Denken wir uns einmal, was entstehen würde, wenn Sie alle nur von Ihren Eltern geboren sein könnten? Wir sehen dabei von Karma ab, sehen davon ab, daß wir natürlich in bestimmte Familien hineingeboren werden, wir sehen nur auf die physische Vererbung. Da würden Sie alle gleich sein als Menschen, da würden Sie nur den allgemeinen physischen Menschencharakter haben! Daß Sie ein ganz bestimmter individueller Mensch sind, daß soundsoviele individuelle Menschen hier vor uns sitzen, das rührt davon her, daß die allgemeine Menschheitsschablone bis in die feinste Gliederung ausziseliert ist von der geistigen Individualität, die aus der geistigen Welt kommt und untertaucht in dasjenige, was von Vater und Mutter gegeben wird. Nicht wahr, wir haben «im allgemeinen» Ohren, aber wir hören in individueller Weise. Wir haben –im allgemeinen» Augen, aber wir sehen in individueller Weise. Für die äußeren Organe ist es noch am wenigsten wahrnehmbar, für das innere Verhalten des Menschen aber, da fällt es schon stärker auf. Deshalb müssen wir unser Geistig-Seelisches hineinschieben in alle diese ganz allgemein gehaltenen Organe, wir müssen das ganz individuell gestalten, müssen die Kräfte, die innerlich-geistig-seelischen Handgriffe kennen, um das, was wir als Ohren, Nase, Augen, Gehirn, um all das, was wir als Vererbungsorgane erhalten haben, individuell zu gestalten. [1]
Man geht völlig fehl, wenn man heute die Entwickelung des Menschenkeimes einfach so darstellt, daß alles auf Vererbung zurückgeführt wird, während Dinge direkt aus dem Makrokosmos herein aufgenommen werden. [2] Aber soweit man innerhalb der rein materiellen Betrachtungsweise bleibt, glaubt man, daß alle Faktoren, alle Elemente, welche das Leben des Menschen erklären sollen, sich in dem erschöpfen, was man beobachten kann zwischen Geburt und Tod, oder was sich in das menschliche Leben durch die vererbten Eigenschaften der Eltern oder anderer Vorfahren hereinverpflanzt. Sobald allerdings die Menschen denkend daran gehen, diese Vererbung beim Menschen wirklich zu durchforschen, kommen sie bald darauf, wie es im Grunde genommen recht abergläubisch ist und keinem Aberglauben der früheren Zeiten etwas nachgibt, alles, was der Mensch ausleben kann in seinem Leben, etwa auf vererbte Anlagen zurückführen will. Ein sehr geistvoller Historiker hat es einmal unternommen, Familien, deren Abstammungsverhältnisse bekannt sein konnten, daraufhin zu prüfen, inwiefern die Eigenschaften der Eltern, der Voreltern und so weiter in das Leben der Nachkommen hineinleuchten, nämlich Ottokar Lorenz. Er konnte aber auf diesem Wege der rein erfahrungsgemäßen Beobachtung zu nichts anderem kommen, als zu sagen: Wenn man in die Vorfahrenreihe von Menschen hinaufschaut, so findet man doch, daß unter den 20 bis 30 Vorfahren, die ein jeder nach oben zählen kann, immer Menschen da sind, die entweder Genies oder Dummköpfe, Weise oder Narren, Musiker oder sonstige Künstler, gewesen sind, so daß man, wenn man die Vorfahrenreihe heraufgeht, alle Eigenschaften haben kann, die sich bei irgendeinem Menschen finden. [3]
Geisteswissenschaft fügt nun zu alle dem, was ja innerhalb der Vererbungslinie als Bedingungen für das menschliche Leben wirklich gefunden werden kann – und wenn es durch Erfahrung gefunden wird, leugnet sie den Zusammenhang nicht – einen geistigen Kern hinzu, den wir nicht finden können in alle dem, was wir bei den Eltern, Voreltern und so weiter suchen, sondern den wir innerhalb einer übersinnlichen, einer geistigen Welt suchen müssen. [4] Die Begriffe, durch welche die Naturwissenschaft in das physische Wesen der Vererbung einzudringen sucht, werden von der Geisteswissenschaft ebensowenig angefochten, sondern voll anerkannt wie andere naturwissenschaftliche Vorstellungen. Nun ist die vom physischen Organismus unabhängige Seele zwischen Tod und neuer Geburt nicht unverbunden mit der physischen Welt. Sie ist vielmehr mit den Verhältnissen, welche durch lange Geschlechterfolgen hindurch die Vorfahren ihres neuen physischen Erdenleibes zusammenführen, verbunden. Wie die Seele im physischen Dasein mit dem eigenen Leibe verbunden ist, so ist sie übersinnlich verbunden mit den Gesetzen, nach denen sich eine Geschlechterfolge bildet, die zuletzt zu dem Elternpaare führt, das diese Seele in ein neues Erdendasein trägt. Und sie ist ein Teil der Kräfte, welche in diesen Gesetzen wirken. Man kann deshalb sagen: ein Mensch ererbt gewisse Eigenschaften, weil er sich das Wesen dieser Vererbung selbst mitvorbereitet. [5] Die Seele ist schon seit Jahrhunderten tätig in dem, was die Menschenpaare zusammenführt. (Das) was geschieht zwischen den Menschen und sich dann ausprägt in der Vererbung, das wirkt, während hier die physische Vererbung vor sich geht, herein aus der geistigen Welt, so daß immer der richtige Vater zur richtigen Mutter geführt wird. Da wird vorbereitet das, wozu die Seele strebt, damit sie dann geboren werde in dem Nachkommen. [6]
Der Mensch wählt sich seine Eltern nach der Gestalt. Er hat das Bild für sich selbst vor sich, seinen Eltern ähnlich zu werden. Er wird dann nicht durch Vererbung ähnlich, sondern durch seine inneren geistig-seelischen Kräfte, die er sich gerade aus der geistigen Welt herunterbringt. Nun handelt es sich darum, daß der Mensch im Grunde genommen die ganze Zeit zwischen dem Tod und einer neuen Geburt im Vereine mit anderen verstorbenen Seelen und im Vereine mit den Wesenheiten der höheren Welten an demjenigen arbeitet, was ihm die Möglichkeit bringt, sich seinen Körper aufzubauen. Man unterschätzt das, was der Mensch im Unterbewußten trägt, gar sehr. Man ist im Unterbewußten viel weiser als im Oberbewußten als Erdenmensch. Man arbeitet schon aus einer universellen Weltenweisheit dasjenige aus, was sich innerhalb des Modells (dem vererbten Körper) dann im zweiten Lebensalter zu dem ausgestaltet, was man nun als seinen eigentlichen, einem zugehörigen Menschen an sich trägt. Wird man einmal wissen, wie wenig der Mensch eigentlich in bezug auf seine Körpersubstanz aufnimmt aus dem, was er ißt – wie er viel mehr entnimmt dem, was er aus Luft und Licht und so weiter aufnimmt in außerordentlich fein verteiltem Zustande –, dann wird man noch eher glauben können, daß der Mensch sich ganz unabhängig von allen Vererbungsverhältnissen seinen zweiten Körper für das zweite Lebensalter ganz und gar aus der Umgebung aufbaut. Der erste Körper ist tatsächlich nur ein Modell, und dasjenige, was den Eltern entstammt, substantiell und auch den äußeren körperlichen Kräften nach, das ist nicht mehr da im zweiten Lebensalter. Das Verhältnis zu den Eltern wird ein moralisch-seelisches im zweiten Lebensalter, und es ist ein physisches Vererbungsverhältnis nur im ersten Lebensalter bis zum 7. Lebensjahre. [7] Damit ich irgendein vererbtes Merkmal von meinem Vater oder meiner Mutter an mir trage, muß ich ja erst die Sympathien oder Antipathien zu diesem Merkmal bei Vater und Mutter entwickeln. Es hängt also nicht davon ab, daß ich diese Eigenschaften ererbt habe bloß durch irgendeine leblose Naturkausalität, sondern es hängt davon ab, ob ich Sympathie mit diesen Eigenschaften gehabt habe. Denn schon im vorirdischen Dasein des Menschen treten die Sympathien und Antipathien auf, und die geben ihm sein innerstes Gefüge. Mit denen tritt er dann ins irdische Dasein herein, mit denen zimmert er sich aus dem vorirdischen Dasein heraus sein Schicksal. Und diese Sympathien und Antipathien werden unter dem Einflusse von Exusiai, Dynamis und Kyriotetes in dem Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt gebildet. Diese Sympathien und Antipathien lassen uns dann die Menschen im Leben finden, mit denen wir weiter zu leben haben nach Maßgabe der früheren Erdenleben. Das gestaltet sich aus unserem inneren Menschengefüge heraus. [8]
Nehmen wir an, es würde jemand in einem Leben zwischen Geburt und Tod Gelegenheit haben, viele musikalische Eindrücke zu empfangen, diese gingen aber in diesem Leben an ihm vorüber, einfach aus dem Grunde, weil er kein musikalisches Ohr hatte. Andere Eindrücke seines Lebens werden nicht an ihm in derselben Weise vorübergehen, weil er gerade so gebaute Organe hat, daß er die Erlebnisse und Eindrücke in eigene Fähigkeiten umsetzen kann. Daher werden wir sagen können, ein Mensch habe in seinem Leben solche Eindrücke, die er durch die Anlage, welche er von seiner letzten Geburt mitbekommen hat, umzusetzen vermag in Fähigkeiten und Talente; andere Eindrücke hat er, welche er vermöge seines Gesamtkarma, weil er durch dieses nicht die entsprechenden Anlagen erhalten hat, nicht umsetzen kann in die entsprechenden Fähigkeiten. Die bleiben aber vorhanden, bleiben aufgespeichert und bilden sich um in der Zeit zwischen Tod und neuer Geburt zu der besonderen Tendenz, in der nächsten Inkarnation nunmehr zum Ausleben zu gelangen. Und diese Tendenz führt den Menschen dahin, im nächsten Leben seine Leiblichkeit gerade in einer solchen Familie zu suchen, welche ihm die entsprechenden Anlagen geben kann. Beobachten wir jetzt einen solchen Menschen vom Zeitpunkt seiner Geburt an, dann wird es uns so vorkommen, als ob das musikalische Ohr in ihm wäre, eine Eigenschaft in seinem Inneren. Würden wir aber mit unseren Betrachtungen hinübergehen vor seine Geburt, so würden wir finden, wie das musikalische Ohr, das er sich erst aufgesucht hat, etwas ist, was von außen an ihn herangekommen ist. Vor der Wiederverkörperung war die Eigenschaft, die wir nachher eine vererbte nennen, etwas Äußeres, er ist dazu hingeeilt. Mit der Verkörperung wird es dann etwas Inneres. [9]
Vererbbar durch das Zusammenwirken der Geschlechter ist nur das am physischen Leibe, was mit dem Einfluß des Astralleibes auf den physischen Leib zusammenhängt; während alles, was Gesetze sind, die auf die Saturn- und Sonnenzeit zurückgeführt werden müssen, überhaupt nichts zu tun hat mit dem Zusammenwirken der Geschlechter. Unmittelbar wird ein Teil der Menschennatur empfangen – nicht von dem anderen Geschlecht, sondern unmittelbar aus dem Makrokosmos herein. Deshalb müssen wir in der menschlichen Natur unterscheiden einen solchen Teil, der auf das Zusammenwirken der Geschlechter zurückgeht, und einen solchen, der unmittelbar von der Mutter empfangen wird vom Makrokosmos herein. [10]
Der astralische Leib enthält dasjenige, was unseren Empfindungen, unserer ganzen Temperamentsanlage sich einprägt, dasjenige, was uns den Seelencharakter gibt. Und in dieses, was uns da den Seelencharakter gibt, wirken wiederum herein in der Zeitenfolge elementarische Wesenheiten, Wesenheiten, die von den Vorfahren zu den Nachkommen hintragen die Kräfte, so daß diese Nachkommen in einer gewissen Weise werden. [11]
Unmittelbar vererben können sich allerdings nur diejenigen Eigenschaften des Menschen, die seinem physischen Körper und seinem Ätherleib zukommen. Alles, was damit zusammenhängt, ist unmittelbar zu vererben. In geringerem Maße schon ist vererbbar, was an den sogenannten Seelenleib gebunden ist. Darunter ist zu verstehen eine gewisse Disposition in den Empfindungen. Ob man einen lebhaften Gesichtssinn, ein gut entwickeltes Gehör und so weiter hat, das kann davon abhängen, ob sich die Vorfahren solche Eigenschaften erworben und auf uns vererbt haben. Dagegen kann niemand das auf seine Nachkommen übertragen, was mit dem eigentlich geistigen Wesen des Menschen zusammenhängt, also die Schärfe und Genauigkeit seines Vorstellungslebens, die Zuverläßigkeit seines Gedächtnisses, den moralischen Sinn, die erworbenen Erkenntnis- und Kunstfähigkeiten und so weiter. Dies sind Eigenschaften, die innerhalb seiner Individualität beschlossen bleiben, und in seinen nächsten Reinkarnationen als Fähigkeiten, Anlagen, Charakter und so weiter zum Vorschein kommen. – Nun ist aber die Umgebung, in welche der sich wiederverkörpernde Mensch eintritt, nicht zufällig, sondern sie steht in einem notwendigen Zusammenhange mit seinem Karma. Man nehme zum Beispiel an, ein Mensch habe sich in seinem früheren Leben die Anlage zu einem moralisch starken Charakter erworben. In seinem Karma liegt es, daß diese Anlage bei einer Wiederverkörperung herauskomme. Sie könnte das unmöglich, wenn er nicht in einem Leibe verkörpert würde, der von ganz bestimmter Beschaffenheit ist. Diese leibliche Beschaffenheit muß aber von den Vorfahren ererbt sein. Die sich verkörpernde Individualität strebt nun durch eine ihr innewohnende Anziehungskraft zu denjenigen Eltern hin, welche ihr den geeigneten Leib geben können. Das rührt davon her, daß sich diese Individualität bereits vor der Wiederverkörperung mit den Kräften der Astralwelt verbindet, die zu bestimmten physischen Verhältnissen hinstreben. So wird der Mensch in diejenige Familie hineingeboren, die ihm die seinen karmischen Anlagen entsprechenden leiblichen Verhältnisse vererben kann. Es sieht dann in dem Beispiel vom moralischen Mut so aus, als ob dieser selbst von den Eltern vererbt wäre. In Wahrheit hat der Mensch durch seine individuelle Wesenheit sich diejenige Familie aufgesucht, die ihm die Entfaltung des moralischen Mutes möglich macht. Dabei kann auch noch in Betracht kommen, daß die Individualitäten der Kinder und der Eltern in früheren Leben bereits verbunden waren und sich gerade deshalb wieder gefunden haben. [12]
[1] | GA 157a, Seite 17 | (Ausgabe 1981, 192 Seiten) |
[2] | GA 124, Seite 185 | (Ausgabe 1963, 254 Seiten) |
[3] | GA 61, Seite 39f | (Ausgabe 1962, 536 Seiten) |
[4] | GA 61, Seite 40 | (Ausgabe 1962, 536 Seiten) |
[5] | GA 35, Seite 302f | (Ausgabe 1965, 484 Seiten) |
[6] | GA 66, Seite 70 | (Ausgabe 1961, 269 Seiten) |
[7] | GA 235, Seite 89f | (Ausgabe 1984, 228 Seiten) |
[8] | GA 235, Seite 39ff | (Ausgabe 1984, 228 Seiten) |
[9] | GA 120, Seite 115f | (Ausgabe 1975, 230 Seiten) |
[10] | GA 124, Seite 183f | (Ausgabe 1963, 254 Seiten) |
[11] | GA 158, Seite 68 | (Ausgabe 1993, 234 Seiten) |
[12] | GA 34, Seite 371f | (Ausgabe 1960, 627 Seiten) |
GA 34: | Lucifer – Gnosis. Grundlegende Aufsätze zur Anthroposophie und Berichte aus den Zeitschriften «Luzifer» und «Lucifer – Gnosis» 1903 – 1908 (1903-1908) |
GA 35: | Philosophie und Anthroposophie (1904-1923) |
GA 61: | Menschengeschichte im Lichte der Geistesforschung (1911/1912) |
GA 66: | Geist und Stoff, Leben und Tod (1917) |
GA 120: | Die Offenbarungen des Karma (1910) |
GA 124: | Exkurse in das Gebiet des Markus-Evangeliums (1910/1911) |
GA 157a: | Schicksalsbildung und Leben nach dem Tode (1915) |
GA 158: | Der Zusammenhang des Menschen mit der elementarischen Welt. Kalewala – Olaf Åsteson – Das russische Volkstum – Die Welt als Ergebnis von Gleichgewichtswirkungen (1912-1914) |
GA 235: | Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Erster Band (1924) |