlich entfesselt. Da fängt sie an, Keimkräfte zu entwickeln, die innerlich an dem Ätherleib des Menschen arbeiten. So haben unsere vergessenen Vorstellungen für uns eine ganz wesentliche Bedeutung. [1] Für das Ich bedeuten Erinnerung und Vergessen etwas durchaus Ähnliches wie für den Astralleib Wachen und Schlaf. [2]

Was wir so gleichsam aus dem Gedächtnisschatze in das Unterbewußtere heruntersinken sehen, wird dann schöpferisch an unserer Seele selber. Wir sind es im Grunde genommen selbst, was die Dinge, die wir vergessen haben, aus uns gemacht haben. [3] Was da vergessen wird, ist ein gesundes Element, das in die verborgenen Tiefen unseres Seelenlebens hinuntersteigt. Und durch dieses haben wir etwas, das an uns arbeitet, das uns wieder von Stufe zu Stufe bringen kann. So kommt es (allerdings) darauf an, welchen Gegenstand man in sein Vergessen einbezieht. Denn aus diesem Vergessenen steigt oft etwas herauf, was nun der Gegenstand unserer im echten Sinne des Wortes gemeinten Einbildung, unserer Phantasie ist. Und während das verstandesmäßige Element ein das Leben ermüdendes, erschöpfendes Element ist, ist alles dasjenige, was unsere Seelenkräfte so in Bewegung bringt, daß wir etwas erfinden, ein befruchtendes, belebendes und lebenförderndes Element. [4]

Womit beschäftigt sich diese sozusagen vergessene Vorstellung? Sie hat ihr ganz bedeutungsvolles Amt. Sie fängt nämlich erst dann an, in der richtigen Weise an diesem Ihnen geschilderten freien Glied des Ätherleibes zu arbeiten und dieses freie Glied des Ätherleibes für den Menschen brauchbar zu machen, wenn sie vergessen ist. Es ist, als wenn sie erst dann verdaut wäre. [5] Es ist für die innere Gesundheit eines Menschen im höchsten Grade schädlich, wenn er gewisse Dinge durchaus nicht vergessen kann. Es zehrt an der Gesundheit eines Menschen, wenn wir nachträgerisch sind. Wenn uns jemand einen Schaden zugefügt hat und wir den Eindruck dessen, was er uns getan hat; in uns aufgenommen haben und immer wieder darauf zurückkommen, sobald wir ihn sehen, dann beziehen wir diese Vorstellung des Schadens auf den Menschen, wir lassen sie dann nach außen strömen. Nehmen wir aber an, wir hätten es dahin gebracht, dem Menschen, der uns einen Schaden zugefügt hat, so die Hand zu drücken, wenn wir ihm wieder begegnen, als ob nichts geschehen wäre: dann ist das in Wahrheit heilsam. Und es ist kein Bild, sondern eine Tatsache, daß es heilsam wirkt. Eine solche Vorstellung, die sich als stumpf und unwirksam nach außen erweist, wenn uns ein Mensch etwas getan hat, die ergießt sich in demselben Augenblick nach innen wie lindernder Balsam für gar mancherlei, was im Menschen ist. [6]

Von vielem, was auf Ihr Leben Einfluß gewonnen hat, was Sie aus dem Leben heraus miterzogen hat, haben Sie kein deutliches, klares Bewußtsein; darüber hat sich Vergessenheit gebreitet. Warum vergessen wir denn solche Einflüsse auf unser Leben? Aus dem Grunde vergessen wir sie, weil mit jedem Tag das Leben uns Neues in den Weg hereinbringt. Und wir würden schließlich dem Leben nicht mehr gewachsen sein, wenn wir alles das zusammenhalten müßten, was beigetragen hat, daß wir in einem bestimmten Zeitpunkt dem Leben gewachsen sind. Unsere Erlebnisse verwandeln sich dadurch, daß die gleichsam zusammenrinnen zu Fähigkeiten. [7]

Aber es gibt anderes im Menschenleben, das uns da oder dort in unserem eigenen Erfahren entgegengetreten ist; namentlich zahllose Eindrücke während der allerersten Kindheit gibt es, über die sich vollständiges Vergessen breitet. Zahlreiche Eindrücke dieser Art gibt es, die zwar nicht im Bewußtsein da sind, weil das Leben sie uns eben hat vergessen lassen, weil wir sonst dem Leben nicht gewachsen wären, wenn wir all das mitschleppen müßten. Trotzdem wir sie vergessen haben, sind sie wirksame Kräfte in unserem Seelenleben, die in unserem Seelenleben treibend sind. Solche Eindrücke können es dahin bringen, daß dieses Seelenleben sogar in einer ungünstigen Weise beeinflußt wird. Dann, wenn die vergessenen Eindrücke solche sind, daß sie gewissermaßen einem gesunden Leben widerstreben, können sie es dahin bringen, daß unser Seelenleben sozusagen in Teile zergliedert wird, auseinandergetrieben wird, und ein solches Auseinandertreiben des Seelenlebens kann in ungünstiger Weise auf unsere gesamte Verfassung; einwirken, kann bis in unsere Leiblichkeit hinunter allerlei Zustände erzeugen, welche man bezeichnet meinetwillen als Nervosität, Hysterie, die aber im Grunde genommen nur vollständig begriffen werden können, wenn man weiß, daß der Umfang des bewußten Lebens sich auch schon im normalen Leben nicht deckt mit dem Umfange des gesamten Seelenlebens. [8]

Tritt Erinnerung auf, so wird nicht die alte Vorstellung, wie sie irgendwo aufgehoben gewesen wäre, wieder vergegenwärtigt, sondern es wird nach innen angeschaut was durch einen Parallelvorgang (der dem augenblicklichen Erleben parallel geht, der zu Spurenbildung führt) geblieben ist. Erinnerung besteht (also) in einer inneren Wahrnehmung. [9] Der Vorgang des Vergessens beruht im wesentlichen darauf daß jenem Vorgang, den ich als Parallelvorgang erwähnt habe für das Vorstellungsbilden und auf dem die Erinnerung beruht, zugrunde liegt eine Aufstiegs- und eine Abstiegsphase des Geschehens. Ich könnte um mich verständlicher zu machen, darauf hinweisen, daß zwar nicht derselbe Vorgang, wohl aber der Vorgang gewissermaßen vorgebildet in dem vorliegt, was Goethe das «Abklingen der Sinneswahrnehmungen» nennt. Also wie die aufsteigende Phase dem Erinnern zugrunde liegt, so liegt die absteigende Phase dem Vergessen zugrunde. [10]

Zitate:

[1]  GA 107, Seite 90   (Ausgabe 1973, 328 Seiten)
[2]  GA 13, Seite 64   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[3]  GA 60, Seite 225   (Ausgabe 1983, 496 Seiten)
[4]  GA 61, Seite 441f   (Ausgabe 1962, 536 Seiten)
[5]  GA 107, Seite 89   (Ausgabe 1973, 328 Seiten)
[6]  GA 107, Seite 91   (Ausgabe 1973, 328 Seiten)
[7]  GA 119, Seite 169   (Ausgabe 1962, 279 Seiten)
[8]  GA 119, Seite 170   (Ausgabe 1962, 279 Seiten)
[9]  GA 73, Seite 184   (Ausgabe 1973, 398 Seiten)
[10]  GA 73, Seite 209f   (Ausgabe 1973, 398 Seiten)

Quellen:

GA 13:  Die Geheimwissenschaft im Umriß (1910)
GA 60:  Antworten der Geisteswissenschaft auf die großen Fragen des Daseins (1910/1911)
GA 61:  Menschengeschichte im Lichte der Geistesforschung (1911/1912)
GA 73:  Die Ergänzung heutiger Wissenschaften durch Anthroposophie (1917/1918)
GA 107:  Geisteswissenschaftliche Menschenkunde (1908/1909)
GA 119:  Makrokosmos und Mikrokosmos.. Die große und die kleine Welt. Seelenfragen, Lebensfragen, Geistesfragen (1910)