Vaterkräfte

Heute sollen zwei inspirierende Gedanken vor Ihre Seele treten, die in gleicher Weise wirksam sein können. Das ist das Wesentliche solcher Gedanken, solcher Fragen, daß wir sie eine Weile lang in der Seele ruhen lassen, daß wir sie zu uns sprechen lassen, ohne daß wir daran rühren. Der erste dieser inspirierenden Gedanken ist «der mutterlose Mensch» oder besser «das mutterlose Menschenwesen», das in der biblischen Urkunde als Adam bezeichnet wird. Alles, was uns entgegentritt an menschlichen Wesen, ist ohne Mutter geboren nicht denkbar. Das einzige mutterlose Menschenwesen ist Adam; nur die Vaterkräfte waren in ihm wirksam. Natürlich dürfen wir uns ihn nicht physisch-sinnlich vor die Seele stellen, denn die physischen Bedingungen von heute waren ja damals nicht auf unserem Erdenplaneten vorhanden, als Jahve den ersten Erdenmenschen in seinem Ätherleib schuf, und zwar schuf er ihn aus den Substanzen des Erdenplaneten, wie dies auch in der Bibel angedeutet ist. Diese Substanzen, diese Erdenkräfte sind noch heute in jedem Menschen vorhanden so daß man also sagen kann: Jahve ist unser aller Vater – und der Planet ist unser aller Mutter. Die Vaterkräfte wirken also noch heute in dem Menschen fort; sie sind eine erdgebundene, eine planetarische Kraft. Sie wirken in allem, was auf Erden ist, also auch im Menschen. Denn nicht nur die Kräfte der Mutter wirken nach der Empfängnis auf das Kind, auch die Vaterkräfte; sie gehen von der Erde geleitet durch den Vater auf das Kind über und bilden hier die aufbauenden Kräfte, die bis zum dreiunddreißigsten Lebensjahre in ihrer stärksten Wirksamkeit sind. Machen wir uns einmal klar: Was geht denn vor bei der Geburt eines neuen Menschenwesens? Die Mutter trägt den einen Teil in sich, aber der andere ist übersinnlich-unsichtbar und steht in Verbindung mit dem Vater. Versetzen Sie sich meditativ hinein in diesen Gedanken vom mutterlosen Menschenwesen, suchen Sie ihn rein geistig zu erfassen und stellen Sie daneben ein zweites Bild: das des vaterlosen Christus. Sind die planetarischen Kräfte, vom Vater kommend, vorwiegend (wirksam) bis zum Mysterium von Golgatha, so kommen von dieser Zeit an durch den Christus Jesus die Kräfte des Kosmos, die Mutterkräfte dazu. Wir wissen, daß dieses wichtigste aller Erdenereignisse in den vierten Kulturzeitraum der nachatlantischen Zeit fällt. Vorangegangen war die ägyptische Kulturepoche, in der in den ägyptischen Mysterien der Isis-Kult in seiner höchsten Vollendung gepflegt wurde. In der Gestalt der Isis verehrte der Ägypter die Naturkräfte, die in allen Mineralien, Pflanzen und Tieren zum Ausdruck kommen. Aber voll Trauer, voll tiefer Wehmut blickte die ägyptische Seele hin auf den Menschen und sagte sich, daß er sich dieser Naturkräfte nicht bewußt wäre; daher stellte er die Isis verschleiert dar, und es hieß, kein Sterblicher dürfe je den Schleier lüften, um zu ihr zu dringen! – Was heißt das? Nichts anderes, als daß die Göttin eben nicht im Physischen, sondern im Astralen wohnt und daß nur der sie erkennen kann, der durch die Pforte des Todes geschritten ist (oder initiiert ist), kein Lebender konnte ihren Schleier heben. Das heißt, lebend war ihnen die Wirkung der Isiskräfte versagt. [1] Und was waren nun diese Isiskräfte? Es waren die reinen Mutterkräfte, die vor dem Mysterium von Golgatha dem Menschen nur in der geistigen Welt zuteil werden konnten, also wenn er durch die Pforte des Todes geschritten war. Dem Bilde der Isis standen die Worte: «Ich bin der ich bin, der ich war, der ich sein werde», dasselbe «Ejeh asher ejeh», das einst zu Moses aus dem brennenden Busch gesprochen wurde. Nur ahnend hinschauen konnte die ägyptische Seele auf das Mysterium von Golgatha, durch das die reinen Mutterkräfte auch auf den lebenden Menschen wirksam werden sollten. Erst als der Christus Jesus, das vaterlose Menschenwesen, sich ganz mit der Erde verbunden hat, indem er durch die Pforte des Todes geschritten ist, erst von der Zeit an können die reinen Mutterkräfte – die Kräfte aus dem Kosmos – im Menschen auf der Erde wirken, Mögen unsere modernen Gelehrten lächeln, wenn sie aus ihren engbegrenzten Anschauungen heraus blicken auf den Tierdienst der Ägypter. Uns kann nur tiefe Ehrfurcht erfüllen, denn wir wissen, daß sich dahinter verbirgt die Verehrung dieser Naturkräfte, die dem Menschen verschlossen waren. Und voll tiefer Bewunderung blicken wir hin auf den hohen Weisheitsgehalt, der all diesen Mysterien zugrunde liegt. Fragen wir uns: Wie ist denn die Wirksamkeit dieser beiden Kräfte im Menschen? Die Vaterkraft, die von der Erde durch den Umweg des Vaters auf das Kind geleitet wird, wirkt aufbauend und kraftbringend bis zum dreiunddreißigsten Jahre. Wenn auch die abwärtsstrebende Kraft, die Mutterkraft, schon im Menschen wirkt, so sind doch die Vaterkräfte bis zu diesem Zeitpunkt die stärkeren. Würden den Menschen nur die abwärtsstrebenden Kräfte – die Christus-Kräfte – beherrschen, so würde er sich nicht auf der Erde verkörpern. Würden ihn dagegen nur die aufstrebenden Kräfte, die planetarischen, beherrschen, so würde er immer auf der Erde leben; es gäbe dann keinen Tod. Das, was in den ägyptischen Mysterien die Isis war, dieses heilige Kraftzentrum, stellt sich uns dar im Christentum als die Maria-Sophia des Johannes-Evangeliums. Die Vereinigung der aufsteigenden und absteigenden Kräfte, die sich vollzogen hat im Mysterium von Golgatha, hat es erst möglich gemacht, daß der Mensch jetzt (auch die Mutterkräfte) wirksam empfinden kann zwischen Geburt und Tod. Der Christus Jesus konnte nicht älter werden als dreiunddreißig Jahre. Vom Standpunkt der Okkultisten ist jeder Mensch eigentlich schon mit dreiunddreißig Jahren so weit, daß er seinen Körper als Leichnam mit sich trägt. Selbstverständlich tritt die Wirkung der Kräfte und ihre Veränderung nicht mit einem Male auf, sondern vollzieht sich allmählich. Beide, auch die Mutterkräfte, sind ja von Anfang an im Menschen; nur daß die Vaterkräfte überwiegen, nämlich die aufbauenden Erdenkräfte. In dieser Zeit der Vaterkräfte leben wir das Leben, wie es karmisch bedingt ist durch unser vorhergegangenes Leben. Von der Zeit jedoch wo die absterbenden die Mutterkräfte überwiegen, schaffen wir durch diese Geisteskraft, was wir erst im nächsten Leben ausleben werden, also das Karma des nächsten Lebens. Die Vater- oder die aufbauende Naturkraft wirkt ohne unser Zutun in uns; dagegen müssen wir selbst streben und arbeiten im Geistigen, auf daß uns bewußt werde die Wirkung der Mutterkraft. Bewußt müssen wir uns dieser hohen, hehren Kraft werden, denn sie ist die Kraft, die von Christus direkt in uns einströmt. So gibt es in jedem Menschen etwas, was nicht sichtbar ist, was ein Kräftesystem ist, das zur Erde gehört und was nicht durch das Zusammenwirken der Geschlechter oder durch die Vererbung unmittelbar gegeben wird, sondern was der göttliche Vater ihm gibt, auf dem Umwege durch den väterlichen Organismus. Vater und Mutter geben beide etwas Übersinnliches; nur ist dasjenige, was durch die Mutter kommt, an den Organismus ihres Leibes gebunden, während dasjenige, was durch den Vater kommt – auf dem Umwege durch den väterlichen Organismus – direkt aus den Kräften der Erde genommen wird. Nur dieses letztere war in Adam; er war der mutterlose Mensch. [2] Bis zu unserem dreiunddreißigsten Jahre tragen wir den Adam in uns; mit dreiunddreißig Jahren haben wir alles entwickelt, was die Erde uns mitgeben kann. Dann haben wir alles in uns, was später der Erde – oder dem Feuer – zurückgegeben wird. Was wir nach dieser Zeit noch entwickeln, das geschieht durch die Christus-Kräfte, die mit der Zunahme des Verfalls immer stärker werden. [3]

Zitate:

[1]  GA 266/2, Seite 362f   (Ausgabe 0, 0 Seiten)
[2]  GA 266/2, Seite 364ff   (Ausgabe 0, 0 Seiten)
[3]  GA 266/2, Seite 368   (Ausgabe 0, 0 Seiten)

Quellen:

GA 266/2:  Aus den Inhalten der esoterischen Stunden. Band II (1910-1912)